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Aus: Ausgabe vom 19.04.2024, Seite 2 / Ausland
Kriminalisierung von Seenotrettern

»Ob das Schiff wieder fahren kann, ist unklar«

Italien: Urteil gegen Seenotretter der »Iuventa« erwartet. Anklage wirft Crew Kollaboration mit Kriminellen vor. Ein Gespräch mit Sascha Girke
Interview: Kristian Stemmler
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Die Crew der »Iuventa« hilft Geretteten im Mittelmeer (undatiert)

Im sizilianischen Trapani soll an diesem Freitag das Vorverfahren gegen Seenotretter der »Iuventa«, zu denen Sie gehören, nach zwei Jahren und 40 Anhörungen zu Ende gehen. Wie kam es zu dem Verfahren?

Wir waren von 2016 bis 2017 mit unserem Schiff, der »Iuventa«, im zentralen Mittelmeer aktiv und haben innerhalb von nur einem Jahr mehr als 14.000 Menschen gerettet. Im August 2017 wurde das Schiff im Hafen von Lampedusa beschlagnahmt. Uns wurde vorgeworfen, mit libyschen Schleppern kooperiert zu haben. Nach fünf Jahren Ermittlungen folgte 2021 die Anklage wegen »Beihilfe zur unerlaubten Einreise«. Im Mai 2022 begann dann das Vorverfahren gegen vier Mitglieder der Crew, zu denen ich zähle, 17 weitere Personen und drei Organisationen: »Save the Children«, »Ärzte ohne Grenzen« sowie eine Reederei.

Was wurde Ihnen konkret vorgeworfen?

Das Verfahren dreht sich um zwei Einsätze: im September 2016 und im Juni 2017. Dabei wurden insgesamt mehr als 700 Schiffbrüchige an Bord der »Iuventa« genommen. Im September 2016 wollte ein Zeuge gesehen haben, dass ein Boot von der »Iuventa« abgelegt hatte und Richtung Libyen gefahren sei – mit zwei, wie er sagte, dunkelhäutigen Menschen. Daraus hatte er geschlossen, dass wir Leute aufgenommen hatten und das Boot mit den angeblichen Schleusern zurückgefahren sei. Auf dieser und weiteren Aussagen basierte die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass viele unserer Rettungen gar keine Seenotfälle waren, sondern zuvor vereinbarte Übergaben in Kooperation mit Schleusern.

Die Vorwürfe wurden von vielen als konstruiert bewertet. Ging es womöglich darum, die auf dem Mittelmeer aktiven Seenotretter einzuschüchtern?

Das kann man ganz klar so sagen. Dafür wurde das Verfahren jedenfalls benutzt. Bei den drei Hauptbelastungszeugen handelte es sich um Securityleute respektive Expolizisten. Der eine ist ganz klar ein Faschist. Auch die anderen beiden sind Rechte, die glaubten, sie müssten etwas gegen die »illegale Migration« tun. Alle drei versprachen sich außerdem persönliche Vorteile von ihren Aussagen. Der eine Zeuge war unehrenhaft entlassen worden und hoffte, dass er wieder in den Staatsdienst übernommen wird. Eine andere Zeugin versprach sich eine Position in der rechten Lega-Partei (des stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini, jW).

Kürzlich gab es einen überraschenden Schwenk der Staatsanwaltschaft, die eine Einstellung beantragte. Wie kam es zu dieser Wende?

Da kann man nur spekulieren. Wir glauben, auch der Staatsanwaltschaft ist klargeworden, dass die Aussagen der Zeugen haltlos sind. Sie konnten sich an vieles nicht mehr erinnern, haben sich gegenseitig in die Pfanne gehauen, widersprüchliche Aussagen getätigt.

Wie geht es mit der »Iuventa« weiter, falls es zur Einstellung kommt?

Sie müssen uns das Schiff zurückgeben, wenn wir freigesprochen werden. Völlig unklar ist aber, ob die »Iuventa« noch mal rausfahren kann. Sie wurde seit der Beschlagnahme sich selbst überlassen, geplündert und zerstört. Sie drohte im Hafen von Trapani zu sinken. Ein Gericht hatte zwar bereits festgestellt, dass sie in dem Zustand an uns zurückgegeben werden muss, in dem sie war, als sie beschlagnahmt wurde. Aber die Instandsetzung würde richtig viel Geld kosten.

Sie und Ihre Mitstreiter wollen jedenfalls weitermachen.

Auf jeden Fall, solange Schutzsuchenden sichere und legale Einreisemöglichkeiten verwehrt werden. Und wir kämpfen weiter gegen die Rechtsvorschriften, die auf dem »facilitators package« der EU basieren und die Fluchthilfe kriminalisieren. Aufgrund dieser Paragraphen sitzen in Italien und Griechenland mehrere tausend Menschen wegen »Beihilfe zur illegalen Einreise« im Knast. Sie sind hauptsächlich selbst Migrierende, die ein Boot oder ein Auto gesteuert haben, um sich und andere über die Grenze zu bringen. Die Seenotrettung steht hin und wieder im Rampenlicht. Wir waren keinen Tag im Gefängnis, aber diese Menschen verschwinden oft jahrelang hinter Gittern – ohne Unterstützung und ohne eine Lobby.

Sascha Girke steht als Seenotretter der »Iuventa«-Crew in Italien vor Gericht

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