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Aus: Ausgabe vom 30.05.2024, Seite 5 / Inland
Ernährungsarmut

Pufferfaktor Hunger

Einige Millionen können sich keine gesunde Ernährung leisten, dafür ist auch der Regelsatz im Bürgergeld zu niedrig, konstatierten Sozialverbände in Berlin
Von Alexander Reich
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Recht dürftig, aber kein Skandal: »Gemeinschaftsverpflegung« in Mannheim

Wie viele Menschen hierzulande von Ernährungsarmut betroffen sind, ist nicht leicht zu sagen. Die UN kam 2019 bei einer Erhebung auf rund drei Millionen, die nicht genügend Geld für eine gesunde Ernährung haben. Inzwischen sind es wohl eher acht Millionen. An die zehn Prozent geben in aktuellen Umfragen an, sich nicht mal jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten können. Dazu gehören auch Leute, die oberhalb der Armutsschwelle leben, aber eine Couch abbezahlen müssen. Oder die neue Gasheizung.

Nicht einmal, was eine gesunde Ernährung kostet, ist richtig klar. Renate Krause hat das bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) herauszubekommen versucht. »Solche Studien hätten wir auch gerne«, war die Antwort der Fachfrau, erzählte Krause am Mittwoch bei einem »Pressefrühstück« am – auch sozial – unteren Ende der Friedrichstraße in Berlin. Die Kielerin, Grundsicherungsbezieherin seit 2015, vertrat den Verein Armutsnetzwerk.

Immerhin habe die DGE 2022 einen Tagessatz für gesunde Ernährung ermittelt, so Krause. Die Forscher kamen auf 7,50 Euro. Seitdem seien die wichtigsten Lebensmittel 21,8 Prozent teurer geworden, womit man bei 9,14 Euro wäre. »Und jetzt raten Sie mal, auf welchen Regelsatz die Bezieher von Bürgergeld Anspruch haben!« Es sind 6,42 Euro. Für Kinder und Jugendliche deutlich weniger.

Der Anteil der mangelernährten Kinder und Jugendlichen liegt in der BRD zwischen 20 und 30 Prozent. Je ärmer ein Heranwachsender ist, desto wahrscheinlicher die Unterversorgung mit essenziellen Nährstoffen wie Kalzium, Eisen, Jod, Zink, Folsäure oder Vitamin D. Und weil es den billigen Lebensmitteln daran mangelt, sie aber oft sehr energiereich sind, erhöht sich gleichzeitig das Risiko für Übergewicht. Im übrigen hemmt Mangelernährung das Längenwachstum und die kognitive Entwicklung, man spricht von »Stunting«.

Krause empfahl noch den Besuch der Website Buergergeld-Bingo.de. Und während dann ein Dutzend Käsebrötchenhälften gefrühstückt wurde, kam Michael Stiefel von der Diakonie zu Wort. Auch ihm ging es zunächst um Teuerungsraten. Er habe »viele Jahre von eingesammelten Lebensmitteln gelebt« und sich dabei bestimmte Dinge immer kaufen müssen: Klopapier, Kaffee, Kaffeefilter, Zucker und Zwiebeln (»die kriegt man sehr selten an solchen Verteilstellen; da ist es leichter, Rinderfilet zu bekommen als Zwiebeln«). Sein Budget habe bei zehn Euro pro Woche gelegen. Kürzlich habe er »spaßeshalber« nachgerechnet, was ihn die Dinge heute kosten würden, und kam mit dieser »Privatempirie« auf eine Inflation von 60 Prozent.

Für Bezieher von Sozialleistungen sei das Lebensmittelbudget übrigens ein »Pufferfaktor«, erklärte Stiefel. Wenn etwa die Stromkosten höher sind als vorgesehen, sparen die Menschen am Essen. Im Zweifel lässt die Teuerung sie hungern. »Das ist wie wenn man Ihnen sagt: Sie dürfen 3,80 Euro für Sprit ausgeben und müssen jeden Tag zu einem bestimmten Ort kommen; ob die Spritpreise steigen, interessiert nicht – dann müssen Sie Ihr Auto davon überzeugen, für einen halben Liter weniger dorthin zu fahren.« Oder halt rabattiertes Speiseöl vom Discounter in den Tank kippen, bis der Motor Schrott ist.

Zuletzt sprach sich an diesem Morgen die Chefin der Berliner Tafel, Sabine Werth, für straffreies Containern aus: »Solange das Wegwerfen von Lebensmitteln erlaubt ist, darf das Retten von Lebensmitteln nicht verboten sein.« Längst könnten nicht mehr alle, die es nötig haben, von den Tafeln versorgt werden, erklärte Werth. Derzeit sind bundesweit rund zwei Millionen Nutzer registriert, mehrheitlich Senioren (24 Prozent) und Heranwachsende (28 Prozent).

Die Arbeit der Tafeln beginne, »wo der Staat versagt«, so Werth. Das galt so ungefähr für alle in der Runde. Blieb die Frage, welcher von vielen Skandalen die Politik interessieren könnte. Die dürftige Gemeinschaftsverpflegung in Schulen oder Pflegeheimen? Oder dass Eltern ihre Kinder vom Kita-Essen abmelden, das sie sich nicht mehr leisten können? Die Subventionierung von Agrarmultis statt regionaler Ökolandwirtschaft? Oder dass Landwirtschaftsminister Özdemir eine »Ernährungsstrategie« entwickelt, bei der absolut keine Rolle spielt, was ein Bürgergeldbezieher tatsächlich braucht? In der kommenden Woche lädt Özdemirs Ministerium zur jährlichen »Politik gegen Hunger«-Konferenz nach Berlin. Es geht dort um Ernährungssicherheit in der ganzen Welt. Vielleicht könnte der grüne Minister ja mal genauer erheben lassen, wie es um diese Sicherheit in Deutschland bestellt ist.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (29. Mai 2024 um 23:11 Uhr)
    Ich könnte mir vorstellen, dass »der grüne Minister ja mal genauer erheben lassen« wird, wie er die SUV-Industrie des Bundeslandes, dessen MP er werden will, besser subventionieren kann. Dass ihn armutsbedingte Mangelernährung am Arsch vorbeigeht, ist unverkennbar.
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (29. Mai 2024 um 22:51 Uhr)
    Es gibt den altbekannten Spruch »weil du arm bist, musst du früher sterben«. Dieser Spruch von einst ist nach wie vor hochaktuell. Daher gibt es auch folgende Erfahrungsformel: Ein Drittel der einfachen Lohnabhängigen stirbt schon vor dem Rentenalter, ein Drittel wenig später, nur ein weiteres Drittel kann für eine »längere« Zeit Rente beziehen. Der einstige Präsident der Ärztekammer Berlin hat mal bei einer Erhebung ermittelt, dass Menschen aus der Unterschicht wenigstens 7, wenn nicht gar 10 Jahre früher sterben, als jene aus der Mittelschicht. Und weil das so ist, wundern einem nicht mehr die langen Schlangen bei den sogenannten Tafeln sowie deren Aufnahmestopp für Neuzugänge, zumindest partiell ist das eingetreten. Bei den Einkäufen ist es so, dass Konservendosen und Pizzen en masse gekauft werden, so dass von einer vitaminreichen und mineralstoffreichen Kost keinesfalls gesprochen werden kann. Minderwertige gesättigte Fette und Transfette komplettieren den Speiseplan. Fleisch beschränkt sich nicht selten auf bloßes Hackfleisch, Bratwürste und anderes Junkfood. Da den rasanten Lebensmittel- und Mietpreissteigerungen nicht entgegengesteuert wird, seitens des Staates und seiner Regierung insbesondere, nimmt folglich der Grad der Verelendung zu, sprich die Reichen werden immer reicher, die Armen hingegen immer ärmer. Wer da meinen sollte, das dies sich ändert, ist garantiert auf dem Holzweg.

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