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Aus: Ausgabe vom 03.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

»Weg von der BRD«

Über die Grenzen: Ken Mertens Roman »Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist«
Von Peter Köhler
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Wem gehört das Öl? Pumpe auf einem Erdölfeld in Rojava

Mit dem Ruf »Komm! ins Offene, Freund!« beginnt Hölderlins Elegie »Der Gang aufs Land«. Raus, ins Freie, fort aus der Enge zu Hause, in der Stadt, hinaus auch aus Deutschland, dorthin, wo Träume wahr werden können: Schon seit den Zeiten der deutschen Klassik, als Goethe aus dem höfischen Weimar nach Italien floh, suchen Aussteiger nach einem besseren Leben woanders. Vielleicht 150 Jahre lang befriedigte das Land, wo Zitronen und Illusionen blühen, die bürgerliche Sehnsucht nach oder trügerische Vorstellung von Schönheit und Sorglosigkeit, danach boten griechische und kanarische Inseln einen Platz für Hippies und Lebenskünstler.

Immer aber handelt es sich um Flucht. Es sind Ausreißer, die für sich und nur für sich Alternativen suchen, einen auf sie allein zugeschnittenen Ausweg aus der gesellschaftlichen Misere suchen. Anders ist es, wenn die Suche nach persönlicher Verwirklichung den Kampf für politische, gesellschaftliche Ideale organisch einbindet. Ebendas versucht I., der nur mit diesem Kürzel benannte Held in Ken Mertens Roman »Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist«.

Weder das Studium von Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften noch die Jobs, mit denen er sich über Wasser hält, auch nicht sein Zuhause bei dem als Künstler wohl mehr dilettierenden als reüssierenden Vater, der abends als Kartenabreißer im Kino arbeitet, können I. zufriedenstellen. Seine kluge Freundin Amira ist eine brillant argumentierende, radikale Linksdenkerin – doch dann tritt Kim in sein Leben, die auch in ihren Taten radikal sein will. Es braucht nicht lange, bis I. überzeugt ist und ebenfalls ausbrechen will, »nur weg, weg, weg. Weg von der BRD«: Zusammen gehen sie nach Rojava in Syrien, ins freie Kurdistan, um die Revolution gegen Erdoğan, Assad und den sogenannten Islamischen Staat zu verteidigen.

Die erste Enttäuschung, dass die neu ankommenden Frauen und Männer getrennt werden, hat I. im Hochgefühl revolutionären Überschwangs schnell überwunden. Die Ausbildung an der Waffe, das Erlebnis der Kameradschaft, tiefe (und manches sublimierende) Gespräche mit Genossinnen über Sozialismus, Revolution und zu überwindende Geschlechterrollen, die Übungen im Gelände, die erste Feuerprobe – Wunsch und Wirklichkeit scheinen zusammenzupassen. Nicht zufällig wird Karl Mays »Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah« zitiert, und dass I. den Kampfnamen »Aso« trägt, weil er »Ach so« gesagt hat, nimmt der ernsten Realität etwas von ihrer blutigen Schwere.

Ein klein bisschen blutig wird es doch, und wahrlich geht es in diesem Roman nicht um Pop und Pipifax, sondern um echte politische Themen, für die hier die Utopie vom kurdischen Kommunalismus steht. Deshalb ist auch der Stil, in dem Merten erzählt, nicht alltäglich, konservativ und altbacken, sondern modern, manchmal bis über die Grenzen der gewöhnlichen Grammatik hinaus umgangssprachlich geprägt – etwa wenn Kim in einen »durchen Zustand« gerät – und ähnlich zerfleddert wie mündliche Rede. »Die Pförtnerin in echt hatte die Gesichtsfarbe von der Farbe von der Füllung von einer Semmel«, denkt I., als er in Dresden noch in einer Klinik jobbt; oder in Kurdistan: »Wie er fertig war mit Reden herrschte kurze Pause von Geräuschen außer so Naturgeraschel.«

Der 1990 im Erzgebirgischen geborene Autor ist Lesern der jungen Welt, als deren Feuilletonredakteur er arbeitete, nicht unbekannt. Der heute in Leipzig lebende Ken Merten hat in Dresden studiert, in Hildesheim das Literaturinstitut besucht und von einem sechsmonatigen Aufenthalt in Kuba ein »Notizbuch« mitgebracht, das unter dem Titel »Sonne und Sichel« von der Lebensfreude seiner Bewohner ebenso berichtet wie von den schweren Problemen eines Sozialismus inmitten imperialistischer Umzingelung. Was also tun? Hier und heute lautet die bescheidene Antwort: erst mal lesen. Die Literatur ist die Nabelschnur zur Wirklichkeit – und führt auf Umwegen keineswegs weg, weg, weg von der BRD.

Ken Merten: Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist. XS-Verlag, Berlin 2024, 247 Seiten, 23 Euro

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