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Aus: Ausgabe vom 03.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Die richtigen Klänge

Meisterwerk in Rostbraun: Beth Gibbons fünftes Album »Lives Outgrown«
Von Alexander Kasbohm
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Herbstlich gestimmt: Beth Gibbons

Der kreative Output von Beth Gibbons ist begrenzt, aber beeindruckend. »Lives Outgrown« ist das fünfte Album, das sie in den letzten 30 Jahren veröffentlicht hat, und ihr erstes »richtiges« Soloalbum. Ihre Kariere begann gleich mit einem Album, das schnell zu einem Klassiker wurde. Mit Geoff Barrow und Adrian Utley zusammen veröffentlichte sie 1994 das Portishead-Debüt »Dummy«, dem man mit der Genrebezeichnung TripHop unrecht tun würde. Während TripHop Mitte der 1990er zum beliebigen und allgegenwärtigen Cafésoundtrack wurde, war »Dummy« ein dunkelblau schimmernder Diamant der Schwermut und Verlorenheit. Das Album und die Single »Glory Box« (die auf demselben Sample aufbaut wie Trickys Hit »Hell Is Round the Corner« wenige Monate später, nämlich auf »Ike’s Rap II« von Isaac Hayes) waren vielleicht die unwahrscheinlichsten Chartgäste der Jahre 94/95. Eigentlich hätte ihre Düsterkeit jeden Massenerfolg verbieten müssen, wäre da nicht zugleich die erhabene Schönheit der Tracks gewesen.

Mit dem selbstbetitelten Nachfolgealbum ließen Portishead sich drei Jahre Zeit. Keinesfalls schlecht, wenn auch weit entfernt von der Größe von »Dummy«, fiel die Veröffentlichung in die Zeit eines sich ausbreitenden TripHop-Katers und wurde von der Kritik zwar weitgehend mit Anerkennung, aber wenig Begeisterung aufgenommen. Dann war erst mal Funkstille, bis 2002 »Out of Season« von Beth Gibbons und Rustin Man erschien. Rustin Man ist Paul Webb, ehemals Bassist von Talk Talk, und war als Musiker einer Band, die sich, vom New-Wave-Pop kommend, im Laufe der 1980er immer komplexerer (und schwerer verkäuflicher) Experimentalkunst zuwandte, der perfekte Partner. Das weitgehend elektronikfreie Setting mit grandiosen Streichern bekam Beth Gibbons ausgesprochen gut. Es schien, als habe sie ihre natürliche, ideale Ausdrucksform gefunden. Aber wieder blieb es bei dem einzelnen schimmernden Diamanten. Das 2008 erschienene dritte Album von Portishead übergehen wir hier mit Anerkennung, aber wenig Begeisterung und weisen statt dessen darauf hin, dass Rustin Man in der Zwischenzeit zwei recht feine Soloalben aufgenommen hat.

Für »Lives Outgrown«, ihr nominell erstes Soloalbum, hat Gibbons sich jetzt mit einem anderen ehemaligen Talk-Talk-Musiker zusammengetan, dem Schlagzeuger Lee Harris. Mit Rustin Man sind auch die großen Streicherarrangements verschwunden, »Lives Outgrown« ist wesentlich karger als »Out of Season«, introspektiver und in gewisser Weise »ländlicher«. Ein Beth-Gibbons-Album im Sommer zu veröffentlichen ist eigentlich strategisch hanebüchen: Kaum etwas evoziert den Herbst mehr als die Stimme der 59jährigen. Auch thematisch ist das Album herbstlich. Die späte Mitte des Lebens ist gekennzeichnet von Abschieden. Von älteren Familienmitgliedern, von Freunden, deren Leben viel zu kurz war, von der eigenen Gesundheit, von dem jugendlichen Glauben an die eigene Unverwundbarkeit, von dem Glauben an eine sich endlos ausdehnende, gestaltbare Zukunft.

Diesen Gedanken hat Gibbons zusammen mit Lee und dem hier sehr behutsam agierenden Produzenten James Ford (Arctic Monkeys) ein kongeniales akustisches Setting geschaffen. Die Perkussionselemente sind zurückhaltend in die Arrangements eingewoben, eher integraler musikalischer Bestandteil denn Rhythmusgeber. Mit minimalen Mitteln wird ein Maximum an atmosphärischer Wirkung erzielt. Gitarre, sparsame Streicher, Blockflöten und vor allem diverse Klänge nicht genau definierbarer Herkunft. Zehn Jahre haben die Musiker an »Lives Outgrown« gearbeitet und immer wieder nach Klängen gesucht, die ihnen noch nicht ausgelutscht schienen. Vermutlich gibt es kaum einen physischen Gegenstand, den sie nicht auf Brauchbarkeit überprüft haben. In keinem Augenblick geht es allerdings um einen Novelty Effect. Es geht vielmehr darum, dass an jeder Stelle die wenigen Klänge eben auch genau die richtigen Klänge sind.

Das beste Soundkonzept – und dieses ist in der Tat beeindruckend – ist ohne gute Songs wenig wert. Die Stücke, die Gibbons für »Lives Outgrown« geschrieben hat, sind aber genauso hervorragend wie die auf »Out of Season«, und alles andere wäre auch eine große Überraschung gewesen. Wenn Beth Gibbons ein Album für fertig hält, was selten genug der Fall ist, dann stimmt auch alles daran. »Lives Outgrown« ist ein subtiles Meisterwerk in Rostbraun, mit Songs, die langsam kommen und einen nie wieder verlassen, wenn man sie an sich heranlässt.

Beth Gibbons: »Lives Outgrown« (Domino/Good to Go)

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