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Aus: Ausgabe vom 27.04.2024, Seite 12 / Thema
Südafrika

Verraten und gekauft

30 Jahre nach dem Ende der Apartheid fällt Südafrikas Bilanz ernüchternd aus. Trotz politischer Befreiung blieben die Besitzverhältnisse unangetastet
Von Christian Selz
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Arbeiterrechte werden in Südafrika auch unter der Herrschaft des ANC mit Füßen getreten. Streikende Arbeiter der Marikana-Mine fordern höhere Löhne. Kurz darauf kam es zum Massaker (16.8.2012)

Die Menschenschlangen vor den Wahllokalen waren schier endlos, die Bilder gingen um die Welt. Als am 27. April 1994 – nach dreieinhalb Jahrhunderten kolonialer Unterdrückung und Apartheid – erstmals alle Südafrikaner, Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, demokratisch und gleichberechtigt darüber abstimmen durften, wer sie künftig regieren sollte, schien der Moment der Befreiung gekommen. Der African National Congress (ANC), die führende Anti-Apartheid-Bewegung, erreichte die absolute Mehrheit. Keine zwei Wochen später wurde mit Nelson Mandela ein Mann als Präsident vereidigt, der für seine Ideale 27 Jahre lang in den Kerkern des weltweit geächteten Rassistenregimes gesessen hatte. Die beiden Parteien, denen er angehörte – Mandela trug neben jenem des ANC auch ein Parteibuch der South African Communist Party –, hatten noch im Befreiungskampf ein gemeinsames Bündnis mit dem Gewerkschaftsbund COSATU geschmiedet. Mandela galt in den USA staatsoffiziell als Terrorist (bis 2013!) und flog zu seinem ersten Auslandsbesuch nach Havanna. Das erste Regierungsprogramm stand unter dem Motto »Wiederaufbau und Entwicklung«, Grundrechte wie der Zugang zu Wohnraum, Wasser und Strom wurden in der Verfassung verankert. Wo einst selbst Parkbänke Weißen vorbehalten waren, entstand ein Sozial­staat mit kostenloser Krankenversicherung für alle Bedürftigen. Südafrika verkörperte die Hoffnung auf eine gerechtere Welt. Doch 30 Jahre später trennen Elektrozäune die Golfplätze der – noch immer überwiegend weißen – Oberschicht von den dichtgedrängten Hüttensiedlungen der – weit überwiegend schwarzen – Verdammten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei weit über 50 Prozent. Wie konnte es dazu kommen?

Zwei statt 5.000 Wohneinheiten

Beginnen wir unsere Spurensuche in einem Städtchen, dessen Name synonym für die größte Tragödie Post-Apartheid-Südafrikas steht: Marikana. Bekannt ist die 20.000-Einwohner-Ortschaft in der Provinz North West nahezu ausschließlich durch die gleichnamige Platinmine. Im August 2012 kam es dort zu einem Streik, der sich nicht nur gegen den Betreiber des Bergwerks, den damals an der Londoner Börse notierten Konzern Lonmin, sondern auch gegen die regierungsnahe Bergarbeitergewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) richtete. Die NUM hatte Löhne ausgehandelt, die von den niedrigsten Gehaltsgruppen nicht mehr akzeptiert wurden. Vor allem die Hauer traten in den Ausstand. Wütend waren die Kumpel nicht nur aufgrund der Hungerlöhne, sondern auch aufgrund immer wieder gebrochener Versprechen, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Denn die Vergabe der Bergbaulizenz an Lonmin hatte der südafrikanische Staat an einen Sozialplan geknüpft, der das Unternehmen unter anderem verpflichtete, Wohnungen für seine Beschäftigten zu bauen. Statt der angekündigten 5.000 Wohneinheiten baute Lonmin aber nur ganze zwei Häuschen, die der Konzern in Hochglanzbroschüren als Beleg seiner sozialen Verantwortung anpries. Das genügte, um die lokalen Kontrollbehörden ruhigzustellen – und den mit Abstand größten Einkäufer des geförderten Platins ebenso: den deutschen Chemieriesen BASF, nach eigener Darstellung stets Vorreiter in Sachen Lieferkettenverantwortung.

Die NUM, die seit dem Ende der Apartheid zwar einige Verbesserungen hatte erreichen können, inzwischen aber mehr als Sozialpartner des Konzerns denn als kämpferische Gewerkschaft agierte, stellte sich gegen den Streik. Die Kumpel waren deshalb von fristlosen Kündigungen bedroht. Als sie daraufhin zum lokalen Gewerkschaftsbüro zogen, griffen die Wachleute der NUM-Funktionäre zu ihren Waffen. Schüsse fielen, zwei Männer blieben leblos liegen, die Spirale der Gewalt war in Gang gesetzt. Die Arbeit kam weitgehend zum Erliegen. In diesem Moment trat ein Mann auf den Plan, der die NUM in den 1980er Jahren einmal geführt hatte, später als potentieller Kronprinz Mandelas maßgeblich an den Verhandlungen zum Übergang zu Demokratie beteiligt war und auch die neue Verfassung wesentlich mitgestaltet hatte: Cyril ­Ramaphosa.

Der ANC-Politiker hatte Mitte der 1990er Jahre den parteiinternen Machtkampf gegen Mandelas Stellvertreter und späteren Nachfolger Thabo Mbeki verloren und sich fortan auf seinen eigenen wirtschaftlichen Aufstieg konzentriert. Ramaphosa nutzte dabei eine Regelung, die Unternehmen durch steuerliche Anreize dazu bewegte, Geschäftsanteile an schwarze Menschen zu veräußern. Der Name dieses Programms lautete Black Economic ­Empowerment (BEE). Sinn und Zweck war die Schaffung einer schwarzen Kapitalistenklasse. ­Rekrutiert wurden die Neuunternehmer in aller Regel aus dem Umfeld der Regierungspartei. Das hatte den Vorteil, dass sich ihr politischer Einsatz nun auch materiell bezahlt machte. Den Konzernen ermöglichte BEE zu behaupten, sie arbeiteten an einer angeblichen »Transformation« der südafrikanischen Gesellschaft weg von rassistischer Ausgrenzung, hin zu gleichberechtigter Teilhabe von Menschen aller Hautfarben, während sie zugleich die politische Klasse kooptierten. Aus Kapitalsicht war der Schachzug genial: Während im Freudentaumel der politischen Befreiung sozialer Wandel suggeriert wurde, erkauften sich die Konzerne damit im Grunde das komplette Gegenteil. Denn die politisch gut vernetzten neuen Geschäftspartner lieferten aus purem Eigeninteresse – sie mussten die von ihnen erworbenen Unternehmensbeteiligungen in der Regel über Dividenden nachträglich abstottern – die Garantie, dass nicht nur die alten Besitzverhältnisse im wesentlichen erhalten blieben, sondern auch die Rahmenbedingungen nach den Bedürfnissen des Kapitals gestaltet wurden. »Bei BEE ging es um den Verkauf der Seele des ANC«, sagte der Gewerkschafter Tony Ehrenreich Jahre später einmal bei einer Podiumsdiskussion in Kapstadt. Und mit der Seele verschwand auch die Moral.

Massaker bestellt

Damit zurück zu Cyril Ramaphosa. Bis zum Jahr 2012 hatte der einstige politische Hoffnungsträger eine opulente Liste an Firmenbeteiligungen zusammengetragen, die von Papierproduzenten über Telekommunikationsfirmen und Banken bis zu Coca Cola und McDonalds reichte. Auch seine Expertise im Bergbau nutzte der Geschäftsmann nun für die Unternehmerseite: Ramaphosa saß im Aufsichtsrat von Lonmin, dem bestreikten Minenkonzern in Marikana, und sollte dort eigentlich die Umsetzung der Sozialprogramme überwachen, also auch den nie erfolgten Wohnungsbau. Nach knapp einer Woche Streik und etlichen gewalttätigen Auseinandersetzungen – inzwischen waren sechs Bergleute, zwei Wachmänner und zwei Polizisten getötet worden – wurde Ramaphosa aktiv. Doch er ging nicht etwa auf die Forderung der Streikenden nach direkten Gesprächen mit der Konzernführung ein, sondern er schrieb eine E-Mail an die Polizeiführung, in der er ein entschiedenes Eingreifen verlangte. Tags darauf zogen Einsatzkräfte Stacheldraht um die streikenden Bergarbeiter, die sich auf einem felsigen Hügel am Rande der Hüttensiedlung Wonderkop versammelt hatten. Lediglich eine kleine Schneise blieb frei. Als die Kumpel dort hindurch abziehen wollten, eröffneten die Polizisten aus halbautomatischen Gewehren das Feuer. Selbst als die Arbeiter zurück zwischen die Felsen flohen, setzte die Polizei zu Fuß und per Hubschrauber nach. Immer wieder fielen Schüsse. 34 Kumpel starben bei dem Massaker, die meisten wurden in den Rücken getroffen. 78 weitere wurden teils schwer verletzt.

Ramaphosa erklärte später, seine Wortwahl sei unglücklich gewesen, er habe eine Eskalation vermeiden wollen. Keine vier Monate nach dem Massaker von Marikana feierte er auf dem Wahlparteitag des ANC seinen Wiedereintritt in die aktive Politik, die Delegierten bestimmten ihn zum Vizepräsidenten der einstigen Befreiungsbewegung. Der weitere Weg war vorgezeichnet, Ramaphosa wurde auf Geheiß seiner Partei zunächst Stellvertreter des damaligen Staatschefs Jacob Zuma. Nach dessen erzwungenem Rücktritt aufgrund von Korruptionsvorwürfen stieg Ramaphosa Anfang 2018 zum Präsidenten auf. Derzeit kandidiert er für eine zweite Amtszeit, gewählt wird am 29. Mai.

In den Bergarbeitersiedlungen um Marikana ist der Staatschef bis heute eine Persona non grata, was auch daran liegt, dass sich dort seit dem Massaker wenig verändert hat. Zwar zahlte der Staat einigen Hinterbliebenen Entschädigungen, doch keiner der Verantwortlichen in Polizei und Politik wurde je belangt. Auch einen Gedenkort gibt es nicht. Kein Mahnmal, nicht einmal ein Schild oder eine Plakette erinnert in Wonderkop an die Opfer. Über die Brachfläche vor den Klippen, wo damals der Kugelhagel begann, führt die Hochspannungsleitung, die die Schmelze mit Strom versorgt. Die Hütten der Arbeiter, keine hundert Meter weiter, sind noch immer nicht ans Netz angeschlossen. In der Buschlandschaft grasen Kühe, die fast nur noch Haut und Knochen sind, zwischen den Kadavern ihrer Artgenossen. Gemeindeaktivisten fordern seit Jahren, dass die Minenbetreiber – Lonmin wurde inzwischen von Sibanye-Stillwater übernommen – sie besser vor den Schadstoffen aus den Abraumhalden schützen sollen, die die Umgebung deutlich sichtbar unter einen Schleier giftigen Staubs legen und zugleich die Flüsse vergiften. Zudem stoße die Schmelze immer wieder Schwefeldioxidwolken aus, die bei Anwohnern zu Verätzungen der Lunge führten, erzählt ein Aktivist bei einem Besuch Ende 2023. Um Druck zu machen, wollen die Aktiven bald eigene Messungen durchführen, denn das staatliche Messungsnetzwerk, das Emissionsverstöße kontrollieren sollte, ist – so berichten auch mit der Problematik befasste Wissenschaftler – in einem miserablen Zustand.

Am Beispiel Marikana lassen sich einige Geburtsfehler des demokratischen Südafrika erklären. Das Einkaufen der politischen Elite mittels BEE hat zu einer neoliberalen Politik geführt, die einer sozialen Transformation bis heute im Weg steht. Die Verbesserungen für die Beschäftigten gehen kaum über ein Mindestmaß an Menschenwürde hinaus. Die Sammelbaracken der Minenarbeiter sind zu Familienwohnungen umgebaut worden, doch weil die nicht für alle reichen, müssen viele Kumpel in Wellblechhütten leben.

Das Problem ist symptomatisch für Südafrikas Entwicklung. Die »Nationale Demokratische Revolution«, die der ANC seinem Programm nach noch immer vorantreiben möchte, hat in nunmehr 30 Jahren nicht zu sozialem Ausgleich geführt. Die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt enorm groß. Nach den Daten der Weltbank hat Süd­afrika von allen Ländern weltweit die höchste Ungleichverteilung von Vermögen. Auch der strukturelle Rassismus konnte kaum zurückgedrängt werden: Nach Zahlen der staatlichen südafrikanischen Statistikstelle StatsSA liegt der Durchschnittsverdienst weißer Südafrikaner etwa 3,5mal so hoch wie der schwarzer Südafrikaner. Zudem sind schwarze Menschen in Südafrika wesentlich öfter von Arbeitslosigkeit betroffen. Da Südafrikas Schulen gebührenpflichtig sind – nur in den ärmsten Vierteln wird das Schulgeld erlassen, was aufgrund von mangelnden Budgets aber zu einer deutlich schlechteren Ausstattung und Lehrqualität führt – reproduziert sich die Benachteiligung schwarzer Menschen auch in den Folge­generationen.

Gefangen im Neoliberalismus

Der südafrikanische Staat scheint – trotz zwischenzeitlicher Einführung etwa von Stipendien für Studierende aus armen Haushalten – nicht in der Lage, diesen Teufelskreis wirksam zu durchbrechen. Zwei Gründe sind hier entscheidend. Der erste: Die ANC-geführte Regierung, seit 1994 kontinuierlich beraten von der Weltbank und bei dieser hochverschuldet, ist gefangen in neoliberaler Logik. Die führte nicht nur dazu, dass stärkere soziale Interventionen, die aus der Partei eigentlich gefordert werden, stets hinter eine strikte Kürzungspolitik zurückfallen. Schlimmer noch: Der von seinen Gegnern oft als »sozialistisch« gebrandmarkte ANC hat die vom alten Regime übernommenen Staatsunternehmen zunächst in Konzerne überführt und dann nach und nach ihrer Kernkapazitäten beraubt, indem aufgrund von Budgetkürzungen eigenes Personal entlassen und durch eingekaufte Dienstleistungen ersetzt wurde. Diese Praxis führte zum zweiten Problem: systematische Korruption. Insbesondere in der Zuma-Ära von 2009 bis 2018 wurden Südafrikas Staatsunternehmen förmlich geplündert. Das Einfallstor war die Schnittstelle zwischen öffentlicher Hand und Privatwirtschaft. Das Schema: Von der Politik gedeckte Einkäufer in Staatsbetrieben gründeten über Strohmänner Scheinfirmen, bei denen sie dann vollkommen überteuerte Waren und Dienstleistungen einkauften. Auch internationale Konzerne verdienten daran prächtig mit. Das Ausmaß der Korruption wurde schließlich in einer großangelegten richterlichen Untersuchung offengelegt, die Ursachen sind aber bis heute nicht behoben.

Dasselbe gilt für die Folgen. Der staatliche Stromversorger Eskom, auf dem ein umgerechnet 20 Milliarden Euro hoher Schuldenberg lastet, ist seit Jahren nicht mehr in der Lage, den Elektrizitätsbedarf im Land zu decken. Mangelnde Wartung von Kraftwerken führt zu außerplanmäßigen Ausfällen, weshalb es immer wieder zu Stromabschaltungen kommt. Das führt einerseits zu Kostensteigerungen, beispielsweise bei Lebensmitteln, weil Produzenten ihren Strom teuer mit Diesel­generatoren selbst erzeugen müssen, und andererseits zu einem Stagnieren der Wirtschaftsleistung. Seit 2019 rutscht Südafrika immer wieder quartalsweise in die Rezession, im Gesamtjahr 2023 lag das Wirtschaftswachstum bei 0,6 Prozent. Die seit Jahren enorm hohe Arbeitslosigkeit ist zum Ende des vergangenen Jahres auf 44,3 Prozent gestiegen. Die Stromkrise führt also dazu, dass einerseits Lebenshaltungskosten steigen, zugleich aber Haushaltseinkommen aufgrund von Jobverlust sinken. Der Staat versuchte zumindest etwas gegenzusteuern, indem er das während des Lockdowns in der Coronapandemie eingeführte Sozialgeld für Menschen ohne Einkommen auch nach dem Ende der Pandemiemaßnahmen beibehielt. Zum April dieses Jahres wurde der Betrag sogar leicht angehoben, mit nun 370 Rand (18,50 Euro) statt 350 Rand (17,50 Euro) monatlich reicht die Leistung aber kaum für ein trockenes Weißbrot pro Tag.

In einem ohnehin durch jahrhundertelange gewaltsame Unterdrückung geprägten Land mit einer entsprechend traumatisierten Bevölkerung führt diese Ansammlung von Benachteiligungen der armen, schwarzen Bevölkerung zu einer hohen Kriminalitätsrate, insbesondere auch zu gesteigerter Gewaltkriminalität. Im Juli 2021 kam es infolge der kurzzeitigen Inhaftierung von Expräsident Zuma – er hatte sich trotz Gerichtsanweisung geweigert, vor der Untersuchungskommission zu Korruptionsfällen während seiner Amtszeit auszusagen – gar tagelang zu weitreichenden Plünderungen in den beiden bevölkerungsreichsten Provinzen KwaZulu-Natal und Gauteng. Offiziellen Angaben zufolge starben dabei 354 Menschen, obwohl die Polizei fast überhaupt nicht eingriff. Viele der Opfer wurden im Streit um gestohlene Güter oder in brennenden Geschäften getötet, etliche auch durch bewaffnete Bürgerwehren. Erst als Ramaphosa die Armee zur Aufstandsbekämpfung abkommandierte, endete die Revolte. Der Aufstand wurde mutmaßlich aus dem Zuma-Lager heraus angestachelt, entwickelte dann aber ein unkontrollierbares Eigenleben. Polizei und Geheimdienste – vermutlich noch von Getreuen des Exstaatschef durchsetzt – waren weder in der Lage oder Willens, das Treiben zu verhindern, noch die Hintermänner zu ermitteln.

Innenpolitisch bleibt Südafrikas Lage also prekär. Außenpolitisch hat die Regierung zuletzt allerdings deutlich Haltung gezeigt. Insbesondere die von Südafrika angestrengte Völkermordklage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof sorgte weltweit für Aufsehen und in großen Teilen der internationalen Gemeinschaft für Respekt und Anerkennung. Auch im Ukraine-Krieg hatte Süd­afrikas Präsident Ramaphosa als Kopf einer Gruppe mehrerer afrikanischer Staatschefs einen Vermittlungsversuch unternommen und war sowohl nach Kiew als auch nach Moskau gereist. Die Regierung zeigt so Stärke, die zum Großteil auf ihrer Rolle als Mitglied der Staatengruppe ­BRICS beruht, der neben Südafrika seit Beginn dieses Jahres nicht mehr nur Brasilien, Russland, Indien und China, sondern jetzt auch noch Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate angehören.

Ungelöste Fragen

Diese Partner schaffen auch in der Handelspolitik Alternativen zur Dominanz westlicher Staaten. Für die südafrikanische Regierung wird es allerdings nicht nur darauf ankommen, neue Investoren für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu finden, sondern zugleich die sozialen Ungerechtigkeiten im Land zu lindern. Dazu gehören auch die Lösung der Landfrage und der soziale Wohnungsbau, beides Themen, die der ANC nach 1994 mit hoher Priorität behandelt hatte, die aber längst nicht erledigt sind. Noch immer befindet sich der Großteil des fruchtbaren Lands für Ackerbau und Viehzucht in Händen weißer Landwirte, noch immer gehören schwarze Landarbeiter zu den Ärmsten der Armen, noch immer erstrecken sich an den Rändern nahezu jeder südafrikanischen Stadt große Wellblechsiedlungen. Dass selbst die Bergarbeiter, die enorme Schätze an Gold und Platin fördern, in vielen Fällen noch immer ohne Strom, fließend Wasser und Kanalisation in Hütten hausen, ist eine Schande für die beteiligten Unternehmen ebenso wie für den ANC.

Letzterer könnte dafür bei den Parlamentswahlen Ende Mai die Quittung bekommen: Nahezu sämtliche Hochrechnungen sehen die Regierungspartei inzwischen deutlich unter der 50-Prozent-Marke, erstmals seit Einführung der Demokratie könnten Mandelas Erben ihre absolute Mehrheit verlieren. Fast noch einschneidender aber ist, dass bei den vorherigen Wahlen nur noch gut ein Drittel der Berechtigten auch die Stimme abgab, ein weiteres Drittel ließ sich nicht einmal bei der Wahlkommission registrieren. Die Euphorie von 1994 ist insbesondere bei jungen Südafrikanern längst verflogen, für Vertrauen auf Besserung ist viel Optimismus nötig. Präsident Ramaphosa attestierte seinen Landsleuten in seiner Neujahrsansprache dennoch »viele Gründe, hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen«. Er nannte allerdings nicht einen einzigen.

Christian Selz lebt in Kapstadt und berichtet für junge Welt regelmäßig aus dem Süden Afrikas. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 2. März 2024 über die Bedeutung des BRICS-Bündnisses für Südafrika.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Verena B. aus Berlin (28. April 2024 um 16:50 Uhr)
    Vielen Dank, Christian Selz, für die Beschreibung des lamentablen Zustands in Südafrika und seiner Ursachen. Sie hat mich an den Pan Africanist Congress (PAC) erinnert. Er gründete sich vor 65 Jahren, nachdem der ANC die Freiheitscharta beschlossen hatte. Der PAC stellte statt der Verfassung die Landfrage ins Zentrum seines Programms und seines Kampfs: nur nach Rückgabe des von den Weißen geraubten Landes könne Südafrika frei werden. Die hat wie beschrieben nicht stattgefunden. Verena Bosshard
    • Leserbrief von Detlev Reichel aus Tshwane, Südafrika (29. April 2024 um 11:40 Uhr)
      Liebe Verena Bosshard. Der PAC spielt in der heutigen südafrikanischen Politik keine Rolle. Er zerreibt sich nach wie vor in inneren Machtkämpfen. Eine glaubwürdige Alternative zum ANC stellt der PAC nicht dar.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (28. April 2024 um 10:54 Uhr)
    In gut vier Wochen finden hier die Wahlen statt, für die National Assembly (Parlament) sowie für die Provinzparlamente. Dies in einer Situation, so wie sie der Kollege Christian in seinem Artikel beschreibt. Die meisten Umfragen sagen voraus, dass der regierende ANC seine absolute Mehrheit verlieren wird. Auch wenn das Umfragewesen hierzulande nicht sehr ausgeprägt und etabliert ist, gibt genügend Anzeichen dafür, dass diese Voraussage eintreten kann. Zum Beispiel meine Frau, in Soweto aufgewachsen und sozialisiert. Sie hat anfangs immer für den ANC gestimmt. Bis zum »Zuma-Putsch« innerhalb des ANC (2007). Danach verlor sie das Vertrauen in die einstige Befreiungsbewegung. Selbst Zuma-Befürworter von damals haben seither dem ANC den Rücken gekehrt. Für meine Frau sind die Parlamentswahlen stets mit den sprichwörtlichen Bauchschmerzen verbunden. Was soll sie wählen? Sie gehört zu jenen, die unbedingt zur Wahl gehen wollen. Viele Menschen treten nicht mehr den Weg zur Wahlurne an. Eine vertrauenswürdige Alternative zum ANC ist nicht in Sicht, schon gar keine linke. Die Kommnistische Partei (SACP) ist noch immer mit Haut und Haaren dem ANC verschrieben. Die neoliberale DA steht für einen entfesselten Kapitalismus (»freie« Marktwirtschaft ohne Sozialklimbim). Die EFF, die verstoßenen Kinder des ANC, üben sich in radikal-linker Demagogie mit starken Tendenzen zu afrikanischem Nationalismus. Das heißt, so sehe ich das, die EFF stellt die (schwarz-) afrikanische Identität über die Werte der Verfassung. Die VFPlus (»Vryheidsfront plus«) vertritt die Interessen der afrikaanssprachigen weißen Bevölkerung. Es gibt eine ganze Latte von kleineren und Kleinstparteien sowie seit neuestem auch unabhängige Kandidaten, die als Einzelpersonen den Sprung ins Parlament wagen wollen. Dem Wahlvolk präsentiert sich also ein ziemlicher Wildwuchs. Koalitionen auf lokaler Ebene haben bislang nicht lange gehalten. Wie das auf nationaler Ebene funktionieren soll, steht in den Sternen.

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