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Aus: Ausgabe vom 31.12.2021, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Ein Foto

Von Frank Schäfer

Hier in der Mitte sitzt meine Oma. Rechts neben der Torte mit der goldenen 70 steht ein Teller mit Nussecken. Selbst an ihrem eigenen Geburtstag musste sie die backen. Als wir sie kurz vor dem Mittagessen abholten, um zum Gasthaus zu fahren, wo die Feier stattfinden sollte, stand sie still und traurig in der Küche vor der alten Anrichte und blätterte fahrig in den Glückwunschkarten.

Was denn los sei, fragte sie mein Vater. Meine Mutter erzählte abends im Auto, dass sie erst gedacht habe, sie sei traurig wegen Opa, weil er ihren Siebzigsten nicht mehr erlebt hatte. Und vielleicht stimmt das auch. In gewisser Weise. Jedenfalls brach sie jetzt in Tränen aus, als sie zu erzählen begann.

Die Zwillinge vom Nachbarn hatten am nahen See gespielt und dort einen verschnürten Sack gefunden, der oben auf dem Wasser schwamm. Da sie kein Messer besaßen, eilten sie nach Hause. Oma stand im Garten, schnitt gerade ein paar Vergissmeinnicht für die Vase. Die beiden bemerkten ihr Küchenmesser und baten sie, den Sack aufzuschneiden.

Drinnen lagen zwei kleine Katzen.

»In ihrer Not hatten sie die Pfoten umeinander geschlungenen.« Sie drehte sich weg von uns. »Was sind das nur für Menschen, die so was fertigbringen.«

Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen, zog sich ihre hellbraune Sonntagsjacke an. Dann fuhren wir zum Essen. Es gab gespickten Rehrücken mit Preiselbeeren. Der sei so zart gewesen, dass man gar nicht groß hätte kauen müssen, sagte sie später auf der Rückfahrt.

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