Die Achtsamen
Von Wiglaf DrosteEs gibt Wörter, von denen ich Pickel kriege, wie man so sagt; die Pickel sind äußerlich unsichtbar, aber man spürt sie am Kopf innen. Drei der ärgsten jüngeren Akneerzeugungsvokabeln sind Transparenz, Entschleunigung und Nachhaltigkeit; diese rhetorische Angebertrikolore hat in kürzester Zeit eine gewaltige Inflation erlebt, deren Ausmaß allenfalls noch von einem Wort erreicht wird, das sich in vielen Mündern des Landes rasend vermehrt. Es heißt Achtsamkeit.
Was es meint, ist relativ schnell erklärt: Man achtet auf sich und sein Wohlergehen, hat beides im Auge, hütet und schützt es und verhält sich so, dass es gut um beides steht. Man handelt vorausschauend und antizipierend, was ich aber verbal unterlasse, seitdem jeder Stiesel von Sportreporter Fußballspieler »antizipieren« sieht, obwohl weder er noch sie ahnen, was das Wort bedeutet. Achtsam mit sich sein heißt, sich und andere nicht in Gefahr zu bringen, auf seine innere Stimme zu hören, nicht unbedacht zu handeln, sondern vernünftig und bedächtig.
So richtig nach Prickel-Pit klingt das alles nicht; die auf sich achtende Samkeit hat einen, nun ja, sämigen, bräsigen, abgestandenen Beigeschmack. Der etwas getreidene Geruch von aufgebrühten Achtsamkeitstees, gern auch als zweiter Aufguss gereicht, liegt in der Luft; das ist ja alles so langweilig wie in Ordnung, aber muss es dieser Schwellkörperjargon sein, diese sich selbst gefallende und lobende Sprache? Optisch ist die Achtsamkeit bei Gesundheitsschuhwerk, Brotschuh und Pluderhose angesiedelt, es kann aber auch der SUV fahrende Familienvatti die Achtsamkeit für sich geltend machen, die ihn und die Seinen im Fall eines leider unachtsam verursachten Unfalls per Fahrzeugpanzerung schützt.
In einer Welt, in der man die Lappen und Samen kennt, gibt es auch die Wachsamen und Wachlappen (nicht zu verwechseln mit Waschlappen), die Folg- und Füglappen und die Folg- und Fügsamen, die Bieglappen und Biegsamen, die Ratlappen und Ratsamen, die Gehorlappen und Gehorsamen, die Einlappen und Einsamen – und eben die Achtlappen und Achtsamen. Möge der Leinsamen mit ihnen sein, in Ewigkeit, amen.
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