Rhythmische Prozesse: Wahre Tierrechte (55)
Von Wiglaf DrosteLia und Jochen hatten geschüttelt und gerührt zugleich zugehört; Jochen wollte auf die Tanzfläche, aber Lia ließ das nicht zu. Sie zitierte einen alten Kirmes-Boxbuden-Spruch, mit dem kräftig gebaute Amateure zu einem Schaukampf animiert wurden und den ihr Vater gern und stets selbst am meisten davon belustigt zitiert hatte: »Woll’n Se ringen, woll’n Se boxen, zieh’n Se’s Hemd aus!« Jochen ergab sich und pellte sich aus dem Hemd. Von der Arbeit im Freien hatte er die gute Maurerbräune bekommen: Unterm Hemd schimmerte alles blass und weiß, während Gesicht, Hals, Arme und Handrücken braungebrannt waren. Er hatte sich lange nicht vor einer Frau ausgezogen und fühlte sich altersungemäß schüchtern und genierlich.
Lia bemerkte das wohl und traktierte Jochen umso selbstverständlicher, wusch und desinfizierte die Wunden im Gesicht und wandte sich dann den Hämatomen zu, die sich Jochen beim Handgemenge und dem anschließenden Fall zugezogen hatte. »Ganz schön marmoriert«, sagte Lia. »Tut es sehr weh?« Jochen schüttelte den Kopf, und Lia griff zu einer kleinen Braunflasche. »Darf ich?«, fragte Jochen und streckte die Hand aus, bekam das erbetene Arzneimittel und las: »WALA Aconit Schmerzöl. Unter Anwendung rhythmischer Prozesse hergestellt.«
»Oooops.« Fragend sah er Lia an. »Rhythmische Prozesse? Ist das nicht dieser Rudolf-Steiner/Rudolf-Hauschka-Muff, ›Mein Haus hat runde Ecken‹ und was der Schwindel noch so hergibt?« Er las weiter: »… aus wässrigen Heilpflanzenauszügen … rhythmische Herstellungsverfahren … eine wesentliche Rolle spielen Wärme und Asche, Licht und Asche – kurz WALA … die Urtinkturen werden in einem eigenen rhythmisches Herstellungsverfahren …« Jochen brach ab, grinste und sagte: »Ah ja – Urintrinkkuren« und lachte dann sehr sechsjährig.
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