Warte nicht auf den Bus
Von Pierre Deason-TomoryMontag morgen um kurz nach zehn. Ich habe eingekauft und mir beim Bäcker ein Bamberger und eine Tasse Kaffee geholt. In Weimar darf man seit Tagen in Straßencafés und Biergärten sitzen. Schön. Leider bin ich seit gestern wieder in Nürnberg. Ich setze mich also mit Kaffee und Hörnchen auf die sonnige Bank an der Bushaltestelle Bestelmeyerstraße und schiebe meinen Mundschutz unters Kinn.
Gegenüber lärmen Kinder auf dem Hof der Scharrerschule. Linker Hand sieht man das letzte Haus einer großen Siedlung mit trostlosen vier- und fünfgeschossigen Altneubauten, die das Areal zwischen den Gleisen und der Bundesanstalt für Arbeit besetzen. Auf der Fassade des Hauses sehe ich ein Wandbild mit vier Personen, einer Lehrerin, einem Zimmermann und zwei spielenden Kindern. Auf dem Bild strahlt die Sonne, und die Ampel an der Kreuzung leuchtet rot. Auf Arte konnte man neulich eine Serie über die Geschichte der Arbeiterbewegung schauen. Die vierte und letzte Folge trägt den Titel »Auflösung«.
Neben mir auf der Bank sitzt ein junger Mann mit Maske im Gesicht. Er liest konzentriert in seinem Handy. Der 44er kommt angefahren. »Ihr Bus ist da«, sage ich. Er sieht mich kurz an, dann den Bus, dann antwortet er: »Ich warte hier nur.« Und liest weiter im Telefon. Der Bus fährt davon, ich nehme mein Mobiltelefon aus dem Mantel, um mir eine Notiz zu machen. Als ich den Kopf zum Schreiben senke, fällt mir die Brille herunter. Ich nutze die Gelegenheit und mache ein Foto vom Wandbild am Haus. Das geht ohne Brille leichter. Überhaupt gefallen mir die meisten Dinge viel besser, wenn ich sie nicht klar erkennen kann. Ich stecke die Brille ein und fahre damit fort, nicht fortzufahren.
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