Beschwörend und bizarr
Von Thomas BehlertNeulich beim Plattendealer meines Vertrauens sah ich wieder einen Kunden, der dort regelmäßig schlechtes Zeug aus den frühen 1980er Jahren kauft. Ob nun alberne Serien oder Musik von längst wieder vergessenen oder nur noch Oldieabende aufhellenden Bands, alles will er haben. Doch nun griff er zum Wunderwerk »A Love Supreme« vom Tenorsaxophonisten John Coltrane und legte es andächtig auf die Theke. Ich dachte, dass bei diesem jungen Mann noch nicht alles verloren scheint und wollte sofort ein lehrreiches Gespräch über die Wiederveröffentlichungspolitik beginnen. »Nee, nee«, winkte er ab, »zu diesem Coltrane hier kann man verdammt gut ficken.«
Derart ernüchtert, ersparte ich ihm den Hinweis, dass gerade auf Edel vier historisch wichtige Orchesteralben neu erschienen sind – in Form von remasterten Langspielplatten, in 180-Gramm-Vinyl und mit informativen Booklets versehen.
Vom Pianisten Bill Evans (1929–1980), dem großen Orchesterarrangeur, Birth-of-the-Cool-Miterfinder und Kind-of-Blue-Kompagnon aus der Miles-Davis-Gesellschaft der 50er Jahre gibt es mit »Symbiosis« ein fulminantes Spätwerk von 1974. Das Bill-Evans-Trio tat sich hierfür mit den New Yorker Philharmonikern zusammen. Es wurde tatsächlich eine Symbiose aus zeitgenössischer Klassik mit glasklarem Jazz, der sich hier beschwörend und bizarr mit verschiedenen Klangeffekten an den Free Jazz herantastet.
Von Count Basie (1904–1984), dem letzten großen Orchesterchef am Piano, gibt es mit »High Voltage« von 1970 ebenfalls ein Spätwerk zu bestaunen. Basie dort schlägt einen großen Bogen von der Vor-Swing-Ära bis in die 1950er Jahre des Bebop und spielt Stücke, die vorher noch nie von einer der Bigband aufgenommen wurden – Basie hatte im Prinzip die beste Big-Band-Rhythmusgruppe der Welt. Der Trompter Dizzy Gillespie (1917–1993) meinte nur, er hätte die beste Big Band seit 20 Jahren, als er mit seiner Reunion Big Band beim Westberliner Jazzfest 1968 auftrat. Auf »20th And 30th Anniversary« hat er sechs Stücke davon verewigt, die voller kosmischer Energie sind, aber durch das grandiose Bass-Spiel von Paul West immer wieder auf den Punkt kommen.
Und dann wäre da noch das Album »Clark After Dark« des 2015 verstorbenen Trompeters Clark Terry, laut Duke Ellington »einem Mann außerhalb jeder Kategorie«. 1968 spielte er mit einem 50köpfigen Orchester, zu dem 28 Streicher gehörten, klassische Balladen ein. Eine einzige Traumlandschaft ergießt sich da über das Album – bis der Hörer am Ende von einem finsteren Statement über die verlorene Liebe auf die Erde zurückgeholt wird.
Bill Evans: »Symbiosis«, Count Basie Orchestra: »High Voltage«, Dizzy Gillespie Reunion Big Band: »20th And 30th Anniversary«, Clark Terry: »Clark After Dark« (alle MPS Music/Edel)
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