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Aus: Ausgabe vom 16.05.1997 / Ausland

Prozeß gegen Islamisten

Massaker an Aleviten inm türkischen Sivas wird neu verhandelt

Nach Aufnahme der Revision gegen achtundneunzig Angeklagte im sogenannten Sivas-Prozeß beschloß das Staatssicherheitsgericht in Ankara am Mittwoch, die Anklage, die siebenundreißigmal die Todesstrafe und für siebenundzwanzig Angeklagte Haftstrafen zwischen fünf und fünfzehn Jahren fordert, zuzulassen.

Als »Katastrophe von Sivas« bezeichnen vor allem Laizisten und Aleviten die Ausschreitungen vor dem Hotel Madimak im ostanatolischen Sivas. Im Juli 1993 hatte eine aufgebrachte Menge von etwa zweitausend Islamisten das Hotel belagert, in dem ein Kongreß zu Ehren des alevitischen Heiligen Pir Sultan Abdal unter Teilnahme des inzwischen verstorbenen Schriftstellers Aziz Nesin stattfand. Nesin plante damals, die »Satanischen Verse« von Salman Rushdie auf Türkisch herauszugeben, hatte sich auf dem Kongreß zum Atheismus bekannt und Toleranz für jeden Glauben gefordert. Unter »Allah-ist-groß«-Geschrei hatte die Menge damals das Gebäude in Brand gesteckt. Siebenundreißig Menschen, Intellektuelle, Dichter, Schriftsteller und Kinder, die auf dem Kongreß den alevitischen rituellen Semah aufführen sollten, erstickten damals, weil die Islamisten den Ausgang blockierten.

Das zunächst im Dezember 1994 durch das Staatssicherheitsgericht gefällte Urteil im Sivas-Prozeß hatte niemanden zufriedengestellt. Sechsundzwanzig Angeklagten waren zu fünfzehn Jahren, sechzig Angeklagte zu drei Jahren Haft verurteilt und siebenundreißig freigesprochen worden, den Schriftsteller Aziz Nesin beschuldigte man außerdem, als Provokateur die Ausschreitungen veranlaßt zu haben. Das Kassationsgericht entschied Anfang Oktober 1996 überraschend: Alle Angeklagten sollten erneut vor Gericht gestellt werden. Nachdem während der ersten Verhandlung stets versucht wurde, eine hinter den Vorfällen stehende islamistische Organisation auszuschließen, begründete nun auch das Staatssicherheitsgericht am Mittwoch die Entscheidung mit dem »Bestreben der Angeklagten, einen Aufstand im Namen der islamistischen, seriatischen Ordnung« anzuzetteln.

Von vielen wird der Sivas-Prozeß inzwischen als stellvertretend für eine juristische Abrechnung mit den islamistischen Radikalen vor dem Hintergrund der Regierungsbeteiligung der Islamisten gesehen. Die Spannungen zwischen Islamisten und Laizisten verschärfen sich nach einem Jahr islamistisch-konservativer Regierungskoalition deutlich. Seit Ende Februar ringt die Koalition um die Umsetzung oder Umgehung des vom Nationalen Sicherheitsrat - einem durch das Militär dominierten und die Staatsgeschäfte in »Sicherheitsfragen« lenkenden Gremium - antifundamentalistischen Maßnahmenpaket. Dabei geht es vor allem um die Begrenzung der religiösen Schulen und islamistischen Stiftungen, die seit Jahrzehnten durch subtile und preiswerte Jugendförderung ihre Kader immer mehr vergrößern, da viele Türken sie für eine Alternative zum maroden und überteuerten Schulsystem halten. Am vergangenen Sonntag protestierten mehrere hunderttausend auf dem historischen Sultanahmet-Platz in Istanbul gegen die Einschränkungen der islamischen Infrastruktur.

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