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Aus: Ausgabe vom 08.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Was kaum einer zu schreiben wagte

Genialischer Einzelkämpfer: Christof Meuelers Biographie des großen Polemikers Wiglaf Droste
Von Peter Köhler
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Frisch vom Fass, der Klassenhass: Wiglaf Droste

»Mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt – was jeder andre in einem Buche nicht sagt«, bekannte der philosophische Einzelgänger Friedrich Nietzsche 1889 in der »Götzen-Dämmerung«. Der publizistische Einzelkämpfer Wiglaf Droste war, ziemlich genau 100 Jahre später, ähnlich ehrgeizig und stilbewusst. Zwar nicht in zehn Sätzen wie der bis heute umstrit­tene Aphoristiker, aber in Aberhunderten Polemiken, die in drei, vier Minuten gelesen sind, schrieb er, was kaum ein andrer zu schreiben wagte – was kaum ein andrer zu denken wagte.

Der Feldzug dieses genialischen Linksdenkers richtete sich nämlich nicht nur gegen konservative und reaktio­näre Künstler und Politiker, sondern auch gegen ein alternativ drapiertes, sich links dünkendes Milieu, das kritischen Geist durch bornierte Moral ersetzte und dem die klebrige Gemeinschaft (der »Kiez« füllte die Stelle aus, die bei den Rechten mit »Deutschland« besetzt war) wichtiger war als das eigenständige Denken eines selbstbewussten Individuums – das dennoch irgendwie Teil der linksalternativen Szene entflohener Bürgerkinder blieb.

Solche Widersprüche prägten Wiglafs unfassbar reiches Leben und Schaffen, wie die sorgfältig recherchierte Biographie des langjährigen junge Welt- und heute ND-Feuilletonleiters Christof Meueler anschaulich vor Augen führt. Dass weder er selbst noch die Kollegen und Weggefährten, weder die Kumpels aus der Jugendzeit noch die bemerkenswert vielen Geliebten, die ausführlich zu Wort kommen, das Rätsel lösen können, das Rätsel: Wie wird einer, was er ist?, das ist gleichermaßen Manko und Vorzug dieser Lebensbeschreibung, weil es die Einzigartigkeit dieses angriffslustigen und zugleich empfindsamen Polemikers, Kolumnisten, Erzählers, Lyrikers, Liedtexters und Sängers ebenso bezeugt wie die Unplanbarkeit eines Lebens, da mögen Elternhaus, Schule, Milieu usw. noch so viel wollen bzw. können.

Sicher, da ist der übermächtige Vater, von dem sich der 17jährige befreit, indem er noch vor dem Abitur von zu ­Hause auszieht; zugleich scheint der Sohn den Ehrgeiz, das Durchsetzungsvermögen, den Dickkopf des Familienpatriarchen geerbt zu haben. Sicher, da ist das heimatliche Ostwestfalen mit dem Zentrum Bielefeld, das in den späten 1970ern ein Hotspot kritischer und satirischer Talente war, der den späteren Titanic-Chefredakteur Hans Zippert und Satiriker wie Christian Y. Schmidt oder Fritz Tietz hervorbringt. Last but not least die gesellschaftlichen Zustände zehn, zwölf Jahre nach 1968: »Die Revolte war hinüber, die RAF gescheitert, die K-Gruppen waren am Ende und die Autonomen vermummte Hippies«, umreißt Meueler die allgemeine Lage, in der der 1961 geborene Droste schon als Gymnasiast zu schreiben begann.

Und doch bleibt ein großer Rest, denn wären Erbteil und Umgebung alles, ­hätte es unzählige Drostes geben müssen. Droste aber war eben nicht nur Teil einer Bewegung, die unzählige trugen, sondern zugleich der Außenseiter, der in Zeitungen und Zeitschriften – nicht zuletzt dieser Zeitung, deren »Hausdichter« er ab 2010 war –, auf Lesebühnen, im Radio und in Büchern, für die er regelmäßig das Beste eines oder zweier Jahre auswählte, die Widersprüche in seiner eigenen, nonkonformistischen Lebenswelt scharfsinnig und witzig, einfallsreich und mit Liebe zum originellen, gelegentlich ostwestfälischen Wort ausleuchtete.

»Wullacken« ist ein solches Wort, was »schuften, hart arbeiten« bedeutet. Droste wullackte bis fast zum Schluss und war, wie Meueler ihn treffend beschreibt, »eine hochproduktive Ein-Personen-Fabrik«, zugleich eine hochexplosive Persönlichkeit, mit der nicht leicht auszukommen war. Erst gegen Ende seines Lebens, als die gesundheitlichen Folgen seines exzessiven Lebens – auf den Begriff gebracht: das Trinken – schlecht und dann gar nicht mehr kurierbar waren, mischen sich vor allem in der Lyrik zarte Töne unter die harten, wich die Aggression öfter der Melancholie; und als er in Oberfranken, im Haus einer alten Freundin, auf dem Sterbebett lag, freute er sich an der Natur: »Die Küche duftet, im Jalousienkasten piepen die jungen Meisen, und morgens weckt mich Amselgesang«, schrieb er eine Woche vor seinem Tod. Am 15. Mai 2019 starb Wiglaf Droste. Das ist fünf Jahre her, und kein Nachfolger konnte bis heute seine Stelle in der deutschen Publizistik und Literatur einnehmen. Wie auch!

Christof Meueler: Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste. Eine Biografie. Edition Tiamat, Berlin 2024, 304 Seiten, 30 Euro

Am 27. Juni stellt der Autor sein Buch im Gespräch mit jW-Feuilletonleiter Peter Merg vor: Maigalerie, Torstraße 6, 10119 Berlin, Beginn: 19.30 Uhr, Eintritt: 10 Euro (ermäßigt 5 Euro)

Mit der Bitte um Voranmeldung unter 0 30 / 53 63 55 - 54 oder unter maigalerie@jungewelt.de

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