Gegenwart mit Kollontai
Die Dummheit des Antikommunismus scheint auch im freien Theater nicht totzukriegen, zumindest sofern seine Freiheit subventioniert ist. »Mit dem Jahrhundertbezug führt kein Weg an den Russischen Revolutionen im Jahr 1917 vorbei«, erklärt die Chefin des Berliner HAU (Hebbel am Ufer), Annemie Vanackere, zum Festival »Utopische Realitäten. 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra Kollontai«, das heute in ihrem Haus beginnt. Kollontai war in Lenins Revolutionsregierung und international die erste Ministerin und später die erste Spitzendiplomatin der Welt. Als Vorkämpferin für freie Liebe hatte sie etwa großen Anteil daran, dass unmittelbar nach der Oktoberrevolution die Eheknechtschaft der Frau aus dem Gesetzbuch gestrichen und 1920 die Abtreibung legalisiert wurde. Ein Theaterfestival zu ihrem Vermächtnis weckt schönste Erwartungen, aber HAU-Chefin Vanackere ist wie ihr belgischer Landsmann Chris Dercon nur eine supi vernetzte Eventmanagerin ohne politische Ambitionen. Und so ist der Festivalhöhepunkt ein »performativ-installativer Parcours« der russischen Theaterkritikerin Marina Davydova. Für die hat sich die Diktatur des Proletariats »als noch gefährlicher als der Zarismus« erwiesen, wie sie im Heft zum Festival unter Berufung auf Michail Bakunin beteuert. Keine Macht den Arbeitern! Der »Umsturz« nämlich, »der im Oktober des Jahres 1917 erfolgte, wurde aufgrund einer Ironie des Schicksals später als Große Oktoberrevolution bezeichnet. Das war eine Konterrevolution! Doch nicht alle begriffen das sofort.« Für jene mit besonders langer Leitung hat die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien nun Davydovas HAU-Parcours gefördert. Mit dem erklärt die Russin alles, was man über die Bolschewiki wissen muss: Ihr »Staatsterror unterschied sich von unserem (sic!) Einzelterror, wie sich die Tat des Brutus von der Bartholomäusnacht unterscheidet«. (jW)
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