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Aus: Ausgabe vom 08.06.2024, Seite 12 / Thema
Staatskontrolle

Fortgesetzte Gesinnungsschnüffelei

Erinnerungen an den »Radikalenerlass« werden wach. In Branden­burg wurde ein »Verfassungstreuecheck« verabschiedet. Weitere Bundesländer eifern nach
Von Martin Hornung
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Nicht rehabilitiert, erleben Betroffene des sogenannten Radikalenerlasses nun erneute Maßnahmen des Staates zur Gesinnungsprüfung seiner Bürger (Kundgebung in Stuttgart, Dezember 2014)

Die brandenburgische Landesregierung hat die großen Demonstrationen gegen rechts in diesem Frühjahr für ihre Zwecke genutzt: Nach fünf Jahren Anlauf ließ sie am 26. April 2024 endgültig einen »Verfassungstreuecheck« für Beamtinnen und Beamte vom Landtag verabschieden. Damit gibt es nun 52 Jahre nach dem ersten einen »Radikalenerlass 2.0« – und zwar in der verschärften Form eines Gesetzes. Der Potsdamer »Durchbruch« soll auch Vorreiter für andere Bundesländer werden.

Am 20. März hatte die Koalition von CDU, Bündnis 90/Grünen und SPD in Sachsen bereits ein »Gesetz zur Verfassungstreue« durch den Landtag gebracht. Dort erfolgt jetzt bei Einstellungen in den Polizei- und Justizvollzugsdienst eine Prüfung per »Regelabfrage beim Verfassungsschutz«, ob die Betreffenden »auf dem Boden der Verfassung stehen«.

Fortsetzung im »Ländle«?

Bei früheren Betroffenen von »Radikalenerlass« und Berufsverbot weckt dies Erinnerungen. Beispiel Baden-Württemberg: Dort hatte die Landesregierung am 2. Oktober 1973 den »Schiess-Erlass« in Kraft gesetzt. Innenminister war damals Karl Schiess (aus der Zeit vor 1945 auch als »Hakenkreuz-Karle« bekannt). Der nach ihm benannte Erlass stellte eine besonders scharfe Variante des 1972 auf Bundesebene ergangenen »Radikalenerlasses« dar.

Oliver Hildenbrand, heute stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Landtagsfraktion, hatte sich 2013 als damaliger Landesvorsitzender der Grünen noch vehement gegen »Gesinnungsschnüffelei«, die Einführung von »Verfassungstreuefragebögen« und eine »Regelanfrage beim Verfassungsschutz« im Polizeidienst gewandt. Vor dem Hintergrund der Vorgänge in Brandenburg ließ er sich am 7. April 2024 von der Stuttgarter Zeitung folgendermaßen zitieren: »Vor der Einstellung (…) soll künftig ein ›verdachtsunabhängiges Prüfverfahren‹ zum Einsatz kommen – die Regelanfrage beim Verfassungsschutz. Als ›zusätzlicher Baustein‹ im Auswahlverfahren tauge der ›Verfassungstreuecheck‹.« Dabei sprach er von »Einstellungen in den Polizeidienst« und »Rechtsextremismus«. Die Reaktion des Sprechers des CDU-geführten Innenministeriums fiel »reserviert« aus: »Eine Regelanfrage sei nicht geplant. Minister Thomas Strobl gehe streng gegen Rechtsextremismus vor.« Grünen-Landtagsabgeordnete zeigten sich auf Nachfrage »völlig überrascht« vom Vorstoß Hildenbrands. Widersprochen haben ihm Verantwortliche der Partei öffentlich allerdings nicht.

Auch der Kommentator der Stuttgarter Zeitung fühlte sich bei Hildenbrands Äußerungen an den »Radikalenerlass« erinnert. Bei allen, die sich für den öffentlichen Dienst bewarben, wurde bis in die 1980er Jahre eine »Regelanfrage« beim Inlandsgeheimdienst alias »Verfassungsschutz« vorgenommen. Bundesweit wurden damals offiziell 1.515 Linke nicht eingestellt bzw. entlassen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 1995 in einem Urteil festgestellt, dass damit rechtswidrig Grundrechte missachtet wurden. Auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat die Berufsverbote 1986 als Verstoß gegen Grundnormen des internationalen Arbeitsrechts verurteilt.

Die Betroffenen kämpfen bis heute um Rehabilitierung und Entschädigung. In Bremen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin konnten von 2012 bis 2021 zumindest Beschlüsse erreicht werden, in denen die Landesparlamente die Betroffenen um »Entschuldigung« gebeten haben. In Baden-Württemberg werden sie vor allem von Regierungschef Winfried Kretschmann ausgebremst, der in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre als Lehrer zeitweilig selbst vom Berufsverbot betroffen war.

Im Mai 2022 ist eine von der Stuttgarter Landesregierung auf Druck der Betroffenen eingeleitete Forschungsstudie der Universität Heidelberg zum »Radikalenerlass« erschienen. Nach darin zitierten Zahlen des Innenministeriums soll es in Baden-Württemberg von 1973 bis Mitte der 1980er Jahre offiziell 222 Nichteinstellungen und 66 Entlassungen gegeben haben. Wie untertrieben dies ist und wie hoch die Dunkelziffer sein muss, belegen von Betroffenen selbst vorgenommene Recherchen: Beispielsweise sind in der Rhein-Neckar-Region (Heidelberg, Mannheim und Umgebung) anhand von Namen und Unterlagen allein 181 Berufsverbote nachweisbar. (Berufsverbote gegen Rechte wurden nur zwei verhängt, in beiden Fällen NPD-Mitglieder; im ersten war die Nichteinstellung nur zeitweilig, im zweiten musste aufgrund einer Verurteilung zu fünf Jahren Gefängnis wegen Volksverhetzung und Holocaustleugnung die Entlassung erfolgen.)

Da in der genannten Studie auf 684 Seiten detailliert dokumentiert ist, dass die Berufsverbote gegen Linke allesamt rechtswidrig waren, wird eine Behandlung der Forschungsarbeit im Landtag bis heute verweigert. Nach einer Kundgebung gegenüber dem Landtag im Herbst 2022 sah sich der Ministerpräsident gezwungen, am 8. Februar 2023 eine Delegation von 19 Betroffenen ins Staatsministerium zu einem Gesprächstermin einzuladen. Zwar wirkte er nach eineinhalb Stunden im »Gobelinsaal« seiner Dienstvilla »Reitzenstein« laut Presse »etwas zerknirscht«, blieb aber bei seiner Ablehnung der Forderungen nach Rehabilitierung und Entschädigung. Dies könne nur durch individuelle Klagen vor Gericht durchgesetzt werden, ein »Gnadenrecht« lehne er ab.

Braune Wurzeln

Die Vorgeschichte des neuen Brandenburger Gesetzes reicht von 1933 bis 1990. Auch das Potsdamer »Radikalengesetz« zielt auf »Extremisten« und angebliche »Verfassungsfeinde«, ein politischer Kampfbegriff, den es rechtlich nicht gibt. Erfunden wurde er in den 1930er Jahren von Kronjuristen der Nazis, die später wie Willi Geiger (siehe unten) zum Teil ihr Unheil noch am Bundesverfassungsgericht weiter treiben konnten.

Die Grundlagen der Berufsverbote liegen im bundesdeutschen Beamtenrecht und der darin enthaltenen »Treuepflicht«. Danach darf im Staatsdienst nur beschäftigt werden, wer die sogenannte Gewährbieteklausel erfüllt, »jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten« – wobei die Beweislast bei den Beschäftigten liegt. Die Wurzeln der Formulierung sind braun und fast wörtlich aus dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 übernommen. Bei den Nazis mussten »Staatsdiener die Gewähr bieten, jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten«.

Schon fünf Jahre nach der Befreiung vom Faschismus erging in der Bundesrepublik im September 1950 der »Adenauer-Erlass«, die Säuberung des öffentlichen Dienstes von Kommunistinnen und Kommunisten sowie Antifaschistinnen und Antifaschisten. Er traf hauptsächlich Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeiter bei den Ländern und Gemeinden. Ihm folgten das KPD-Verbot (1956), der »Radikalenerlass« (1972) gegen Beamtinnen und Beamte und andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst und 1990 die »Abwicklung« von ehemaligen Staatsbediensteten der DDR. Weder das KPD-Verbot noch der »Radikalenerlass« sind bis heute offiziell aufgehoben. Beamte ohne Streikrecht und mit eingeschränkter Meinungs- und Organisationsfreiheit – das ist im internationalen Vergleich unter »liberalen Rechtsstaaten« einmalig.

Fünf Mitglieder des Parlamentarischen Rats zur Erarbeitung des Grundgesetzes – Hannsheinz Bauer, Georg Diederichs, Fritz Eberhard, Karl Kuhn und Elisabeth Seibert – haben am 18. März 1982 eine »Erklärung nach zehn Jahren Berufsverbotspraxis« herausgegeben: »Wir ehemaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rats, die wir am 23. Mai 1949 das von uns erarbeitete Grundgesetz unterzeichnet haben, sehen in der Berufsverbotepraxis, wie sie durch den sogenannten Radikalenerlass vom 28.1.1972 ausgelöst wurde – auch nach den inzwischen erfolgten Korrekturen – eine Gefahr für die von uns gewollte freiheitlich-demokratische Grundordnung.«

Aus Sicht der in den 1970er und 80er Jahren Betroffenen hat der Brandenburger »Durchbruch« eine besondere Note. Der »Vater« des »Verfassungstreuechecks«, Innenminister Michael Stübgen (CDU), ist 2024 gleichzeitig Vorsitzender der Innenministerkonferenz. Die empfahl den Ländern bereits 2019, Maßnahmen gegen den wachsenden »Extremismus« zu ergreifen, insbesondere den »Rechtsextremismus«.

Stübgen brachte darauf im Sommer 2022 den Entwurf eines »Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes des Berufsbeamtentums in Brandenburg vor Verfassungsgegnern« erstmals im Landtag ein. Dessen Kern: Regelanfrage beim »Verfassungsschutz« bei Einstellungen von Beamtinnen und Beamten hinsichtlich ihrer »Verfassungstreue«. Im März 2024 wurde der Entwurf kurzfristig durch einen »Ergänzungsantrag« mit drastischen Verschärfungen auch im Disziplinarrecht des Landes erweitert.

Zuvor hatte der Bundestag am 17. November 2023 auf Betreiben von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) das Disziplinargesetz für Beamtinnen und Beamte des Bundes eklatant verschärft. Danach können Bundesbehörden seit dem 1. April 2024 sämtliche Disziplinarmaßnahmen, einschließlich Zurückstufung, Entfernung aus dem Beamtenverhältnis und Aberkennung des Ruhegehalts, durch bloße »Disziplinarverfügung« vornehmen. Bisher musste der jeweilige »Dienstherr« Disziplinarklage vor dem Verwaltungsgericht erheben und ein entsprechendes Urteil ergangen sein.

Unter Verweis auf diese Änderungen und auf das »Vorbild« Baden-Württembergs, wo bereits seit 2008 eine ähnliche Regelung besteht, nahmen Stübgen und die Brandenburger Regierungskoalition am 6. März 2024 in ihren »Verfassungstreuecheck«-Gesetzentwurf die »Disziplinarverfügung« als »Ergänzung« mit auf. Am 26. April 2024 wurde schließlich über die 204 Seiten Gesetzestext, Begründung, Berichte, Zusatzantrag und Beschlussempfehlungen abgestimmt. Ein größerer Teil der Unterlagen war erst Tage zuvor ausgegeben und das gesamte Paket vom Landtag am 24. April nochmals in den Hauptausschuss überwiesen worden. Dort wurden alle Änderungsanträge der Fraktion Die Linke abgeschmettert. Nachgeschoben und in der dritten Lesung mit verabschiedet wurde lediglich ein Zusatzantrag der Koalition: Um »Probleme bei der Rechtsanwendung« zu vermeiden, wurde der »Innenminister aufgefordert, ein Rundschreiben mit Anwendungshinweisen für die Dienstherren« zu erlassen; zum Beispiel, was die »Berücksichtigung der Unschuldsvermutung« und »Fürsorgepflicht« oder die »Prüfung eines Rehabilitierungs-Programms« angehe. In der Endabstimmung vom 26. April wurde das Gesetz in namentlicher Abstimmung mit 42 zu 24 Stimmen abgesegnet.

»Rechtsstaat« passé

Die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verbände wie DGB, Beamtenbund, Richterbund und Städtetag hatten ihren Widerstand gegen den ursprünglichen »Verfassungstreuecheck« bei Einstellungen schon einige Zeit zuvor aufgegeben. Nun wurden sie zu den nachgeschobenen Verschärfungen im Landesdisziplinargesetz nicht einmal angehört und durften nur noch schriftlich Stellung nehmen. Am Tag vor der Landtagssitzung platzte den Gewerkschaften der Kragen. In einer Art Brandbrief teilten DGB, GEW, Verdi, GdP und DBB den Abgeordneten mit: »Die Gewerkschaften im DGB sowie DBB kritisieren scharf die Art und Weise des Einbringens dieser erheblichen Änderungen im Disziplinarrecht im sogenannten Omnibusverfahren (Huckepackgesetz). Mit der Zurückstufung bzw. Entfernung aus dem Beamtenverhältnis per Disziplinarverfügung wird der Schutz der Unabhängigkeit der Beamtinnen und Beamten vor politisch geprägten Einflussnahmen auf ihr Handeln geschwächt. Eine Änderung des Disziplinarrechts sollte einem demokratisch geführten Verfahren unter Einbeziehung von Verwaltung und Gewerkschaften vorbehalten bleiben.« Die Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg sagte der Presse am 24. April: So »verkommt parlamentarische Partizipation zum Feigenblatt«.

Die Fraktion Die Linke hatte in der Landtagssitzung neben einer dritten Lesung auch eine nochmalige mündliche Anhörung der Verbände gefordert. Beamtinnen und Beamte würden »schlechtergestellt als ›normale‹ Angestellte im Kündigungsverfahren«. Der Rechtsweg werde beschränkt, da bei Entscheidungen der obersten Dienstbehörde ein Widerspruchsverfahren nicht stattfinde. Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts sei ebenfalls nur möglich, wenn sie vom Verwaltungsgericht oder dem Oberverwaltungsgericht zugelassen werde. Das »gesamte Prozessrisiko« sei somit »auf die Betroffenen verlagert«. Durch die Abschaffung des Richtervorbehalts würden laut der Linksfraktion außerdem »bei Disziplinarverfahren Dienstherren, auch mögliche AfD-Landräte und -Bürgermeister, ermächtigt, Menschen direkt zu entlassen«.

Die AfD halluzinierte, das Gesetz sei ein »Zurück zur DDR 2.0«. Ihre Ankündigung, es durch Klage vor dem Landesverfassungsgericht überprüfen zu lassen, kommentierte Stübgen: Er begrüße dies ebenfalls, weil dadurch Klarheit geschaffen werde. Auch für eine solche mögliche »Arbeitsteilung« gibt es ein historisches Vorbild: Der am 22. Mai 1975 ergangene Grundsatzbeschluss des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts zum »Radikalenerlass«, federführend verfasst von dem früheren Nazijuristen Willi Geiger, diente danach als Rechtfertigung und Vorlage für eine Ausweitung der Berufsverbote.

Gegen Linke

Stübgen will Brandenburg offensichtlich zum Vorreiter für andere Bundesländer machen. Sein Text ist im Wortlaut weitgehend von den Erlassen der 1970er Jahre abgeschrieben. Trotzdem behauptet er, die neue Regelung habe »nichts mit dem Radikalenerlass zu tun«. Es gehe hier um ein »Gesetz«, das »bundesweit bisher einmalig« sei. Auch die »Brandenburger Vereinigte Bürgerbewegungen (BVB)/Freie Wähler«-Gruppe stimmten dafür, weil nun die Tür offen sei, diese Maßnahmen auch auf den gesamten öffentlichen Dienst auszuweiten – was geltendem Arbeitsrecht für Angestellte sowie Arbeiterinnen und Arbeitern völlig widerspräche.

Die offizielle Sprachregelung, gegen wen sich das neue »Radikalengesetz« und drohende Kopien in anderen Bundesländern richtet, lautet: »gegen Extremisten jeglicher Couleur« und »Verfassungsfeinde«. Stübgen, Strobl, Faeser und Co. lassen dabei keine Gelegenheit aus, davor zu warnen, sich »nur auf ›Rechtsextremisten‹ zu konzentrieren« und den »Linksextremismus zu unterschätzen«. Solche Fälle wie die von Stübgen stets angeführte Berliner Exrichterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkelmann (nach einer Razzia gegen »Reichsbürger« derzeit inhaftiert) oder der ehemalige Freiburger Staatsanwalt und Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz (im März aus der AfD ausgetreten, bekannt durch Hetze, Barack Obama und Geflüchtete seien »Quotenneger«) werden eher die Ausnahme bleiben.

Betroffene des früheren »Radikalenerlasses« verweisen auf die damalige Praxis. Auch nach der zitierten Studie in Baden-Württemberg sei der Erlass zu über 95 Prozent gegen Linke angewandt worden. Heute seien Proteste gegen Aufrüstung und Kriege, ggen die Klimakatastrophe, den Abbau von Meinungsfreiheit, sozialen Rechten und Leistungen öffentlich längst mit dem Stempel »verfassungsfeindlich« und »gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet« versehen, so die Initiativen gegen Berufsverbote.

Auf der Website berufsverbote.de schreiben sie zum Gesetz in Brandenburg: »Niemand sollte sich von anlassbezogener Rhetorik täuschen lassen: Der Feind steht (…) für die Herrschenden und ihren Inlandsgeheimdienst immer links. Hier wird wieder ein Instrumentarium geschmiedet, das sich – wie damals – um Grundnormen des Arbeitsrechts einen Dreck schert, alle Aufarbeitungen und internationalen Verurteilungen und Abmahnungen ignoriert und schneller, als wir schauen können, sich gegen ganz andere richten wird als die, gegen die heute die Menschen auf die Straße gehen.«

Berufsverbote gegen Michael Csaszkóczy in Heidelberg (2003–2007) und Kerem Schamberger in München (2016) mussten noch zurückgenommen werden. Mittlerweile gibt es aber wieder vermehrt Fälle gegen Linke: Aktuell wird dem angestellten Lehrer Luca S. in Hessen die Übernahme ins Referendariat verweigert (jW, 3.2.2024). Daraus, dass er einen am Boden liegenden verletzten Demonstranten schützen wollte, wird ihm strafrechtlich der Vorwurf gemacht, einen neben dem Verletzten liegenden Rauchtopf angeblich auf Polizisten geworfen zu haben. Vor den Gerichtsgebäuden fanden an den Prozesstagen mit Unterstützung der GEW Solidaritätskundgebungen mit 100 Teilnehmenden statt. Die Teilnehmer der außerordentlichen Landesdelegiertenversammlung der GEW Hessen beschlossen 2023 in einem Dringlichkeitsantrag »Solidarität mit Luca: kein weiteres Berufsverbot in Hessen«. Gegen das kürzlich noch verschärfte Berufungsurteil des Landgerichts Frankfurt am Main von sieben Monaten Gefängnis auf Bewährung, das einem Berufsverbot gleichkäme, läuft Revision.

In Bayern wird schon seit 2016 bei Bewerbungen im Staatsdienst wieder verlangt, einen »Fragebogen zu Prüfung der Verfassungstreue« und zu »extremistischen« Organisationen auszufüllen. Seit Sommer 2022 wird dort dem von Verdi unterstützten Geowissenschaftler und Kartographen Benjamin Ruß die Einstellung an der TU München verweigert. Die Begründung des Unikanzlers in einem Schreiben an Ruß’ Anwältin, die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin: »Ihr Mandant bedient sich in der Gesamtheit seiner Äußerungen (die uns seitens des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz vorliegen und die verdeutlicht werden durch seine eigene Stellungnahme) klassischer Begriffe wie Faschismus, Rassismus, Kapitalismus, Polizeigewalt/-willkür, mittels derer auch die Gegnerschaft zur bestehenden Ordnung betont und begründet wird.« Zum nächsten Prozesstermin am 26. Juli 2024 ist vor dem Arbeitsgericht München erneut eine Kundgebung angemeldet.

In Bremen wurde im März die Krankenpflegerin Ariane Müller, Betriebsratsmitglied im »Klinikverbund Gesundheit Nord«, nach 43 Jahren Betriebszugehörigkeit von der Arbeit zwangs-»freigestellt«, weil sie privat eine Solidaritätskundgebung für die in Vechta einsitzende RAF-Angehörige Daniela Klette angemeldet hatte (jW, 21.3.2024). Das Arbeitsverhältnis ist inzwischen aufgelöst. Und in Berlin sind im April drei Leiterinnen eines Mädchentreffs durch einen CDU-Bezirksstadtrat mit der Begründung fristlos entlassen worden, sie hätten an Pro-Palästina-Mahnwachen teilgenommen. Die deutsch-israelische Historikerin Cilly Kugelmann sagte dazu laut Taz vom 6. Mai: »Mich erinnert das an den Radikalenerlass.«

Protest und Widerstand der bundesweiten Initiativgruppen gegen »Radikalenerlass« und Berufsverbote, seit Jahren unterstützt von den Gewerkschaften DGB, GEW, Verdi und IG Metall, die laufenden Aktionen anlässlich des 50. Jahrestags des »Radikalenerlasses« sowie etliche Berichte in den Medien haben Wirkung gezeigt: Stübgen und die Brandenburger Koalition konnten zumindest gebremst werden. Die Pläne mussten für immerhin zwei Jahre in den Schubladen bleiben. Nach dem Rückenwind durch Faesers Disziplinargesetzänderungen vor einigen Monaten konnte der Gesetzentwurf schließlich im Frühjahr unter Ausnutzung der großen Demon­strationen gegen rechts wieder aus der Versenkung geholt und am Ende noch verschärft werden. Letztlich konnte die Verabschiedung des Gesetzes in Brandenburg nicht verhindert werden.

Protest geht weiter

»Verfassungstreuechecks«, »Disziplinarverfügungen« und neue Berufsverbote sind Ausdruck des reaktionären und autoritären Um- und Ausbaus des Staatsapparats, der sich auf verschärfte politische Auseinandersetzungen einstellt. Damit das Brandenburger »Radikalengesetz« nicht ohne weiteres in anderen Bundesländern kopiert werden kann, braucht es zuallererst mehr Gegenöffentlichkeit. Zeichen dafür gibt es. So haben der »Arbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und zur Verteidigung demokratischer Rechte«, die Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen e. V. (VdJ), GEW, VVN-BdA und die Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW am 22. Mai zu Veranstaltungen in Bonn aufgerufen. 25 bundesweit von Esslingen bis Oldenburg angereiste, ehemals von Berufsverbot Betroffene trafen sich zu einer Mahnwache auf dem Münsterplatz, mit anschließendem Umzug über den Rhein nach Bonn-Beuel. Im Anschluss an die Eröffnung der auf 14 Tage angesetzten Ausstellung »Vergessene Geschichte – Berufsverbote« im dortigen Rathaus (die Stadt hat sie nach einer Woche wieder entfernen lassen, nachdem eine »Beschwerde eines besorgten Bürgers« über »linksextremistische Propaganda im Rathaus« eingegangen war) wurde am Abend ein »Demokratischer Ratschlag« zu »75 Jahren Grundgesetz und Angriffen auf demokratische Rechte« durchgeführt. Die 70 Teilnehmenden verabschiedeten abschließend einen »Bonner Appell« (www.berufsverbote.de).

An der Universität Hamburg fand am 30. Mai 2024 im »Geomatikum« eine Veranstaltung mit 130 Teilnehmenden statt. Eingeladen hatten Christin Bernhold, Christof Parnreiter (beide Institut für Geographie) und Wolfgang Menz (Arbeitsforscher, Fachbereich Sozialökonomie). Titel der von der GEW und kritischen Studierendenbewegungen unterstützten Veranstaltung: »Berufsverbote wegen Gesellschaftskritik? Wie Hochschulen und Kultusministerien kritische Bildung und Wissenschaftler/innen ausschließen«. Benjamin Ruß und Luca S. berichteten im überfüllten Hörsaal über die aktuell in Bayern und Hessen gegen sie verhängten Berufsverbote. In die Debatte miteinbezogen wurden auch der Brandenburger »Verfassungstreuecheck« und drohende »Radikalengesetze« in weiteren Bundesländern.

Martin Hornung ist in der »Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote Baden-Württemberg« aktiv.

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