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Aus: Ausgabe vom 03.06.2024, Seite 12 / Thema
Literatur

Geheimnisvoll und offen

Vom Geheimtip zum Bestseller. Vor hundert Jahren starb der Schriftsteller Franz Kafka
Von Arnd Beise
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Franz Kafka vor dem Wohnhaus der Familie Kafka am Altstädter Ring in Prag (1922)

»Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder«, flehte der Todkranke seinen Freund und Pfleger an. 1921 hatte der Patient während eines Kuraufenthalts im slowakischen Matliary, einer Art Zauberberg in der Hohen Tatra, den ungarischen Medizinstudenten Robert Klopstock kennengelernt, der auch literarische Ambitionen hatte. Der Tuberkulosepatient hieß Franz Kafka. Anfang der 1920er Jahre setzte sich Kafka für Klopstock ein, indem er ihn zum Beispiel als Übersetzer seiner Werke autorisierte. Klopstock wiederum schloss sich eng an den Prager Schriftsteller an und übernahm mit Dora Diamant, der letzten Lebensgefährtin Kafkas, dessen Pflege zum Tod.

»So geht die Hilfe wieder ohne zu helfen weg«, lautet eine der letzten Äußerungen in den »Gesprächsblättern«, die Kafka – seiner Stimme beraubt, da die Lungentuberkulose auf den Kehlkopf übergegriffen hatte –, zur schriftlichen Verständigung mit seiner Umgebung benutzte, nach einer Visite. Die Ärzte hatten Anfang Mai 1924 ihren Patienten aufgegeben. Seit dem 6. Mai war Klopstock vor Ort. Knapp einen Monat später bat Kafka um die schon länger »für den Ernstfall« versprochene Spritze mit der Überdosis Morphium.

Auf dem Sterbebett korrigierte Kafka noch den ersten Druckbogen eines neuen Buchs, das im Berliner Verlag Die Schmiede erscheinen sollte und auch im August nach seinem Tod erschien: »Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten.« Der Verlag bot dem seit Juli 1922 frühpensionierten Autor gute Konditionen. Zum ersten Mal hatte Kafka die Chance, vielleicht von seinem Schreiben leben zu können, Beruf und Berufung endlich eins werden zu lassen.

Im September 1923 hatte der gesundheitlich Angeschlagene (»Jeden Tag irgendein größerer Mangel, es rieselt im Gebälk«) seine Existenz vollständig umgekrempelt; er hatte Prag verlassen und lebte mit Dora Diamant, die er im Sommer 1923 im Ostseebad Müritz kennengelernt hatte, in Berlin-Steglitz. Er begann nach einer knapp einjährigen Pause wieder literarisch zu schreiben. Es entstanden Erzählungen, darunter »Der Bau«, »Eine kleine Frau«, »Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse«. Die zwei letztgenannten Texte sowie die im Frühjahr 1922 entstandenen Erzählungen »Erstes Leid« und »Ein Hungerkünstler« waren die »vier Geschichten«, die in dem neuen Buch erscheinen sollten.

Die darin nicht aufgenommene, weil noch nicht beendete Erzählung »Der Bau« handelt von einem Tier, das sich in seinem unterirdischen »Labyrint« zunächst in Sicherheit wähnt:

»Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen. (…) Ich lebe im innersten meines Baues in Frieden und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran (…). Das schönste an meinem Bau ist (…) seine Stille, freilich ist sie trügerisch, plötzlich einmal kann sie unterbrochen werden und alles ist zu ende, vorläufig aber ist sie noch da (…). Schön ist es für das nahende Alter einen solchen Bau zu haben, sich unter Dach gebracht zu haben, wenn der Herbst beginnt.« Eines Tages aber hört das Ich ein »Geräusch«, ein »Zischen oder Pfeifen«, dessen Herkunft und Ursache unklar bleiben. Wahrscheinlich stammt es von einem anderen Tier, das das Ich »einkreist«, ein »Gegner«, von dem »Gefahr« ausgeht: »es kommt jemand heran«.

Der unerbittliche Gegner, den keine Trutzburg fernzuhalten vermag, sei leicht identifiziert, meinte Detlev Arens einmal: »Es ist der Tod.« Ab wann Kafka wusste, dass sein neues Leben nur sehr kurz dauern würde, ist nicht ganz klar. Seit Jahresende 1923 litt er an beständigem Fieber, seine Hinfälligkeit nahm zu. Der von der besorgten Familie nach Berlin geschickte Onkel Siegfried Löwy, Arzt von Beruf, riet dringend zu einem Kuraufenthalt. Anfang April 1924 traf Kafka in dem Sanatorium »Wiener Wald« in Ortmann ein, in einem »schlechten Gesamtzustand (49 kg in Winterkleidern)«, wie er an Klopstock schrieb, er »liege im Bett, kann ja auch nur flüstern (wie schnell das ging, etwa am dritten Tag in Prag begann es andeutungsweise zum erstenmal)«. Dann wurde eine Kehlkopfbehandlung in einer Wiener Klinik notwendig, ab dem 19. April lag er im Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling. »Ich bin sehr schwach, aber hier recht gut aufgehoben.«

Brieflich versuchte Kafka Haltung zu bewahren. Am Tag vor seinem Tod schrieb er an die Eltern, dass er wegen einiger »Schwierigkeiten der ersten Zeit hier um und in Wien (…) etwas heruntergebracht« sei; »die Überraschung der Kehlkopfsache schwächte in der ersten Zeit mehr, als ihr sachlich zukam (…). Das alles wirkt zusammen, daß ich trotz meiner wunderbaren Helfer, trotz guter Luft und Kost (…) noch immer nicht recht erholt bin«. Dabei war Dora Diamant schon im April klar, dass sein »Zustand (…) sehr, sehr ernst« war, wie sie unter einen Brief an Max Brod schrieb.

Der Tod Kafkas erregte wenig Aufmerksamkeit außerhalb des Kreises seiner Familie und Freunde. Er war »ein Geheimtip auf Lebzeiten« (Hans Mayer), kein weithin bekannter Schriftsteller; »sein Renommee beschränkte sich auf einen relativ kleinen Kreis Eingeweihter« (Thomas Anz). Nachrufe erschienen nur wenige; einer stammt von der früheren Freundin Milena Jesenská: »Vorgestern starb im Sanatorium Kierling in der Nähe von Klosterneuburg bei Wien Dr. Franz Kafka, ein deutscher Schriftsteller, der in Prag lebte. (…) Unsichtbare DämonenEr war scheu, ängstlich, sanft und gut, aber schrieb grausame und schmerzhafte Bücher. Die Welt sah er voller unsichtbarer Dämonen, die den ungeschützten Menschen vernichten und zerreißen. Er war zu hellsichtig, zu weise, um leben zu können, zu schwach, um mit der Schwäche der edlen, schönen Menschen zu kämpfen, die den Kampf nicht aus Furcht vor Mißverständnissen, Lieblosigkeiten und geistiger Lüge meiden, obwohl sie im voraus wissen, daß sie machtlos sind, und die so unterliegen, daß sie den Sieger bloßstellen. (…) Er schrieb Bücher, die zum Bedeutendsten der jungen deutschen Literatur gehören; in ihnen ist der Kampf der heutigen Generation enthalten, jedoch ohne tendenziöse Worte. Sie sind so wahrhaft, nackt und schmerzlich, daß sie selbst dort, wo etwas symbolisch ausgedrückt wird, naturalistisch wirken. (…) Alle seine Bücher schildern das Grauen heimlicher Mißverständnisse und unverschuldeter Schuld zwischen den Menschen. Er war ein Mensch und Künstler von so feinem Gewissen, daß er auch dort etwas spürte, wo sich andere, die nicht so empfindlich waren, ungefährdet fühlten« (Národní listy, 6. Juni 1924).

Es waren sechs Bücher, die das Lesepublikum zum Todeszeitpunkt kennen konnte: 1) »Betrachtung« (1913), eine Sammlung von 18 oft sehr kurzen Skizzen; 2) »Der Heizer. Ein Fragment« (1913); 3) »Das Urteil. Eine Geschichte« (1913 in einem Jahrbuch erschienen, 1916 selbständig); 4) »Die Verwandlung« (1915); 5) »In der Strafkolonie« (1919); 6) »Ein Landarzt. Kleine Erzählungen« (1919), eine Sammlung von 14 Prosastücken. Das sind 37 Erzählungen, die in der 1969 erschienenen Ausgabe »Sämtlicher Erzählungen« 164 Seiten füllen. Dazu kommen vier 1909, 1912 und 1921 in Zeitschriften publizierte Erzählungen, die Kafka nicht in seine Bücher aufnahm, und das von Kafka selbst noch vorbereitete Buch aus dem Sterbejahr. Zusammen sind das 45 Erzählungen auf 226 Seiten, die Kafka autorisierte.

Die Rezensionen des ersten Buches waren anerkennend. Gelobt wurde die »große künstlerische Herrschaft« (Robert Musil) eines »genial-zarten Dichters« (Albert Ehrenstein), das »Meisterwerk« (noch mal Ehrenstein) sei »tief und mit den feinfühligsten Fingern gemacht« (Kurt Tucholsky). Es drängten sich Vergleiche auf: Robert Walser wird öfter genannt, Peter Altenberg, Alfred Kubin und einmal Rainer Maria Rilke. Nur Hans Kohn meinte, »Kafkas kleine Betrachtungen bilden etwas in der deutschen Literatur bisher Unbekanntes; ich wüßte kein Vorbild.« Otto Pick anerkannte zwar »das beispiellose Talent« Kafkas, war aber ratlos vor Kafkas »Direktheit«, die »die Welt als etwas unendlich Rätselhaftes« erscheinen lasse: »Versucht man eine Formel für diese Art der Lebensbetrachtung zu finden, so gerät man in Verlegenheit. Vielleicht (…) ist hier der eigentliche ›Indifferentismus‹ am Werke (…). Oder hat die schlummernde Kraft eines Schwachen hier ihren Ausdruck gefunden? Die heftigen Stellen des Buches lassen es vermuten, z. B. der ›Wunsch, Indianer zu werden‹, dieser Wunsch, in dessen Äußerung der Sehnsüchtige allen Schwung und alle Kraftverdichtung seiner unmöglichen Erfüllung legt.«

»Wunsch, Indianer zu werden« / »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.«

Auch die weiteren Publikationen Kafkas wurden begrüßt; allerdings immer etwas weniger enthusiastisch als das Vorgängerbuch. »Der Heizer«: »Es ist schwer, ein Buch anzuzeigen, von dem man eben noch wie von einem Wunder getroffen worden ist« (Heinrich Eduard Jacob); »über diesen fünfzig Seiten liegt eine Glut, eine sommerliche Fülle sondergleichen. Nichts ist nebensächlich, kein Satz, kaum ein Wort steht im Schatten (…)« (Ernst Weiß).

»Die Verwandlung« wird gelobt als Ausdruck von »Kraft und gesunder Laune. (…) Hier ist nichts Gequältes, Absurdes, nichts zu kränklicher Erregung Hinaufgepeitschtes und an der eigenen Erregung Hinabreagiertes zu finden. Es ist alles gut und klar und schön und einheitlich und von Herzen kommend, weil von Mitgefühl getragen« (Hugo Wolf); »das stärkste Buch der modernen deutschen Literatur« (Jesenská).

»Das Urteil«: »Die kurze Geschichte ist (…) eine starke Talentprobe und erfreut namentlich durch ihre Klarheit und die Einfachheit der stilistischen Mittel« (Georg Küffer); »Kafka, dessen schöne Stärke es ist, ohne Zerpflückung den Gehalt eines Gefühls oder eines Augenblicks zu sagen« (Max Krell); »Kafkas Erzählkunst ist über das Gegenständliche, das rein Schriftstellerische hinaus. Mit ein paar gar zu kurzen Strichen waltet am Schlusse der Richter im Dichter seines Amtes« (Rolf Conrad Cunz).

»In der Strafkolonie« wurde von der Kritik überwiegend abgelehnt. Die Rede ist von der »Absonderlichkeit der Erfindungsgabe Kafkas«, vom »üblen Nachgeschmack«, den die Erzählung hinterlasse; es sei »Kunst, die nicht tiefer dringen kann, weil sie letzten Endes auf Sensation gestellt ist« (Otto Erich Hesse). Ein Anonymus fand »das Buch zu langweilig (…), um zum Nachdenken oder Einfühlen anzuregen«. Lediglich Kurt Tucholsky lobte die Erzählung begeistert. In seiner Rezension wird auch schon ein Geheimnis des postum durchschlagenden Erfolgs enthüllt, nämlich die nüchterne Beschreibung der schrecklichsten oder groteskesten Verhältnisse: »So unerbittlich hart, so grausam objektiv und kristallklar ist dieser Traum von Franz Kaffka ›In der Strafkolonie‹ (…). Dieses schmale Buch (…) ist eine Meisterleistung. / Seit dem Michael Kohlhaas ist keine deutsche Novelle geschrieben worden, die mit so bewußter Kraft jede innere Anteilnahme anscheinend unterdrückt und die doch so durchblutet ist von ihrem Autor. (…) Einmal schrankenlos herrschen zu können … / Diese Schrankenlosigkeit – hier bei Kaffka ist sie geträumt und gestaltet. (…) Und all das ist so maßlos kühl und unbeteiligt erzählt. (…) Und auf einmal ist das Buch aus. / Ihr müßt nicht fragen, was das soll. Das soll garnichts. Das bedeutet garnichts. Vielleicht gehört das Buch auch garnicht in diese Zeit, und es bringt uns sicherlich nicht weiter. Es hat keine Probleme und weiß von keinem Zweifeln und Fragen. Es ist ganz unbedenklich. Unbedenklich wie Kleist.«

»Ein Landarzt« schließlich wurde von der Literaturkritik kaum mehr beachtet. »Diese Aufzeichnungen traumhafter Begebenheiten sind der selten geglückte Versuch deutscher Literatur, abstraktestes Geschehen konkretest zu befragen«, meinte Rudolf Thomas: »peinlich saubere deutsche Prosa (…). Gebändigte Phantasie, dahinter tausendfache Bedeutung, die man nur ahnen darf«.

Auch »Ein Hungerkünstler« wurde gelegentlich noch gelobt, etwa 1925 von Hermann Hesse: »Der ›Hungerkünstler‹ ist eine der schönsten und rührendsten Dichtungen Kafkas, ätherisch wie ein Traum und exakt wie ein Logarithmus. Seit dem ›Landarzt‹ und der ›Strafkolonie‹, jenen Meistererzählungen, die vor manchen Jahren uns aufhorchen ließen, ist der ›Hungerkünstler‹ wohl das echteste, innigste und duftigste Stück dieses Träumers und Frommen, der zugleich ein heimlicher Meister und König der deutschen Sprache gewesen ist«; womit er eine Bemerkung aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 7. Januar 1924 aufnahm, wo er schrieb, Kafka sei ein »vom Publikum vollkommen unbeachteter Meister« der Sprache, der »besser Deutsch« könne »als dreißig andere Dichter zusammen«.

In einer Umfrage unter deutschen Verlegern, die Herbert Eulenberg 1928 veranstaltete, antwortete Kurt Wolff auf die Frage nach dem größten Misserfolg seines Unternehmens: »Die Bücher des großen Dichters Franz Kafka waren geschäftlich der größte Mißerfolg – trotz fabelhafter Besprechungen führender deutscher Geister und trotz Ludwig Hardts Vortragskunst.« Rudolf Thomas hatte in seiner Rezension des »Landartzts« schon 1920 geschrieben: »Daß der Publikumserfolg ausbleibt, ist ein Beweis gegen das Publikum.« Seinen Autor tröstete Wolff 1921: »Sie und wir wissen, daß es gemeinhin gerade die besten und wertvollsten Dinge sind, die ihr Echo nicht sofort, sondern erst später finden, und wir haben noch den Glauben an die deutschen Leserschichten, daß sie einmal die Aufnahmefähigkeit haben werden, die diese Bücher verdienen.«

Tatsächlich begann die Trendwende schon kurz nach Kafkas Tod. Max Brod hat sich bekanntlich nicht an die testamentarische Weisung gehalten, alle unveröffentlichten Manuskripte zu verbrennen; auch weil Kafka selbst im letzten Lebensjahr von dieser radikal sein Werk verneinenden Haltung, die sich in zwei 1921 und 1922 während depressiver Phasen verfassten Anweisungen an Brod niederschlug, abgewandt hatte. Außerdem hatte Brod Kafka schon zu Lebzeiten erklärt, dass er die Bitte des Freunds nicht erfüllen würde. 1925 erschien dann die erste Publikation aus dem Nachlass Kafkas.

»Jemand musste Josef K. verläumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« So beginnt der Roman »Der Process«, den Brod schon 1921 in einem Aufsatz in der Neuen Rundschau als »Kafkas größtes Werk« bezeichnet hatte, das seiner »Ansicht nach vollendet vorliegt, nach Ansicht des Dichters freilich unvollendet, unvollendbar, unpublizierbar«.

Nun war die Kritik fast einhellig begeistert. »Was ist das wieder für ein seltsames, aufregendes, wunderliches und was für ein beglückendes Buch!« (Hermann Hesse); »das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre« (Tucholsky). »Noch nie – scheint mir – ist es gelungen, das Wesen der sittlichen Schuld und der sittlichen Verpflichtung so fein und doch so gewaltig darzustellen, wie es Kafkas Unerbittlichkeit vermocht hat« (Felix Weltsch). »In Kafkas Roman gehen die exzentrischsten Dinge vor sich. Aber das ist eben das Geniale: es ist alles ganz wirklich in einer Wirklichkeit, die sich nicht bezeichnen läßt«, meinte Willy Haas, um dann noch zu versichern, »daß wir hier das einzige wahrhaft durch und durch geniale Dokument einer neuen Erzählkunst besitzen«.

Zwei winzige »Partikelchen« aus dem Roman habe Kafka in seinen Erzählungsband »Ein Landarzt« aufgenommen, verriet Max Brod schon 1921 dem Lesepublikum: »Ein Traum« und »Vor dem Gesetz«. Der zuletzt genannte Text umfasst zwei Seiten und wurde für sich stehend zu einer der berühmtesten Erzählungen des 20. Jahrhunderts.

Unförmlich geworden

In dem Roman wird die Erzählung oder »Legende«, wie sie auch genannt wird, von einem Geistlichen dem Protagonisten vorgetragen, um ihn von seiner »Täuschung« über das Gericht abzubringen. Die Geschichte ist bekannt: Ein »Mann vom Lande« bittet »um Eintritt in das Gesetz«, wird aber vom »Türhüter« abgewiesen. Er wartet sein Leben lang vor der Tür. Dem Sterbenden eröffnet der »Türhüter«: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.« Im Anschluss diskutieren der Geistliche und Josef K. über verschiedene Auslegungen der Geschichte. Hat der Türhüter den Mann getäuscht? Hat er nur seine Pflicht getan? War der Türhüter selbst ein Getäuschter? Mehrfach betont der Geistliche die Schwierigkeiten des Verstehens: »Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schliessen einander nicht vollständig aus.« »Du musst nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.« Letztlich zieht Josef K. aus der Geschichte und ihren Auslegungen den Schluss: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.« Josef K. »sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können (…). Die einfache Geschichte war unförmlich geworden«.

Unförmlich geworden ist vor allem die Interpretationsgeschichte dieses »Partikelchens« und des Romans insgesamt. Neben der Erzählung »Die Verwandlung« ist »Der Process« (mit »Vor dem Gesetz«) der meistgelesene und interpretierte Kafka-Text. Er wurde autobiographisch, psychoanalytisch oder theologisch gelesen, als gegen die Apparate der Macht und Bürokratie oder gegen die kapitalistische Entfremdung gerichtet. Er wurde sogar gegen eine hermeneutisch verfahrende Literaturwissenschaft gerichtet gelesen, nämlich als Dokument der »Sinnstimulierung bei gleichzeitiger Sinnverweigerung« (Jacques Derrida).

Tatsächlich ist es der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. »Der Process« macht ein »starkes Angebot zur Identifikation« mit Josef K., dem unschuldigen Opfer der Verhältnisse (dabei hatte ihn der Autor laut einer Tagebuchnotiz vom 30. September 1915 als einen »Schuldigen« angelegt, der »strafweise« verfolgt und »umgebracht« wird). In der Rezeption aber ist »Josef K. als moderner Jedermann aufgefaßt« worden (Michael Müller).

Brods Publikation der beiden anderen Romanfragmente »Das Schloss« (geschrieben 1922, gedruckt 1926) und »Amerika« (bzw. »Der Verschollene«, geschrieben 1912, gedruckt 1927) befördern den Ruhm des Autors weiter. Ihre Unabgeschlossenheit wird von den Leserinnen und Lesern gern als Angebot wahrgenommen, den Entwurf selbst weiterzudenken. Während es zu Lebzeiten die Erzählungen waren, bildet nunmehr diese Trilogie unvollendeter Romane den Kern von Kafkas Œuvre.

In den einhundert Jahren seit Kafkas Tod ist sein Ruhm ins Unermessliche gestiegen. Vermutlich ist er weltweit der bekannteste Autor deutscher Zunge des 20. Jahrhunderts. Der existentielle Ernst, der viele seiner Texte prägt, war dem existentialistischen Zeitgeist der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß; doch auch später verblasste sein Dichterruhm nicht mehr (mit Ausnahme einiger Jahrzehnte in Staaten des realexistierenden Sozialismus, wo Kafkas Werk als Ausdruck »bürgerlich-kapitalistischer Dekadenz« abgetan wurde; in einer Rede 1972 nannte der Vorsitzende des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands den »Kafkaismus eine ansteckende Krankheit, welche die Infektion in das Blut der sozialistischen Länder trägt und als Messer die Arterien der fortschrittlichen Traditionen durchschneidet«). Grund dafür wird die hohe Interpretationsbedürftigkeit der Texte sein, die Uneindeutigkeit ihrer Bilder und Gleichnisse. Die Lesenden können leicht ihre eigenen Zweifel und Dilemmata in die Texte projizieren. Kafka ist kein Schriftsteller, der Bescheid weiß, sondern einer, der verunsichert und uns in dieser Verunsicherung aber nicht allein lässt.

Kafka erzählte Ende 1923/Anfang 1924 von der »Heimkehr« eines vielleicht einmal verlorenen Sohns. »Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist Dir heimlich, fühlst Du Dich zuhause? Ich weiß es nicht. Ich bin unsicher«, wird explizit festgehalten. »Und ich wage nicht an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so daß ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst einer der sein Geheimnis wahren will.«

Arnd Beise ist Professor für Germanistik an der schweizerischen Universität Freiburg. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. April 2024 über Jakob Michael Reinhold Lenz› Theaterstück »Der Hofmeister« als Initialtext der Moderne.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (3. Juni 2024 um 11:17 Uhr)
    Leben und Kunst. In den einhundert Jahren seit Kafkas Tod ist sein Ruhm ins Unermessliche gestiegen. Vermutlich ist er weltweit der bekannteste Autor deutscher Sprache des 20. Jahrhunderts. Traurig ist es, dass er von seinen Erfolgen in seinem Leben so wenig profitieren konnte. Aber er ist nicht allein mit diesem Phänomen! Ähnlich erging es Rembrandt, dessen Werke heute für mehrere Millionen gehandelt werden, während er zu Lebzeiten nicht einmal in der Lage war, seine Schulden durch den Verkauf seiner Gemälde zu tilgen. So sieht nun mal Ruhm und Wirklichkeit von Künstlern aus. Ironisch betrachtet könnte man sagen, dass das Schicksal großer Künstler darin besteht, zu Lebzeiten die Bürde der Ignoranz ihrer Zeitgenossen zu tragen, nur um posthum auf den Olymp des Ruhms gehoben zu werden. Kafka, der zeitlebens mit seiner eigenen Unsicherheit und der Skepsis seiner Umgebung kämpfte, würde heute wohl staunend über die Heerscharen von Literaturkritikern blicken, die in seinen Werken tiefgründige Geheimnisse entdecken, die er selbst vielleicht nie beabsichtigt hatte. Und Rembrandt, der »47 war und dem Ruin ins Gesicht sah«, könnte belustigt feststellen, dass seine Leinwände nun in den glanzvollsten Galerien hängen, während sein eigenes Haus, das er nicht halten konnte, längst zu Staub zerfallen ist. Der Ruhm mag groß sein, aber die Ironie ist noch größer: Das wahre Vermächtnis der Kunst liegt oft in der Tragikomödie des Künstlerlebens selbst.

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