Erlesene Stadtstreicher
Von Anselm LenzEs gibt diese unfassbaren Schriftstellergeschichten. Viele davon finden sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in Frankreich vornehmlich, etliche in Russland, den beiden großen Ländern des Romans. Léo Malet war mit den Surrealisten unterwegs, schrieb unter Dutzenden Pseudonymen, trat im Varieté auf, dödelte mit André Breton, Jacques Prévert und seinem Ziehvater, dem Redakteur André Colomer, in Paris herum. Malet, der ohne Eltern aufwuchs, hatte sich als Clochard durchgeschlagen, arbeitete aber auch auf Baustellen und als Bankangestellter – und einmal als Ghostwriter eines Erpressers. 1940 geriet Malet in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Einer seiner eindrücklichsten und gewitztesten Kriminalromane ist »Die Sonne scheint nicht für uns«, mit dem er das Milieu der jungen Vagabunden, Stadtstreicher und Obdachlosen im Paris der 20er Jahre zeigt. Die Sprache ist – dank der sauguten Übersetzung von Andrea Jossen – ein Feuerwerk des neckischen, anarchistischen Witzes derer, die in den Nischen der bürgerlichen Gesellschaft ein Dasein fristen müssen.
Die Reise durch diesen spezifischen Underground führt in eine »geheime, verbotene Stadt« im 13. Arrondissement, wo der 16jährige André, die Hauptfigur, im Elendsviertel Gina kennenlernt, die die Affäre mit ihrem älteren Bruder André zuliebe beendet. Malet verklärt die Schattenkinder der Verelendeten nicht; es sind keine Verlierer »von Natur aus«. Sondern Hochbegabte, für die die Sonne einfach immer wie gebraucht scheint: »Wir müssen nehmen, was von den anderen übrig bleibt. Diese Sonne hat schon anderswo gedient.«
Vom wohlstandsverwahrlosten Standpunkt neoliberal-akademischer »Awareness«-Moral aus darf mensch Malet allerdings heute nicht lesen: Antirassismus, Feminismus und Klassenbewusstsein sind bei diesem Schriftsteller keine Fragen der Sprachpolitik. Es geht um das Leben und Sterben des Subproletariats: André wird schließlich eines Verbrechens angeklagt und könnte zum jüngsten Geköpften Frankreichs werden.
Léo Malet: Die Sonne scheint nicht für uns. Edition Nautilus, Hamburg 2016, 144 Seiten, 14,90 Euro
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vom 29.07.2017