75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 2. Juli 2024, Nr. 151
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 03.06.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Erdbeben Türkei

Gefangen im Ausnahmezustand

Türkei: Mehr als ein Jahr nach dem Erdbeben kämpft die Region Hatay für Normalität
Von Annika Franz und Justus Niebling, Hatay
3.JPG
Sabahaddin und seine Frau Sevim vor den Trümmern ihres alten Hauses (Hatay, 5.4.2024)

Ununterbrochen schippt Sabahaddin in der Mittagssonne Kies auf einen Haufen und mischt ihn mit Wasser zu Mörtel. Er steht in einer Grube – an der Stelle, wo er ein neues Haus für seine Familie bauen möchte. Ihr altes ist nur noch ein unerkennbarer Haufen Schutt auf der anderen Seite der Straße, die durch Samandağ führt. Die Gemeinde liegt in Hatay, einer der elf türkischen Provinzen, die vor mehr als einem Jahr von starken Erdbeben zu großen Teilen zerstört wurden. Während Sabahaddin eine Schubkarre Kies nach der anderen auf die Baustelle fährt, bringt seine Frau Sevim türkischen Çay und Bananenkekse. Als Tisch dient eine alte Holztür, gesessen wird auf Trümmern. Eine Küche gibt es nicht. Die siebenköpfige Familie lebt in drei Zelten und einem Container. Die älteste Tochter Meryem muss fast anfangen zu lachen, als sie erzählt: »Wir kochen immer noch über dem Feuer.« Früher hatten sie noch eine Küche – vor dem 6. Februar. Als ihr Haus noch stand.

Nacht ohne Morgen

Jetzt sitzen Sabahaddin und seine zwei ältesten Kinder auf dem geerbten Grundstück inmitten von drei blauen Zelten neben der Baustelle. Als er versucht, sich an das letzte Jahr zu erinnern, verschwindet sein sonst so warmes Lächeln aus seinem Gesicht. »Ich bin aufgewacht, weil alles gewackelt hat und Gläser auf dem Boden zerbrochen sind.« Ihm zufolge war es kurz nach 4 Uhr, als es losging. »Wir wollten so schnell wie möglich das Zimmer verlassen, aber meine Frau wurde von der Tür weggeschleudert.« Der Strom sei innerhalb von Sekunden ausgefallen. »Wir haben die Kinder aus den Zimmern geholt und warteten, bis das Schlimmste vorbei war, der Ausgang war sowieso blockiert.« Die Tochter Meryem nickt. »Die drei Kleinen waren bei mir und haben um ihr Leben geschrien. Draußen hat es stark gewittert, und es war, als würde die Nacht keinen Morgen mehr haben.«

Der älteste Sohn Malik befindet sich zu dieser Zeit in Izmir. Am Tag des Erdbebens erreicht er nach sechs Stunden seine Familie auf dem Handy. Währenddessen hat sich seine Familie in ihren silbernen Ford »Focus« gerettet. Dort leben sie zehn Tage lang zu sechst und versuchen sich mit einem gefundenen Teppich und einer Steppdecke zu wärmen. In Samandağ herrscht Chaos. »Alles hat nach Blut und Verwesung gerochen«, erzählt Meryem. Menschen versuchen, andere unter den Trümmern hervorzuziehen. Gerade als ihr Vater anfangen will, über seine Freunde zu sprechen, die verschüttet wurden, sackt er zusammen und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. »Ich habe versucht, sie anzurufen. Einige sind rangegangen. Von den anderen werde ich nie wieder eine Antwort bekommen.«

Angebote nicht für alle

So wie Sabahaddin und seine Familie verlieren in dieser Nacht rund zwei Millionen Menschen ihr Zuhause. Er erzählt: »Unsere Zelte haben wir von einem Freund geschenkt bekommen.« Den Container bekommt er, weil er den damaligen stellvertretenden Innenminister zufällig auf der Straße trifft und zur Rede stellt. Normalerweise stehen die Container in Siedlungen. Ihr Bau durch NGOs wird nach dem Erdbeben vom Katastrophenschutz Afad koordiniert. Strom und Wasser sind dort umsonst. »Viele Menschen haben keine andere Option als die Containerstädte«, erklärt Simon Schneider. Er ist seit Anfang April dieses Jahres in Hatay und forscht für seine Masterarbeit in Sozial- und Kulturanthropologie zum Wiederaufbau. »Gerade in den ländlichen Regionen in Hatay wollen die Menschen ihre Wohnorte und vor allem das soziale Umfeld nicht verlassen«, erklärt er. Auch für Sabahaddin kommt das nicht in Frage. »Wir können nicht einfach mit vier Kindern in eine der Containersiedlungen ziehen und dort leben. Unser Laden ist hier, woher sollen die Einnahmen kommen?«

Obwohl Sabahaddin bereits Rentner ist, arbeitet er täglich in seinem kleinen Lebensmittelladen, der ebenfalls auf dem Grundstück mit der Baustelle und den Zelten steht. »So verdienen viele Leute hier ihr Geld«, erklärt Simon. Bei manchen würden die Einnahmen jedoch nicht ausreichen, so auch bei Sabahaddin. Deswegen baut er zusätzlich sein eigenes Obst und Gemüse an und möchte auf seinem Grundstück bleiben.

Für den Bau von neuen Wohnhäusern ist die türkische Wohnungsbaubehörde Toki zuständig. Eine der wenigen bezugsfertigen Wohnungen zu bekommen, ist für viele Menschen keine Option. »Für eine Wohnung muss man aus einem Lostopf gezogen werden, und trotz Kreditangeboten können sie sich viele nicht leisten«, erklärt Simon. »Aufgrund der wirtschaftlichen Lage glauben die Leute nicht, dass sie jemals einen Kredit zurückzahlen könnten.«

Hilfe zur Selbsthilfe

Simon meint: »Katastrophenschutz und -bewältigung sind in der Türkei in hohem Maße zentralisiert.« Für seine Forschung setzt er sich viel mit Berichten der Vereinigung der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern, kurz TMMOB, auseinander.

TMMOB schreibt, dass die Bewältigung der Katastrophenfolgen und der Wiederaufbau nicht in Übereinstimmung mit ihren politischen Handlungsempfehlungen geschähen. Laut Simon lege die Politik den Schwerpunkt auf Geschwindigkeit, um keine Zweifel an der Legitimität und Güte des Wiederaufbaus aufkommen zu lassen. In der Wirtschaft gehe es vor allem um lukrativen Massenbau. Die Hinweise der TMMOB in Hinblick auf Zersiedelung, klimaschädliches Bauen, Asbest in den Trümmern sowie auf kommende Dürren, Überschwemmungen und Erdbeben würden übergangen.

Sabahaddin hat sich für eine Bauweise entschieden, die solchen Naturereignissen vorbeugen kann: ein sogenanntes Superadobe-Haus. Es wird aus Säcken gebaut, die mit Sand oder Lehm gefüllt sind. Diese können Wasser abhalten und absorbieren tagsüber die Hitze, so dass der Innenraum kühl bleibt. Diese Konstruktionsweise wurde ihm von Fabian Miedaner vorgeschlagen. Er kommt aus der Nähe von Kassel und organisiert weltweit EU-geförderte Hilfsprojekte. Mit seinem Projekt »Earth Medicine« ist er schon zum vierten Mal in Hatay. »Durch den Superadobe-Bau können sich Menschen selbst relativ schnell und günstig Wohnraum schaffen.«

Gemeinsam mit einer Gruppe Freiwilliger aus verschiedenen Ländern hilft er Sabahaddins Familie beim Bau des neuen Hauses. Laute Maschinen sind auf der Baustelle nicht zu hören, statt dessen nur das gelegentliche Schnaufen des Bauteams beim Schleppen der Steine. Alles wird händisch erledigt. Dementsprechend lange dauert es, bis die Mauer für das Fundament steht. Wann die Grube gefüllt wird, ist ungewiss. Oft fehlt es noch an den nötigen Materialien. Simon hat im Zuge der Forschung mit vielen Menschen gesprochen, die ihr Haus ebenfalls auf eigene Faust wieder aufbauen. Es sei normal, dass es Stück für Stück vorangehe. »Die Leute haben jetzt gerade das Geld, um das Fundament zu gießen, später kommen dann vielleicht die ersten Ziegel.« Aber solange kein Material da ist, kann auch Fabians Team nicht viel mit anpacken.

Steiniger Weg zur Normalität

Simon sieht die Rolle von Hilfsprojekten eher in der Freizeitgestaltung der Menschen in Regionen wie Hatay: »Ich beobachte eine extreme Frustration im Hinblick auf fehlende soziale Aktivitäten.« Viele Cafés, Kinos und Bars in Samandağ sind zerstört. Auch Fabian nimmt wahr, dass die Rolle seines Teams oft nicht nur das Bauhelfen ist. Sie verbringen viel Zeit mit den Leuten, reden und feiern. »Fast jeder Mensch, mit dem man hier spricht, hat eine nahestehende Person verloren, aber niemand möchte die ganze Zeit darüber nachdenken müssen«, meint Fabian. Um so mehr wünschen sich viele Normalität zurück.

So geht es auch Meryem, Sabahaddins Tochter. Sie steht auf der Türschwelle ihrer Unterkunft. Mit ihrem eleganten orangen Oberteil bildet sie einen starken Kontrast zu dem Container aus Metall. Fast schon genervt schaut sie heraus. Sie stören die wiederkehrenden Gespräche vom Erdbeben. »Ich möchte nicht mehr ständig traurig sein.«

Für viele Menschen ist das aber nicht so einfach. Laut Simon werde die Aufmerksamkeit von offizieller Seite oft nur auf die psychischen Probleme der Menschen gerichtet. »Das individualisiert die Katastrophenfolgen und kann dazu führen, die strukturellen Probleme des Wiederaufbaus, die in der Verantwortung des Staates liegen, aus dem Blick zu verlieren«, merkt er an. »Den Menschen geht es schlecht, weil die Lebensumstände, objektiv gesehen, immer noch schlecht sind.« Auch Sabahaddin beschreibt seine Lebensumstände als zunehmend belastend. »Die Verzweiflung nimmt von Tag zu Tag zu«, sagt er. »Ich weiß nicht, ob ich je wieder ruhig unter Beton schlafen kann.«

Hintergrund: Ausmaß der Katastrophe

Das Erdbeben der Stärke 7,8 im Südosten der Türkei und viele weitere Nachbeben forderten dort im Februar vergangenen Jahres 56.000 Menschenleben – mehr als doppelt so viele wurden verletzt. Die Zahlen könnten Einheimischen zufolge um ein Vielfaches höher liegen. Die Hauptstadt der Provinz Hatay, Antakya, wurde zu circa 70 Prozent zerstört. Am 20. Februar ereignete sich ein weiteres Erdbeben mit weiteren Todesopfern, Verletzten und zerstörten Gebäuden. Seitdem leben die Menschen in Containersiedlungen und Zelten.

Auch wenn Faktoren wie die Bevölkerungsdichte und die Tageszeit des Erdbebens eine Rolle spielten, trugen politische Entscheidungen ebenfalls zum Ausmaß der Katastrophe bei. Die Region liegt an einer Stelle, an der die Anatolische Erdplatte auf die Arabische und Afrikanische trifft. Daher hatte die Kammer der türkischen Ingenieurgeologen die Regierung vor einer möglichen Katastrophe gewarnt. Diese Warnung blieb jedoch unbeachtet.

Der Katastrophenschutz Afad wurde für verspätete, unkoordinierte, unzureichend ausgestattete Bergungs- und Räumungsarbeiten kritisiert. Außerdem sei fachfremdes Personal eingesetzt worden.

Zudem hätten viele erdbebenunsichere Gebäude in der Region der Gesetzeslage nach gar nicht mehr stehen dürfen. Doch oft wurden nur dort Maßnahmen ergriffen, wo Bauunternehmen mehr Gewinne einholen konnten.

Die türkische Regierung der AKP hat durch Bauamnestien schon oft den Abriss anderer, teils illegal errichteter Gebäude verhindert – allein 2018 war dies der Fall bei 294.000 Häusern im Erdbebengebiet.

In den Erdbeben 2023 sind 230.000 Gebäude eingestürzt oder stark beschädigt worden. Daher versprach Präsident Recep Tayyip Erdoğan, den Menschen binnen zwölf Monaten neue Eigenheime bauen zu lassen. In den vom Erdbeben betroffenen Provinzen wurde Erdoğan daraufhin bei den Präsidentschaftswahlen mit einer Mehrheit der Stimmen wiedergewählt.

Ein Jahr später wurden in Hatay nur wenige Prozent der versprochenen Wohnungen von der staatlichen Wohnungsbaubehörde Toki fertiggestellt. Um diese Zeit war Erdoğan im bis dahin noch von der Oppositionspartei CHP regierten Hatay zu Besuch. Bei einer Rede sagte er, dass die Wahl einer anderen Partei als der AKP für die Kommunalverwaltung immer zu Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit führen würde. Doch selbst wenn genug Wohnungen gebaut werden sollten, müssten viele Menschen einen Kredit aufnehmen, um sich die Wohnung leisten zu können. (afr/jn)

Großes Kino für kleines Geld!

75 Augaben für 75 €

Leider lässt die Politik das große Kino vermissen. Anders die junge Welt! Wir liefern werktäglich aktuelle Berichterstattung und dazu tiefgründige Analysen und Hintergrundberichte. Und das zum kleinen Preis: 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt erhalten Sie mit unserem Aktionsabo für nur 75 €!

Nach Ablauf endet das Abo automatisch, Sie müssen es also nicht abbestellen!

Ähnliche:

Regio: