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Aus: Ausgabe vom 07.06.2024, Seite 12 / Thema
Fiktion und Propaganda

Softpower vom Bosporus

Türkische Serien sind beliebt. Die Regierung Erdoğan nutzt sie auch zur Verbreitung ihrer Sichtweisen
Von Emre Şahin
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Kulturelle Hegemonie erzeugen und zugleich einen Exportschlager schaffen. Der türkische Präsident Erdoğan 2015 am Set der Serie »Diriliş Ertuğrul«, die vom Leben des Vaters des osmanischen Reichsgründers Osman Gazi handelt und eine geschichtspolitisch frisierte Darstellung der Osmanen präsentiert

Es ist ein Ritual in der Türkei: Abends, wenn die ganze Familie zu Hause ist, wird der Tee gekocht, die Sonnenblumenkerne werden herausgeholt, wird die Familienserie eingeschaltet. Was hierzulande wahrscheinlich wenig bekannt ist: Die Türkei ist ein serienverrücktes Land und steht weltweit hinter den USA und Großbritannien an dritter Stelle, was den Export von Serien betrifft. Der Hype um südkoreanische Produktionen ist seit einiger Zeit offensichtlich – »Squid Game« oder der Film »Parasite« waren in aller Munde – doch gerade im Vergleich mit ihnen wird der Erfolg türkischer Shows noch deutlicher: Während die weltweite Nachfrage nach südkoreanischen Produktionen zwischen 2020 und 2023 um 73 Prozent gestiegen ist, legte die nach türkischen um 184 Prozent zu. Am beliebtesten sind sie in den Regionen West- und Zentralasien, Nordafrika, Südosteuropa und Lateinamerika. Die drei größten Importeure sind aktuell Spanien, Saudi-Arabien und Ägypten.

Laut einem 2020 erschienen Bericht der TV Audience Research Company (TİAK) verbringen die Menschen in der Türkei pro Tag durchschnittlich vier Stunden und 33 Minuten vor dem Fernseher. Alle großen Sender zeigen sieben Tage die Woche zur Primetime »Dizi«, wie Serien auf türkisch genannt werden. Von Dramen über Komödien bis hin zu Krimis und historischen Serien ist alles dabei, nur Science-Fiction nicht. Als Zuschauer muss man mindestens zwei Stunden mitbringen, oft auch mehr, und man kann von Glück sprechen, wenn es nur alle 20 Minuten zu einer Werbepause kommt, je nach Beliebtheit. Die Werbeplätze der Topserien sind ähnlich umkämpft wie jene in der Halbzeitpause beim US-Super-Bowl.

Das Gute siegt

Begonnen hat der türkische Serienerfolg im Ausland im Jahr 2008, als der panarabische Medienkonzern Middle East Broadcasting Center das Drama »Gümüş« (arabisch: Nour) ausstrahlte. In der Türkei eher ein Flop, wurde die Serie in Westasien und Nordafrika ein großer Erfolg und brachte bis zu 85 Millionen Zuschauer vor den Fernseher. Die Geschichte ist wenig spektakulär: Gümüş ist eine Frau aus einfachen und konservativen Verhältnissen. Sie heiratet einen wohlhabenden und »modernen« Mann aus Istanbul; dieser unterstützt sie, so gut es geht, und am Ende wird sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Modedesignerin. Beliebt war die Serie wohl deshalb, weil sie eine muslimische Frau zeigt, die Familie und Karriere unter einen Hut bringt und dabei stets ihren romantischen Partner Mehmet an der Seite hat, der sie unterstützt. So beliebt die Serie in den arabischsprachigen Staaten war, so kontrovers wurde sie auch diskutiert, weil sie angeblich die Scheidungsraten in die Höhe trieb: Es hieß, die Frauen wollten sich nicht länger mit weniger als einem Partner wie Mehmet bzw. Mohanad, wie er in der arabischen Version genannt wurde, zufriedengeben.

Ein weiterer Meilenstein war das Jahr 2014. Damals kaufte der chilenische Kanal Mega die Rechte der Serie »1001 Nacht«. Die Story: Um die Behandlung der Leukämieerkrankung ihres Sohnes zu finanzieren, bittet eine Witwe ihren frauenverachtenden Chef um Geld. Als Gegenleistung verlangt dieser Sex. Am Ende verlieben sie sich ineinander. Bis zu ihrem Glück in Folge 178 braucht es allerdings, um es mit dem Economist zu sagen: »zwei gescheiterte Verlobungen, eine Scheidung, das Erscheinen nichtehelicher Kinder, eine durch giftigen Tee verursachte Fehlgeburt, ein paar Attentate und einen Selbstmord«. 2014 war »1001 Nacht« die meistgesehene Sendung in Chile. Der Sender Mega war in dem Jahr der einzige Kanal des Landes, der schwarze Zahlen schrieb. Vom Erfolg beeindruckt, zogen weitere Staaten der Region nach und importieren seitdem Jahr für Jahr zahlreiche türkische Produktionen.

Was macht diese Serien so beliebt – selbst in Ländern wie Armenien, die aufgrund des türkischen Genozids keine einfache Beziehung zur Türkei haben? Vermutlich sind es die kulturelle Nähe oder ähnliche Wertvorstellungen, die in Asien, Afrika und Südamerika geteilt werden. Mit Charakteren, die gesellschaftlichen Zwängen entfliehen und Herausforderungen bewältigen müssen, kann man sich in diesen Regionen wahrscheinlich mehr identifizieren als mit der x-ten US-Produktion mit Cameron Diaz oder Jonah Hill. Zudem gibt es wenig explizite sexuelle Szenen, die Serien können meist in gemütlicher Familienrunde geschaut werden. Sicherlich spielt in so manchen Regionen auch Exotismus eine Rolle, haben die Serien doch einen »orientalischen Flair«.

Die Handlungen folgen meist einem einfachen Muster. Familie spielt stets eine große Rolle. Dann gibt es natürlich zwei Liebende, sie dürfen nicht fehlen. Aber die Welt ist gegen sie, es gibt Hindernisse, mal ist eine von beiden Personen reich oder arm, mal ist die Familie gegen die Beziehung usw. Am Ende siegt das Gute jedoch immer über das Schlechte. Hinzu kommt, dass die Serien von hoher Qualität sind, über eigene Soundtracks verfügen und die historische Kulisse Istanbuls, wo die meisten von ihnen gedreht werden, gekonnt in Szene setzen. Während die mehrstündigen Folgen in der Türkei wöchentlich ausgestrahlt werden, können sie im Ausland in kurze Episoden geteilt und täglich ohne Unterbrechung gezeigt werden.

Wirtschaftlich lohnt sich das Geschäft für die Türkei auf jeden Fall. Es wird erwartet, dass der Export schon bald eine Milliarde US-Dollar einbringen soll. Auch der Tourismus profitiert: 2018 verzeichneten südamerikanische Reisebüros bei Trips in die Türkei einen Anstieg von 70 Prozent; viele Touristen besuchen gerne die Drehorte ihrer Lieblingsserien. Selbst Venezuelas Präsident Nicolás Maduro machte 2018 nach seinem Staatsbesuch einen Ausflug zum Drehort seiner Lieblingsserie »Diriliş Ertuğrul« (»Auferstehung Ertuğrul«). Tweets der US-Rapperin Cardi B gingen 2020 viral, als sie ihre Lieblingsserie »Muhteşem Yüzyıl« (»Das prächtige Jahrhundert«) kommentierte: Sie habe nach dem Tod der Figur Hürrem nicht schlafen können, sei untröstlich und hasse die Figur Nurbanu.

So erklärte der ehemalige türkische Europaminister Egemen Bağış 2013, die Serien hätten sich zum wirksamsten Soft-Power-Instrument der türkischen Außenpolitik entwickelt. Denn sie zeigen ein idealisiertes Bild des Landes, das vorgibt, Islam und bürgerliche Demokratie, Tradition und Moderne unter einen Hut gebracht zu haben. So schaffen sie ein international positives Image. Laut einer Studie des türkischen Yunus-Emre-Instituts, steigt dank der Serien sogar die Zahl der Türkischlernenden. Bei der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu war man 2017 zudem offenbar überglücklich, weil Neugeborene in Chile öfter Elif genannt wurden als Veronika.

Was diese Dramen in der Regel nicht zeigen, sind Menschen, die arbeiten. Die Hauptcharaktere sind häufig Holdingbesitzer und haben ein Haus am Bosporus. Als vor einigen Jahren die Adnan-Oktar-Sekte zerschlagen wurde, die stark in den Menschenhandel junger Frauen involviert war, kam heraus, dass sie – um die Frauen reinzulegen – als »Holdingmanager« getarnte Sektenmitglieder als Köder genutzt hatte. Sprich: Eine Person, wie aus dem Märchen, genauso perfekt, wie die Seriencharaktere auf den Bildschirmen. So viel zum Einfluss der Streifen.

Neoosmanische Propaganda

Allerdings produziert und exportiert die Türkei nicht nur Dramen, sondern auch ultranationalistische Serien, die mitunter gar für diplomatische Spannungen sorgen. Dazu gehört auch Maduros Lieblingsserie »Diriliş Ertuğrul«. Sie handelt vom Leben des Vaters des osmanischen Staatsgründers und Namensgebers Osman und war vor allem in muslimischen Ländern beliebt; allein in Pakistan kam die erste Folge auf 156 Millionen Klicks. Produziert hat die Serie der Staatssender TRT, dem eine geschönte Darstellung der Osmanen im Sinne der Geschichtspolitik von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğans am Herzen liegt.

In arabischsprachigen Staaten stieß die Serie indes auf wenig Gegenliebe, nimmt man dort die Osmanen doch zurecht als Besatzer wahr. Ägyptens höchste islamische Behörde warnte in einer Fatwa davor, türkische Serien zu schauen. Ankara versuche dadurch das Osmanische Reich wieder aufleben zu lassen, hieß es. Die emiratische Produktionsfirma Genomedia ließ als Antwort auf »Diriliş Ertuğrul« eine millionenschwere eigene Serie produzieren: »Kingdoms of Fire«. Sie schildert den Kampf des letzten ägyptischen Mamluken-Sultans gegen die osmanische Eroberung.

Ein weiteres türkisch-nationalistisches Flaggschiff ist die Film- und Serienreihe »Tal der Wölfe«, die eine Art filmische Revanche darstellt: Kurz nach dem Irak-Krieg verhaftete das US-Militär im Juli 2003 türkische Soldaten in Zivilkleidung und zog ihnen Säcke über den Kopf. Das ging als »Sackaffäre« in die Geschichte ein. Der Film »Tal der Wölfe – Irak« nimmt diesen Vorfall zum Anlass. Er beginnt mit dem Selbstmord eines entführten türkischen Soldaten, der in seinem Abschiedsbrief Rache fordert – ein Fall für den Helden der Serie, den Agenten Polat Alemdar. Tief berührt von dem Schicksal der Soldaten machen sich er und sein Team auf den Weg in den Irak, finden den für die Sackaffäre verantwortlichen US-Geheimdienstagenten Sam William Marshall und töten ihn mit einem Dolchstoß ins Herz. Die Ehre der Türkei ist wiederhergestellt. Zumindest im Film.

Das gleiche Vorgehen präsentiert die Serie mit Bezug auf die 2010 erfolgte Erstürmung der Gazahilfsflotte durch israelische Soldaten: Polat Alemdar und seine Leute rächen sich an dem für die Erstürmung verantwortlichen Kommandanten Moshe Ben-Eliezer. Dargestellte israelische Figuren sind in der Regel Kidnapper von türkischen Babys oder Menschen, die Muslimen im Irak ihre Organe stehlen. Die Serie lebt von Gewalt und Rache: In den ersten 55 Folgen kommen 411 Morde, 152 Verletzungen, 111 Schießereien, 110 Fälle von Folterung und drei Vergewaltigungen vor. In 76 Folgen gibt es 2.400 Leichen.

Innere und äußere Feinde

Trotz des Erfolgs werden die Serien in erster Linie nicht für den Export, sondern für den türkischen Inlandsmarkt produziert. Oft beinhalten sie eine Botschaft an die Bevölkerung. 2017 gestand Erdoğan ein: »Wir kontrollieren seit 14 Jahren ununterbrochen die politische Macht. Aber auf kultureller und sozialer Ebene haben wir da unsere Probleme.« Die Serien wurden von der Regierung als Mittel entdeckt, das zu ändern. Vor allem dem Staatssender TRT fällt eine besondere Rolle dabei zu, der ganz gleich ob Pandemie oder wirtschaftliche Flaute, im Unterschied zu Privatsendern niemals eine Produktionspause einlegt.

Es beginnt schon mit den Titeln der von ihr produzierten Serien: »Auferstehung Ertuğrul«, »Erwachen: Der große Seldschuke«. Auch die AKP nutzt in ihrem politischen Diskurs diese beiden Begriffe: Das Land sei nach Ende des Osmanischen Reichs nach einem hundertjährigen Schlaf dank der AKP wieder auferstanden, erwacht. Beim Schauen von »Diriliş Ertuğrul« wird man zudem feststellen, dass kürzlich gehaltene Reden Erdoğans in die Dialoge eingeflossen sind. Der Plot der Serien ist immer der gleiche: Eine Handvoll aufrechter Türken kämpft gegen eine nicht enden wollende Anzahl äußerer und innerer Feinde. Um mit ihnen fertig zu werden, gibt es nur eine Lösung: sich um den Führer scharen. So gibt es in den Serien weder Kritiker noch Oppositionelle, und wenn, dann handelt es sich nicht um Oppositionelle, sondern um Verräter mit bösen Absichten – ähnlich, wie im Diskurs der Regierung. Ständig fallen Begriffe wie »Nation« oder »Vaterland«, »Türke« sein wird glorifiziert, auch in »Diriliş Ertuğrul«: Ertuğrul ist bereit für einen Staat zu sterben, den es während der gespielten Zeit noch gar nicht gegeben hat. Leider bleiben auch Kinder von dieser Form der Indoktrinierung nicht verschont. Längst gibt es Zeichentrickserien wie »Çanakkale Geçilmez« (»Çanakkale ist unpassierbar«), die ihnen die Schlacht von Gallipoli während des Ersten Weltkriegs und den »Märtyrertod« näherbringen sollen.

Ein anderes Beispiel ist »Teşkilat« (»Organisation«), ebenfalls bei TRT erschienen, eine Serie, bei der es um den türkischen Nachrichtendienst geht. In der zehnten Folge soll die Syrien-Politik der Regierung legitimiert werden: Ein junger Mitarbeiter fragt in die Runde: »Was haben wir in Syrien zu suchen?« Daraufhin stürzen sich seine Kollegen auf ihn: Einer antwortet, er sei »angewidert« von dieser Frage. »Was macht Italien in Syrien? Was macht Frankreich? Was machen die Amerikaner, die Russen und sogar die Chinesen? Kommt es dir in den Sinn, diese Fragen zu stellen?« Ein weiterer Mitarbeiter erklärt das »große Ganze« (»viele terroristische Organisationen«). Eine antwortet, Syrien verfüge über die reichsten Ölvorkommen der Welt und diese würden seit Jahren ausgebeutet, während das Volk durstig, hungrig und im Elend lebe. Es gehe darum, an der Seite der Unterdrückten zu stehen. Das Ausrufezeichen des Gesprächs setzt ein: »Der Ort, den du Syrien nennst, war vor 100 Jahren noch Teil unseres Heimatlandes.«

Für die Kommunalwahlen am 31. März 2024 hatte sich die Regierung einen ganz besonderen Coup ausgedacht: Auf TRT startete im gleichen Monat die Serie »Mehmed: Fetihler Sultanı« (»Mehmed: Sultan der Eroberungen«). Thema ist die Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen. Die Botschaft ist klar: Die Byzantiner von damals entsprechen der in Istanbul regierenden Oppositionspartei CHP. Es sollte indes nichts bringen, die Eroberer von der AKP verloren in Istanbul deutlich.

Klischees über Kurden

Selbstverständlich kommen auch die Kurden in diesen Serien nicht gut weg. Sie sind in etwa das, was Russen in US-amerikanischen Produktionen sind. In der Regel haben sie böse Absichten, werden als rückständig dargestellt und sind ausschließlich dem eigenen Clan gegenüber verpflichtet. Wenn sie nicht gleich »Terroristen« sind, sind sie als Schmuggler tätig oder verdienen ihr Geld auf andere illegale Weise, und sie greifen sehr oft zur Waffe. Während in den kurdischen Gebieten der Türkei Wahl für Wahl links gewählt wird, die Bevölkerung stark politisiert ist, wird den Zuschauern Tag für Tag ein verfälschtes Bild der Region gezeigt.

In »Tal der Wölfe« erschießen kurdische Guerillakämpfer unschuldige Menschen während einer Busreise. Eine der kurdischen Figuren, genannt Muro, beklagt beständig das Leiden seines Volkes, und ist gleichzeitig in illegale Geschäfte verstrickt, was heißen soll, kurdische Patrioten haben Dreck am Stecken. Eine andere Figur, Zaza Dede (der Name kommt vom kurdischen Dialekt Zazaki), leitet einen Verbrecherring. So wird in der Serie ein ganzes Volk diskreditiert. Werden diese Serien exportiert, globalisiert sich der Hass auf Kurden.

Ähnliche Darstellungen finden sich auch in Netflix-Produktionen. In der besonders erfolgreichen Serie »Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul« kämpft eine der Hauptfiguren mit den Folgen einer Vergewaltigung – der Täter ist ein Kurde. In einer anderen Szene wird eine halbwegs normale kurdische Familie gezeigt, die ein bettlägeriges Kind hat. Als sich sein Zustand verschlechtert, singt und tanzt die Familie, um das Kind aufzumuntern. Was in der Serie als heiteres Lied herüberkommt, ist die Totenklage »Malan Barkir« über den Genozid in der kurdischen Provinz Dersim 1938. Allein dieser Fehlgriff zeigt, wie fremd die Kurden der türkischen Bevölkerungsmehrheit sind.

Auch im einzigen kurdischsprachigen Sender des Landes, dem staatlichen TRT Kurdî, ist die Regierung nicht untätig. In der Serie »Pîvaz« beginnen Familien vor der Parteizentrale der prokurdischen Partei HDP zu protestieren, weil ihre Kinder von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in die Berge verschleppt worden sein sollen (es werden keine Namen genannt, doch es ist klar, wer gemeint ist). Die in der Serie dargestellten Parteifunktionäre bedrohen daraufhin die Familien: »Wenn ihr hier nicht weggeht, werden wir weder euch noch euren Kindern Ruhe geben. (…) Was wollt ihr tun, wenn ich eine Bombe in euer Haus lege und sie explodiert?«

In einer anderen Szene laden Parteifunktionäre einen Bürger zu einer Kundgebung ein. Dieser antwortet, er werde nicht kommen und auch nicht länger für sie stimmen. Daraufhin die Parteifunktionäre: »Was? Du willst also nicht für uns stimmen? (…) Hast du schon einmal darüber nachgedacht, was passiert, wenn du nicht für uns stimmst?« Vor der Kundgebung wird der Bürgermeister gefragt, ob er seine Rede vorbereitet hat. »Ist das nötig?!«, lautet seine Antwort. »Unsere Leute vertrauen uns, sie wählen uns so oder so, ich bin mir sicher, dass sie alles glauben werden, was wir ihnen sagen.«

Schlechte Arbeitsbedingungen

Werfen wir einen Blick hinter die Kamera. Die Arbeitsbedingungen am Set sind katastrophal. Mangels Sicherheitsvorkehrungen kommt es nicht selten zu Todesfällen. Hinzu kommen die langen Arbeitszeiten, oft wird nachts gedreht. Es herrscht permanenter Druck, die zweistündigen Serien abzudrehen und die Deadlines einzuhalten. Offiziell darf man am Set bis zu 14 Stunden arbeiten, doch die Beschäftigten schuften oft mehr, so viele Stunden wie eben nötig, bis die Arbeit abgeschlossen ist. Das Lohngefälle zwischen ihnen und den »Schauspielstars« ist riesig. Was grundsätzlich ihre Lage verbessern würde, wäre eine Kürzung der Folgenlängen. Dann gäbe es weniger Druck und weniger Unfälle. Die Serien werden nämlich immer länger, um noch eine und noch eine Werbepause bringen zu können. Dabei sind sie jetzt schon genauso lang, wie ein Spielfilm, mit dem Unterschied, dass sie für eine sonst Monate erfordernde Arbeit nur wenige Tage zur Verfügung haben. Verachtung, Respektlosigkeit, Gefühlslosigkeit sind die Normen in der Branche: 2019 starb der Maler Hasan Karatay beim Set der Netflix-Serie »Atiye«, doch die Dreharbeiten wurden fortgesetzt, als sei nichts passiert.

Während der Pandemie stieg die Suizidrate in der Filmindustrie. Vergangenes Jahr nahmen sich die Schauspielerinnen Merve Kayaalp und Seda Fettahoğlu das Leben, was die Situation der Frauen in den Fokus gerückt hat. Sie haben es in der Branche nicht leicht. Abhängigkeiten, sexualisierte Gewalt und der Druck als Person des öffentlichen Lebens inmitten einer konservativen Gesellschaft. Jeder Fehltritt kann einen Shitstorm über sie bringen. Von ihnen wird ein bestimmtes Verhalten erwartet sowie einem bestimmten Schönheitsbild zu entsprechen.

Auch in puncto Kinderarbeit fällt die Branche negativ auf, das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie erlaubt sie sogar: Demnach dürfen ab drei Monate alte Babys am Set beschäftigt werden. Kinder an Sets gibt es zuhauf, Pädagogen, die sich um sie kümmern, sie begleiten, sie vor jeglicher Art von Missbrauch schützen, sind Fehlanzeige. Leider billigen Familien dieses System, oft besessen von dem Ziel, dass es ihr Kind ins Fernsehen schafft. Sie schleppen die Kinder von Vorsprechen zu Vorsprechen. Werden sie oder andere Personen das erste Mal durch eine der mehr als 7.000 Castingagenturen des Landes weitervermittelt und haben einen Auftritt in einer Serie, werten die Agenturen dies als »Praktikum«. Obwohl die Produktionsfirmen die Agenturen für die geleistete Arbeit bezahlen, wird das Geld einbehalten. Durch die Anmeldegebühr, die in der Höhe stark variieren kann, zahlen die Schauspielaspiranten oder die Familien sogar noch drauf. Eine durch und durch ungesunde Branche.

Emre Şahin war bis 2022 Redakteur der Tageszeitung junge Welt.

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