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Aus: Ausgabe vom 29.12.2021, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Italiens Wirtschaft 2021

Supermario? Mamma mia!

Jahresrückblick 2021. Heute: Italien. Unter Draghi-Regierung wirtschaftliche Erholung. Arbeiterklasse zahlt den Preis dafür
Von Alex Favalli
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Nur in Italien: Einzig in diesem EU-Mitgliedstaat fiel der jährliche Durchschnittslohn seit 1990 (Rom, 26.4.2021)

Italien scheint auf den ersten Blick eine positive ökonomische Bilanz für das zu Ende gehende Jahr ziehen zu können. Seit Mario ­Draghi im Februar das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, gab es für das »Dauerkrisenland« einige gute Nachrichten zu verzeichnen: Die Volkswirtschaft wuchs zeitweise schneller als die deutsche, die EU-Kommission rechnet für 2022 mit einem weiteren Wachstum von ganzen fünf Prozent. Internationale Spekulanten blicken nach langer Zeit wieder mit großem Interesse auf italienische Aktien und Anleihen. Und auch die Coronaschutzimpfungsquote ist höher als die in der Bundesrepublik.

Noch dazu leben viele Italienerinnen und Italiener nach Jahren aufgeheizter parteipolitischer Debatten aufgrund der Pandemie sowie sportlicher Erfolge – Fußball- und Volleyball- Europameisterschaft, 40 Medaillen bei den Olympischen Spielen in Tokio – in einem trügerischen Gefühl der Einigkeit. Zusammengefasst: Mit dem 74jährigen »Supermario« Draghi an der Spitze hat Italien eine Pandemie einigermaßen in den Griff bekommen, seine Volkswirtschaft erheblich gestärkt, den EU-feindlichen Populismus eingefroren, eine Art Burgfrieden zwischen allen Parteien geschaffen und nicht zuletzt große sportliche Leistungen gefeiert. Auch auf europäischer Ebene blickt man wieder etwas entspannter auf das vermeintliche Sorgenland und hofft optimistisch auf einen Erhalt der Tendenzen.

Zugleich haben die Gewerkschaften Hochsaison. Ihre Kämpfe sind nunmehr jeden zweiten Tag in den Schlagzeilen der großen Blätter zu finden. Die Auseinandersetzung, in der sie sich befinden, wirft auf die flächendeckend bejubelten Errungenschaften der Regierung Draghi ein ganz anderes Licht. Draghi wird oft nachgesagt, ein wortkarger, kompetenter Technokrat zu sein, der Schritt für Schritt sämtliche Probleme Italiens angehen wolle. Dabei darf seine Vergangenheit nicht vergessen werden: Von ihm stammt das berühmte Mantra »Whatever it takes«, er prägte es als EZB-Präsident in bezug auf die Rettung des Euros. Nach wie vor scheint seine Regierung, der mit 191 Milliarden Euro mehr EU-Gelder zur Verfügung stehen als jeder anderen Regierung bisher, sich vorrangig auf eine wirtschaftliche Stabilisierung Italiens im System der internationalen Finanzmärkte zu konzentrieren. Dies mag sowohl die italienische Wirtschaft wie die Position des Landes in den internationalen Beziehungen stärken, allerdings bezahlen die Arbeiterinnen und Arbeiter einmal mehr den Preis dafür.

Paradebeispiel war die Fluggesellschaft Alitalia, die seit 2002 jedes Jahr nur Verluste erwirtschaftet hatte. Draghi setzte dem im Oktober ein Ende und gründete für 1,35 Milliarden Euro die staatliche Fluggesellschaft ITA. Diese gehört zu 100 Prozent dem italienischen Finanzministerium und gilt formal als neues – und schuldenfreies – Unternehmen. Maschinen, Uniformen und Personal wurden jedoch von Alitalia übernommen. Der entscheidende Unterschied: Anstatt der 10.500 Beschäftigten machte ITA nur mit 2.800 weiter, einem guten Viertel. Die Gewerkschaften riefen zu Protesten auf, mussten jedoch eine weitere Niederlage einstecken: Die weiterhin beschäftigten Pilotinnen und Piloten arbeiten von nun an für rund 50 Prozent des vorherigen Gehalts, das Begleitpersonal für 65 Prozent.

Italien ist der einzige EU-Mitgliedstaat, in dem der jährliche Durchschnittslohn seit 1990 um 2,9 Prozent sank. Alle anderen Länder konnten mehr oder minder ansteigende Gehälter verzeichnen. In Litauen lag der Anstieg bei über 276 Prozent, in der BRD bei 33,7 Prozent. In absoluten Zahlen liegt das Durchschnittsgehalt in Italien bei 33.400 Euro pro Jahr, in Deutschland sind es zirka 47.450 Euro.

Auch eine im Zusammenhang mit dem »Legge di Bilancio« (Haushaltsgesetz) viel diskutierte Steuerreform, von der Regierung »Solidaritätsbeitrag« genannt, stellte sich letztendlich, nachdem die komplexen Rechtsformeln entschlüsselt waren, als Camouflage der Wohlhabenden heraus. Konkret: Wer heute in Italien ein monatliches Nettoeinkommen von 4.000 Euro hat, wird vom Finanzamt in dieselbe Steuerklasse eingestuft wie jemand, der das Dreifache, also 12.000 Euro, netto verdient.

Ähnlich sieht es mit der Rentenreform aus: Junge Menschen, die heute bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 32 Prozent in den Arbeitsmarkt einsteigen, dürfen sich auf eine Rente nach dem 71. Lebensjahr einstellen. Für diejenigen, die bereits im Arbeitsmarkt integriert sind, liegt das Rentendurchschnittsalter für Männer bei 62, für Frauen bei 61 Jahren. Letztere bekommen allerdings 32 Prozent weniger ausgezahlt, was Italien bei einem OECD-Durchschnitt von 25 Prozent erneut zur Nummer eins der Gender-Pay-Gap-Liste macht.

Nicht zuletzt hat neulich die Organisation »MIL€X«, die italienische Militärausgaben beobachtet, Alarm geschlagen. Die Regierung habe im Jahr der Reformen und Pandemiedekrete einer noch nicht dagewesenen Aufrüstung eine »leise Genehmigung« erteilt. Insgesamt wolle Rom 18 Aufrüstungsprogramme, davon 13 neu dazugekommene, im Wert von mehr als elf Milliarden Euro finanzieren. Die Mitteilung warf Fragen nach Italiens außenpolitischen Intentionen auf, die angesichts der drängenden Probleme im Inneren in den Hintergrund gerückt waren.

Man muss der Regierung Draghi keine Probleme vorhalten, die lange vor Februar dieses Jahres präsent waren. Den versprochenen progressiven Umbruch hat sie erwartungsgemäß nicht eingeleitet. Man blickt auf ein Jahr zurück, in dem Italien den Weg aus dem politischen Chaos zurück zu einer gewissen Statik und Stabilität fand.

  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (29. Dezember 2021 um 10:23 Uhr)
    Zitat: »Unter Draghi-Regierung wirtschaftliche Erholung. Arbeiterklasse zahlt den Preis dafür.« Es ist aber nicht neu! Immer und überall werden die nicht selbständig arbeitenden Schichten sämtliche auf Schulden basierenden staatlichen Rechnungen zahlen müssen.

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