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Aus: Ausgabe vom 25.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Krieg in Osteuropa

Kommt Russland, und wo?

Ukraine: Mit wachsender Nervosität wird spekuliert, an welchem Frontabschnitt eine gegnerische Großoffensive stattfinden könnte
Von Reinhard Lauterbach
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Warten auf den Angriff: Ukrainischer Soldat mit Artilleriegranaten in der Region Donezk (20.4.2024)

Die Frontlinie im Ukraine-Krieg ist im Moment etwa 1.000 Kilometer lang, und die Ukraine hat offenkundig Mühe, sie in ihrer Gesamtheit zu halten. Das Problem sind dabei nicht nur die Defizite bei der Ausrüstung der Ukraine mit schweren Waffen und Munition. Es ist vor allem der Mangel an Soldaten. Über die Schwere der ukrainischen Verluste berichtete bei der Anhörung über das neue verschärfte Mobilisierungsgesetz vor kurzem der ukrainische General Jurij Sodol im Parlamentsplenum. Da war die Rede von Kompanien, die bei einer Sollstärke von 80 Mann normalerweise einen Frontabschnitt von einem Kilometer sichern sollten – aber wie sollten sie das tun, fragte Sodol, wenn von den 80 Mann nur noch 20 am Leben sind? In einem anderen Fall sei von den drei Soldaten, die eine bestimmte Position westlich von Bachmut zu verteidigen hatten, »keiner geflohen«, aber auch keiner am Leben geblieben. Solche Beispiele gibt es viele.

Die Ukraine und auch westliche Experten rechnen damit, dass Russland irgendwann im späteren Frühjahr oder frühen Sommer seine Truppen soweit verstärkt haben könnte, dass es an irgendeinem Frontabschnitt zur befürchteten Sommeroffensive antreten könnte. Die Soldaten dazu hätte es vermutlich: Nach amtlichen russischen Angaben melden sich Monat für Monat etwa 30.000 neue Soldaten freiwillig. Die Gesamtstärke der russischen Kräfte in der Ukraine wurde vor kurzem von US-Seite auf etwa 470.000 geschätzt, das ist ungefähr die Hälfte mehr, als die Ukraine aufbieten kann.

Nur: Wo wird der russische Schlag kommen, mit dem alle rechnen? Am wenigsten wahrscheinlich scheint ein erneuter Vorstoß aus Nordosten auf Kiew durch die Gebiete Sumi und Tschernigiw. Auf dieser Route hatte Russland den Vorstoß 2022 schon einmal versucht, war aber unter anderem an dem unübersichtlichen Gelände gescheitert, das die Operationsmöglichkeiten gepanzerter Kräfte wegen der dort vorhandenen Sümpfe und Wälder einschränkt.

Nächste Option wäre ein hypothetischer Versuch, die Millionenstadt Charkiw zu erobern. Für eine solche Option spräche nach Ansicht von Militärs das offenere Gelände, dagegen allerdings die Schwierigkeit, im direkten Angriff eine dichtbebaute Großstadt zu attackieren. Auch das hatten russische Verbände in der Anfangsphase des Krieges schon einmal versucht, waren damit aber gescheitert. Alternativ könnte Russland nach Ansicht der Kiewer Strategen einen großangelegten Umfassungsangriff starten, um Charkiw einzuschließen und die ukrainischen Truppen angesichts der Gefahr eines Kessels zu zwingen, die zweitgrößte Stadt des Landes von sich aus zu räumen. Aus dieser Perspektive könnten die verstärkten russischen Angriffe gegen die Infrastruktur von Charkiw und Umgebung – Kraftwerke, zuletzt auch den Fernsehturm – dem Ziel dienen, die Stadt für die Zivilbevölkerung unbewohnbar zu machen und sie zur rechtzeitigen Flucht ins Innere der Ukraine zu veranlassen. Gegenüber einer nur noch von gegnerischen Truppen bevölkerten Stadt könnten Hemmungen wegen der Nebenwirkungen der reichlich vorhandenen und in der Ukraine gefürchteten Gleitbomben auf zivile Bewohner wegfallen.

Eine Eroberung von Charkiw ließe sich auf russischer Seite als Realisierung eines wesentlichen Kriegsziels darstellen, zumal die Stadt in der russischen Sprachregelung ohnehin als eigentlich russisch gilt. Ihre Einnahme würde sicherlich das industrielle Potential der Ukraine erheblich schwächen, Russland aber seinem strategischen Ziel, die westliche Bedrohung seiner Grenze zumindest abzudrängen, nicht viel näherbringen – Charkiw liegt nur 30 Kilometer von der ukrainisch-russischen Grenze entfernt.

Als wahrscheinlichstes Angriffsgebiet sieht die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Kommentatoren dagegen das Donbass. Hier finden die aktuellen Kämpfe statt, die im Hinblick auf einen künftigen Großangriff trotz der eingeschränkten Geländegewinne als Zermürbung der vorhandenen ukrainischen Befestigungen verstanden werden könnten. Eine Offensive im Donbass ließe sich politisch als »Befreiung« der Bezirke Donezk und Lugansk in ihren historischen Verwaltungsgrenzen und damit als ein vergleichsweise begrenztes Kriegsziel darstellen. Strategisch würde Russland aber auch dadurch nicht viel gewinnen.

Anders wäre dies bei einem eventuellen Versuch, im Bezirk Saporischschja einen Vorstoß nach Norden in Richtung der gleichnamigen Großstadt und auf das Industriegebiet Saporischschja-Dnipro zu unternehmen. Hier würde Russland im Erfolgsfall die Chance winken, den relativ schmalen Gebietsstreifen zu erweitern, den es 2022 erobert und 2023 mit Erfolg verteidigt hat, und außerdem die gesamten ukrainischen Truppen im Donbass mit der Einschließung zu bedrohen. Aber an diesem Abschnitt stehen den russischen Kräften tendenziell die eigenen tiefgestaffelten Minenfelder der sogenannten Surowikin-Linie im Weg. Sie für den Angriff wieder zu räumen, würde den Streifen entlang der Küste aber für den Fall eines Misserfolgs wieder verwundbar für einen ukrainischen Gegenstoß machen. Es wäre also ein Spiel mit hohem Risiko.

Das strategisch sicherlich begehrlichste Ziel einer russischen Offensive scheint gegenwärtig allerdings völlig außer Reichweite: der Rest der Schwarzmeerküste westlich des Dnipro bis nach Odessa. Hierzu fehlen Russland die Möglichkeiten, Übergänge über den Fluss zu sichern. Und eine amphibische Landung im Raum Odessa scheint nach den schweren Verlusten der russischen Schwarzmeerflotte gerade an Landungsschiffen ausgeschlossen.

Hintergrund: Raketen und Granaten

Das US-»Hilfspaket« für die Ukrai­ne ist zunächst einmal eine Mogelpackung. Der stoffliche Gegenwert von drei Vierteln der 61 Milliarden Dollar, die es auf dem Papier umfasst, bleibt in den USA und füllt die seit Kriegsbeginn leergeräumten US-Arsenale wieder auf. Echter »Nachschub« sind 14 Milliarden Dollar, für die Washington bei Rüstungsherstellern im eigenen Land neue Waffen für die Ukraine bestellen will. Da damit abzüglich von acht Milliarden »Haushaltshilfe« und elf Milliarden für »US-Sicherheitsoperationen in Europa« 42 Milliarden netto in Rüstungsaufträge fließen, ist das Programm in erster Linie eine großangelegte Geldspritze für den militärisch-industriellen Komplex der USA. Damit haben auch die Vertreter der Republikaner, die letztlich für Joseph Bidens »Hilfspaket« gestimmt haben, ihr Einverständnis begründet: Es sichere »amerikanische Jobs« – und en passant ihnen selbst Spenden für den Wahlkampf.

Was die Ukraine dann tatsächlich bekommt, lassen die USA bewusst im unklaren. CNN berichtete unter Berufung auf anonyme Militärs, ein Großteil des Materials könne relativ schnell geliefert werden, weil die Biden-Regierung es im Vorgriff auf die Verabschiedung des Pakets bereits in Polen und Deutschland eingelagert habe. Diese Waffen dürften also zu denen hinzukommen, die für 14 Milliarden frisch geordert werden sollen.

Eine zentrale Rolle bei den neuen Lieferungen dürften »taktische Langstreckenartilleriesysteme« (ATACMS) spielen. Das sind Raketen, die die USA der Ukraine bereits in der Vergangenheit geliefert haben, um Ziele im tiefen Hinterland der Front angreifen zu können, bisher in der »kleinen Version« mit einer Reichweite von 165 Kilometern. Kiew verlangt aber jetzt, die mit 300 Kilometern reichweitenstärkere Variante zu erhalten. Ob sich die USA darauf einlassen, wird sich zeigen. Zumindest offiziell wollen sie den Anschein vermeiden, direkt Teil der Konfrontation mit Russland zu sein. (rl)

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  • Leserbrief von Lis Kerner aus Berlin (25. April 2024 um 11:51 Uhr)
    Die faschistischen Ukraine hat mit ihrer »ATO« mehr als 10 Jahre Kriegsverbrechen im antifaschistischen Donbass verübt … und der ach so demokratische Westen schwieg dazu! Jetzt ist plötzlich Russland, das dem Donbass auf dessen Bitte zu Hilfe kam, der Kriegsverbrecher. Und nie (!) hat sich die »demokratische« Welt über die Kriegsverbrechen der USA empört! Und nun rätseln der koksende Kriegsverbrecher Selenskij und seine Sponsoren, wo und wann die russische Offensive beginnt und der böse Putin verrät es ihnen nicht.
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (25. April 2024 um 07:43 Uhr)
    Zitat: »Aus dieser Perspektive könnten die verstärkten russischen Angriffe gegen die Infrastruktur von Charkiw und Umgebung – Kraftwerke, zuletzt auch den Fernsehturm – dem Ziel dienen, die Stadt für die Zivilbevölkerung unbewohnbar zu machen und sie zur rechtzeitigen Flucht ins Innere der Ukraine zu veranlassen.« – Was hier der Autor so neutral und emotionslos spekuliert, wird das nicht eigentlich unter dem Begriff »Kriegsverbrechen« zusammengefasst? Im Artikel fand ich mehrere derartige Passagen. Leider hat sich die Welt in den über zwei Jahren des Krieges daran gewöhnt. Das Wort »Kriegsverbrechen« wird bei den täglichen Meldungen über die Zerstörung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine kaum noch erwähnt!
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (24. April 2024 um 22:08 Uhr)
    »Kommt Russland« – Moskau wird der Ukraine diesen erwarteten Gefallen nicht erweisen. Zu Beginn des Konflikts versuchte Russland voranzukommen, doch sein Vorhaben blieb stecken. Der Kreml verfolgt klare Ziele und wird sich entsprechend verhalten, um sie am besten zu erreichen. Er hat Zeit! Im Gegensatz dazu haben weder die Ukraine noch der Wertewesten realistische Ziele formuliert, und ihre Zeit läuft davon! Das jüngste Hilfspaket der USA und Großbritanniens zielt darauf ab, die Ukraine bis zu den US-Wahlen maximal zu unterstützen. Obwohl die Ukraine mit neuen Waffen vorübergehend weiterhin Widerstand gegen die Russen leisten kann, ist dies nur von begrenztem Effekt. Die militärische Lage an der Front wird dadurch nicht wesentlich verändert. Russland wird zunächst die Entwicklungen nach dem Ende von Selenskys Amtszeit im Mai abwarten. Danach wird das bereits erkämpfte Kiewer Parlament die Regierungsgeschäfte übernehmen, wobei Selenskys Partei, die »Diener des Volkes«, bereits dort in der Minderheit ist. Natürlich strebt Russland danach, die US-Wahlen durch den Verlauf des Konflikts zu beeinflussen, und höchstwahrscheinlich wird es ihm auch gelingen. Doch bis November vergeht noch ein halbes Jahr, und der Kreml wird sorgfältig darauf achten, wie er am besten vorgehen kann, um seine Ziele zu erreichen.

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