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Aus: Ausgabe vom 31.05.2024, Seite 6 / Ausland
Israel

7. Oktober – Immer noch ungelöst

Israels Oppositionsvorsitzender fordert Untersuchungskommission zum Angriff aus Gaza. Recherchen widersprechen offiziellen Erzählungen
Von Knut Mellenthin
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Bis heute nicht genau geklärt: Wieviel Zerstörung am 7. Oktober durch »Friendly fire« entstanden ist (13.10.2023)

Benjamin Gantz, Vorsitzender der stärksten israelischen Oppositionspartei, Nationale Einheit, und Gegenspieler von Premierminister Benjamin Netanjahu im Kriegskabinett, das nur aus drei Stimmberechtigten und zwei Beisitzern besteht, fordert die Einsetzung einer staatlichen Untersuchungskommission zum 7. Oktober. An diesem Tag waren im vorigen Jahr Kämpfer der Hamas, des sogenannten Islamischen Dschihad und anderer bewaffneter palästinensischer Widerstandsorganisationen – nach israelischen Schätzungen ungefähr 3.000 Mann – aus dem Gazastreifen durch die Grenzbefestigung nach Israel eingedrungen, hatten Militärposten überrannt und grenznahe Kibbuzim angegriffen.

Offizielle israelische Stellen gaben Mitte Dezember 2023 an, dass an diesem Tag 695 israelische Zivilpersonen, darunter 36 Kinder, 373 Soldaten und Polizisten und 71 Ausländer, mehrheitlich Arbeiter aus Thailand und anderen asiatischen Ländern, sowie auf der Gegenseite 1.500 bis 1.600 Palästinenser getötet worden seien. Die Zahlen werden zwar immer noch aktualisiert, sind aber seither im wesentlichen stabil. Unter den getöteten Zivilpersonen, deren Zahl inzwischen mit 767 angegeben wird, sind 364 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Musikfestivals Supernova, das nur fünf Kilometer von der Grenze entfernt stattgefunden hatte.

Nach dem Krieg …

Wenn gegenwärtig vom 7. Oktober die Rede ist, heißt es in festgefrorenen Standardformulierungen, »die Hamas-Terroristen« hätten »1.200 Menschen, meist Zivilisten« »kaltblütig ermordet« oder »brutal abgeschlachtet«. Wenn konsequente Pazifisten meinen, die 373 Angehörigen der israelischen Einsatzkräfte, die an diesem Tag starben, seien »ermordet« worden, hat das eine innere Berechtigung. Aber wenn Journalisten und Politiker sich so ausdrücken, die die Tötung von jetzt schon mehr als 36.000 Bewohnern des Gazastreifens – ungefähr die Hälfte davon Kinder und Jugendliche – für Israels legitimes »Selbstverteidigungsrecht« halten, hat die parteiische Voreingenommenheit und Verlogenheit eine abstoßende Dimension erreicht.

Die Forderung von Gantz erinnert daran, dass es bisher keine offizielle Untersuchung, also erst recht keine allgemein zugänglichen und vielleicht sogar überprüfbaren Untersuchungsergebnisse gibt. Nach dem 7. Oktober hatten alle relevanten israelischen Militärs und Politiker versprochen, dass man »jeden Stein umdrehen«, alles gründlich untersuchen und aufklären werde, was mit den Ereignissen dieses Tages zu tun hat. Aber erst später, nach dem Krieg, denn vorerst seien alle Anstrengungen ausschließlich auf diesen zu konzentrieren.

Wann ungefähr wird das sein? Anfangs wurde noch so getan, als werde man im Januar oder Februar dieses Jahres das Wesentliche »erledigt« haben. Nun hat der Nationale Sicherheitsberater Zachi Hanegbi am Mittwoch in einem Interview mit dem israelischen Radiosender Kan offenbart, dass man noch mit weiteren sieben Monaten Kampfhandlungen rechne. Also bis zum Jahresende. Und das muss noch nicht einmal das letzte Wort gewesen sein.

Transparenz eingefordert

Nebenbei erfuhr man aus israelischen Medien in dieser Woche, dass es schon mehrere Untersuchungen zum 7. Oktober gibt. Eine läuft im Rahmen der Streitkräfte. Zunächst sollte sie bis Juni abgeschlossen sein, inzwischen ist vom Oktober die Rede. Eine andere Untersuchung wird beim Inlandsgeheimdienst Schin Bet durchgeführt, für die mit einem noch späteren Enddatum gerechnet wird. Welche Problemkreise in diesen organisatorischen Zusammenhängen betrachtet und wie transparent die Ergebnisse gemacht werden sollen, bleibt vorerst unbekannt.

Gantz hat sich diesbezüglich etwas klarer geäußert: Untersucht werden sollen 1. die Entscheidungsprozesse auf politischer und sicherheitstechnischer Ebene vor dem 7. Oktober; 2. die speziellen Entscheidungen der für den Schutz der Grenzen Israels verantwortlichen Stellen; 3. das Agieren der Einsatzkräfte und Geheimdienste während der Angriffe am 7. Oktober; 4. die Ereignisse des 7. Oktober »in bezug auf Israels Verpflichtungen nach internationalem Recht«.

Sicher scheint, dass eine staatliche Untersuchung sich hauptsächlich mit den drängenden Fragen der israelischen Bevölkerung beschäftigen wird, warum die Streitkräfte auf den monatelang geplanten, intensiv vorbereiteten Angriff aus dem Gazastreifen offenbar überhaupt nicht vorbereitet waren. Die New York Times berichtete, vermutlich von Insidern mit qualifiziertem Material bedient, am 30. November, dass Israels militärische Führung schon mindestens ein Jahr vor dem 7. Oktober im Besitz eines 40seitigen Papiers gewesen sei, das den palästinensischen Angriffsplan enthielt. Dieses Dokument und damit verbundene Warnungen aus der personalstarken Abteilung für das Sammeln und Auswerten militärisch relevanter Informationen seien jedoch ignoriert worden. Unbeachtet blieben auch die Berichte der vorgeschobenen Beobachterinnen, die seit Monaten verstärkte Aktivitäten im grenznahen Bereich des Gazastreifens festgestellt hatten. Viele dieser überwiegend jungen Soldatinnen wurden am 7. Oktober getötet, als einer ihrer Stützpunkte überrannt wurde.

Was wusste Tel Aviv?

Eine weitere zentrale Frage wird sein, warum das Musikfestival wenige Kilometer vom Grenzzaun entfernt genehmigt wurde, nachdem es darum zunächst eine Auseinandersetzung gegeben hatte. Hinzu kommt, dass in der Nacht zum 7. Oktober zwei Telefonkonferenzen der obersten militärischen Führung – um Mitternacht und um 3.30 Uhr – stattfanden, weil Anzeichen für einen nahe bevorstehenden Angriff bemerkt worden waren, wie die Onlinezeitung Times of Israel am 5. Dezember detailliert enthüllte. Warum wurde entschieden, die Veranstaltung weiterlaufen zu lassen und nicht einmal die Organisatoren zu warnen?

Die politisch wichtigste Frage, was an jenem Tag wirklich geschah und was Propagandaerzählungen sind, wird vermutlich nie Untersuchungsgegenstand sein. Die Jerusalem Post berichtete am 27. Januar, dass einer Umfrage zufolge 63 Prozent der israelischen Bevölkerung überzeugt seien, dass am 7. Oktober ein »Holocaust« stattgefunden habe. Nur 23 Prozent meinten, dass dies eine Trivialisierung der historischen »Judenvernichtung« durch das Deutsche Reich sei. An dieser Wahrnehmung, die eine wesentliche Voraussetzung der israelischen Kriegführung im Gazastreifen ist, wird von staatlicher Seite nicht gerüttelt werden. Aber dass am 7. Oktober auch Menschen durch »friendly fire«, also durch israelische Streitkräfte, getötet wurden, ist keine böswillige »Verschwörungstheorie«, sondern kann aufgrund der Recherchen israelischer Medien als unstrittig gelten. Offen ist nur die Frage, welchen Anteil das an der Gesamtzahl der Opfer hatte. Unstrittig ist auch, dass es für besonders wirksame und aufputschende Erzählungen, wie etwa die von den lebendig verbrannten Babys oder den Kindern, die erst gefesselt und dann erschossen worden sein sollen, nicht nur keine Belege gibt, sondern dass sie auch den detailliert für alle Schauplätze ermittelten Opferzahlen widersprechen.

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