Énard kommt
Von Michael SaagerDer bekannteste Literaturpreis Frankreichs ist der Prix Goncourt. Er ist weniger umstritten als der Deutsche Buchpreis hierzulande. Eine Jury aus gleich zehn Schriftstellern vergibt ihn, der Sieger erhält offiziell zehn Euro, aber in Wirklichkeit natürlich sehr viel mehr.
Den Prix Goncourt des Jahres 2015 gewann Mathias Énard für seinen ungemein vielschichtigen Roman »Boussole« (»Kompass«) – eine Beschwörung der orientalischen Kultur aus der Perspektive eines hochbelesenen westlichen Erzählers. Enards Protagonist ist zweifellos ein schwer vergeistigter Kopf, schwer krank ist der Wiener Wissenschaftler, der sich unter anderem mit dem Einfluss der Türkei auf die europäische Musik befasst, außerdem. Nach der ärztlichen Diagnose, in einer schlaflosen Nacht beginnt eine gut 400 starke fiebrige Erinnerungsreise an vormals beforschte und besuchte Orte, darunter Palmyra, Istanbul, Damaskus, Teheran und Aleppo. Um die Liebe zu einer klugen Frau, ja, um die geht es natürlich auch.
Der 1972 geborene Énard weiß, was angesichts nicht enden wollender Bürgerkriege, dschihadistischen Terrors und verstärkter xenophober Einstellungen im Westen insbesondere gegenüber Menschen muslimischen Glaubens immer mehr verdrängt wird. Dass arabische Hochkulturen nordeuropäische Wissenschaften und Kultur erheblich geprägt haben. Und er ist ein Autor, den nicht zuletzt Schriftsteller lieben. Besonders deutlich wurde das, als 2008 sein Roman »Zone« erschienen war. Eine, man kann es nicht anders sagen, halluzinatorische Ein-Satz-Orgie über die Verbrechen des 20. Jahrhunderts, über Terror, Waffenhändler, Massaker, Kriege. Eigentlich hätte Énard bereits dafür den Prix Goncourt verdient gehabt. Jetzt kommt er auf Lesereise.
Mathias Énard: Kompass. Hanser, Berlin 2016, 432 Seiten, 25 Euro
Tour: 21.11. Essen, Deutsch-Französisches Kulturzentrum, 19 Uhr; 22.11. Osnabrück, Blue Note im Cinema Arthouse, 20 Uhr; 23.11. Münster, Stadtbücherei, 20 Uhr; 24.11. Göttingen, Literarisches Zentrum, 20 Uhr; 25.11. Bonn, Uni-Festsaal, 18 Uhr; 28.11, Berlin, Institut français Berlin, 20 Uhr
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