Wagenknecht beklagt »Cancel Culture«
Berlin. Die ehemalige Fraktionskovorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, hat »Cancel Culture« und »Intoleranz« in den Reihen ihrer Partei kritisiert. Hintergrund ist der Antrag von Mitgliedern in Nordrhein-Westfalen, die Wagenknechts Ausschluss aus der Partei beantragt haben. Ihr gehe es darum, »dass wir uns bis zur Wahl so aufstellen, dass wir ein Ergebnis deutlich oberhalb der jetzigen Umfragen erreichen«, sagte die Spitzenkandidatin der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen dem Tagesspiegel am Sonntag.
Mehrere Mitglieder der Linkspartei hatten ein Parteiausschlussverfahren bei der NRW- Landesschiedskommission beantragt. Begründet wird der Antrag nach einem Spiegel-Bericht damit, dass Wagenknecht der Partei »schweren Schaden« zugefügt habe. Der Antrag beschäftige sich vor allem mit Wagenknechts neuem Buch »Die Selbstgerechten«, hieß es von seiten der Partei. (dpa/jW)
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Da reicht es eben nicht aus, in einzelnen Punkten der Parteilinie zu widersprechen. Viel eher muss eine massive Ablehnung der politischen Grundsätze vorliegen, die zudem in der Lage ist, der Partei »schweren Schaden« zuzufügen. Insbesondere bei Mandatsträgern kann man davon ausgehen, dass sich der Wähler schlussendlich darauf verlassen will, wonach sein Abgeordneter zumindest im wesentlichen die Überzeugungen der Partei vertritt – zumal ihm genau dafür in der Wahlkabine das Vertrauen ausgesprochen wurde. Insofern mag es richtig sein, dass an die Repräsentanten des Volkes die Erwartung gerichtet werden darf, parteipolitische Eckpfeiler nicht zu versetzen – wenngleich ihnen das Grundgesetz die Gewissensfreiheit einräumt.
Einfachen Mitgliedern, die nicht in der Öffentlichkeit zu stehen vermögen, wird man die Voraussetzungen für den Parteiausschluss in der Regel nicht nachweisen können. Damit bleibt gewährleistet, dass in programmatischen Einzelfragen die Überzeugungsfreiheit einen höheren Stellenwert als die Parteiräson einnimmt. Wenn es aktuell um Personen wie Sahra Wagenknecht geht, die als frühere Fraktionsvorsitzende und heutige Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl nicht zuletzt aufgrund ihrer literarischen Ausführungen im Rampenlicht steht, wird man ebenso Schwierigkeiten haben, eine stringente Argumentationskette zu bilden, die ihre Beschädigung des Ansehens der Partei Die Linke hinreichend begründet. Schließlich hat sie zwar in erheblichem Maße Abstand von der Grundsatzprogrammatik der Partei genommen.
Gleichzeitig vermag ich aber nicht zu erkennen, dass sie mit der Kritik an falschen Schwerpunktsetzungen, theoretischer Ideologisierung und innerparteilichen Profilierungsversuchen der Linken den Ruf dieser politischen Kraft in Misskredit gebracht hat. Statt dessen ist es ein erbärmliches wie verheerendes Signal für eine Partei, die sich wiederholt internen Flügelkämpfen und dem Austausch von persönlichen Befindlichkeiten ausgesetzt sieht, dass man im Umgang mit freigeistigen Mitgliedern keinen anderen Rat weiß, als am Ende deren Ausschluss anzustreben. Zweifelsohne hat diese Unterdrückung von Meinungspluralismus eine vernichtende Außenwahrnehmung zur Folge. Denn es entsteht dadurch nicht allein der öffentliche Eindruck von einer bloßen Selbstzerfleischung der Partei.
Vielmehr werden reformpolitische Ansätze, die mit einer skeptischen Reflexion der parteilichen Grundwerte einhergehen, im Keim erdrückt. Dass Wagenknecht die linke Identitätspolitik auf Herz und Nieren überprüft und ihren Genossen letztlich attestiert, dass man mit weltanschaulicher Wohlfühltaktik und in sich kreisender Selbstbeschäftigung den Kontakt zur eigenen Klientel verliert, ist aus meiner Sicht ein dankenswerter Einwand, der uns eigentlich zum Nachdenken anregen sollte – statt sich auffallend darüber zu empören, von einer erfahrenen wie klugen Vorreiterin der linken Partei mit klaren Worten aus der ideologischen Komfortzone geworfen zu werden. Immerhin scheint es deutlich angenehmer, über Gendersternchen und Frauenquoten zu philosophieren, als sich mit der Frage zu beschäftigen, wie vernünftig, praktikabel und hilfreich es ist, den Weltfrieden herbeizusehnen und Deutschlands Türen für die Welt zu öffnen.
Nicht nur Wagenknecht rüttelt angesichts der dramatischen Umfrage- und Wahlergebnisse der Partei die Linke an der Parteiseele. Und als pragmatisches Mitglied würde ich meinen Mitgenossen dazu raten, das Angebot zur Spiegelung der eigenen Standpunkte anzunehmen und das Augenmerk dorthin zu richten, wo man sich eine solidarische Stimme erhofft. Ich halte es hierbei mit dem Zitat von Sigmar Gabriel: »Wir müssen raus ins Leben; da, wo es laut ist; da, wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt.« Als sachbezogener Politiker, der selbst schon ins Kreuzfeuer der Kritik durch vereinzelte Mitglieder und Parteistrukturen geraten ist, empfehle ich uns, die Knüppel wieder einzupacken und auf der Isomatte die Friedenspfeife zu rauchen.
Das wäre ein Signal der Toleranz, das gerade in Wahlkampfzeiten die Gemüter beruhigen und die Kräfte bündeln würde. Wenngleich ich ein glühender Verfechter der Regierungsbeteiligung meiner Partei bin, kann ich ihr im jetzigen Zustand nicht zureden, Verantwortung für unser Land zu übernehmen. Zunächst muss sich manch Genosse klar werden, ob gegenseitige Verunglimpfung, von Abneigung untermalte Anschuldigungen und sich im Ton vergreifende Denunziation Stil einer Linken sein soll, die den Anschluss an das Volk zu verlieren droht.