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Aus: Ausgabe vom 08.06.2024, Seite 15 / Geschichte
Zweiter Weltkrieg

Grausame Rache

Vor 80 Jahren begingen Angehörige der SS im griechischen Dorf Distomo ein Massaker
Von Ulrich Schneider
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Deutsche Mordbrenner in Distomo (Aufnahme eines unbekannten deutschen Soldaten, 10.6.1944)

In ganz Europa findet man Gedenkorte, die unmittelbar mit faschistischen Massenverbrechen verbunden sind, nicht nur Konzentrations- und Vernichtungslager. Sie erinnern daran, wie der »Vernichtungskrieg« zu Lasten der Zivilbevölkerung umgesetzt wurde. Viele erinnern aber auch daran, dass die deutsche Bundesregierung bis heute politische und finanzielle Verantwortung hierfür ablehnt. Ein solcher Ort ist Distomo in Zentralgriechenland.

Mit dem heraufziehenden Ende der faschistischen Okkupation durch die militärischen Niederlagen der Truppen der Achsenmächte an verschiedenen Frontabschnitten verstärkte sich der Partisanenkampf. In Griechenland waren es die Kämpfer der ELAS (Ethnikós Laikós Apelevtherotikós Stratós), des militärischen Arms der Nationalen Befreiungsfront (EAM), die mit ihren Aktionen einen wichtigen Beitrag zur Befreiung des Landes leisteten. Auf diesen bewaffneten Widerstand reagierten die Okkupationstruppen bei der sogenannten Bandenbekämpfung mit wachsendem Terror. Wurden deutsche Truppen oder Einrichtungen angegriffen, fanden immer brutalere Vergeltungsmaßnahmen, willkürliche Geiselnahmen und Exekutionen statt, bis hin zur Zerstörung ganzer Dörfer und zu Massenerschießungen.

Als am 10. Juni 1944 eine SS-Einheit, die zur Partisanenbekämpfung eingesetzt war, in der Nähe des Ortes Distomo in ein Gefecht verwickelt wurde und sechs SS-Männer getötet wurden, richteten die Soldaten ein grausames Massaker an. Angehörige der 2. Kompanie des 7. SS-Panzergrenadierregiments der 4. SS-Panzergrenadier-Division überfielen unter dem Kommando des SS-Hauptsturmführers Fritz Lautenbach das kleine, nur wenige hundert Einwohner zählende Dorf am Fuß des Parnass-Gebirges. Sie ermordeten – vom Säugling bis zum Greis – unterschiedslos alle Einwohner, die sie antrafen, und verwüsteten das Dorf. Dem Massaker fielen insgesamt 218 Menschen zum Opfer. Nur wenige der von den SS-Soldaten in Distomo angetroffenen Bewohner haben in Verstecken oder, wie der damals knapp vierjährige Argyris Sfountouris, durch Zufall überlebt.

Keiner verurteilt

Das Verbrechen ist auch deshalb so gut dokumentiert, weil es noch während der Besatzungszeit vor einem Militärtribunal der Nazis verhandelt wurde. Damals erklärte ein Angehöriger der Geheimen Feldpolizei, der die Mordaktion begleitet hatte, dass die Behauptung des SS-Hauptsturmführers, die SS sei von den Dorfbewohnern angegriffen worden, nicht zuträfe. Die Kompanie sei zwar von griechischen Widerstandskämpfern attackiert worden, aber viele Kilometer von Distomo entfernt. Dennoch habe man das Dorf zerstört und die Bewohner getötet. In diesem Verfahren räumte Fritz Lautenbach ein, die üblichen Befehle überschritten zu haben. Er betonte aber, es seien notwendige »Vergeltungsmaßnahmen« gewesen. Das Nazimilitärtribunal sah sein Handeln als gerechtfertigt an. Lautenbach wurde »zur Bewährung« an die Ostfront geschickt. Ein weiterer Tatbeteiligter, Hans Zampel, wurde nach der Befreiung in Frankreich verhaftet und an Griechenland ausgeliefert. Während seines Prozesses wurde er »zu Ermittlungen« nach Deutschland überstellt, wo er ohne Verurteilung blieb. Wehrmachtsgeneral Hellmuth Felmy, Befehlshaber für Südgriechenland, dem die beteiligten Einheiten unterstellt waren, wurde 1948 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess auch wegen des Massakers von Distomo zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach gut drei Jahren wurde er begnadigt. Am 15. Dezember 1951 verließ er das Gefängnis Landsberg als freier Mann.

Tatsächlich wurde von der bundesdeutschen Justiz keiner der Täter verurteilt. Schlimmer noch, der Bundesgerichtshof erkannte vor gut 20 Jahren zwar an, dass in Distomo eines »der abscheulichsten Kriegsverbrechen« des Zweiten Weltkriegs begangen worden sei, das Massaker sei jedoch »eine Maßnahme im Rahmen der Kriegführung« gewesen, weshalb den Opfern von Rechts wegen keine Entschädigung zustünde. Das Gericht folgte damit der Lüge der SS.

BRD mauert

Tatsächlich ist bis heute keine bundesdeutsche Regierung bereit, den gerechten und begründeten Forderungen des griechischen Volkes nachzukommen. Dabei geht es nicht nur um Entschädigungszahlungen für die Opfer der Kriegsverbrechen, sondern auch um die 1942 von den Nazis zur Bestreitung der Besatzungskosten abgepresste Zwangsanleihe. Als in den 1950er Jahren die Forderung nach Wiedergutmachung erhoben wurde, versuchte die Bundesregierung im März 1960 Griechenland mit einer einmaligen Zahlung von 115 Millionen D-Mark abzuspeisen.

Erst nach der »deutschen Einheit« 1990 begannen in Griechenland öffentliche Debatten um die ausstehenden Forderungen. Den Vertretern der Angehörigen der Opfer von Distomo reichte es nicht, dass bundesdeutsche Politiker die Betroffenen mit salbungsvollen Worten und einem warmen Händedruck abspeisen wollten. Rechtsanwalt Ioannis Stamoulis reichte zum ersten Mal eine Sammelklage von Überlebenden und Verwandten der 218 Opfer des Massakers gegen den deutschen Staat ein und forderte Entschädigungen für das seelische Leid und die Verwüstung, die von den Nazitruppen am 10. Juni 1944 verursacht wurden. Diese Forderung wurde von verschiedenen Gerichten, bis hin zum Obersten Gerichtshof Italiens, bestätigt. Während sich die bundesdeutsche Seite mit allen juristischen Tricks diesen Entscheidungen entgegenstellt, veröffentlichte Anfang März 2024 das Berufungsgericht in Rom eine Entscheidung, wonach der Fall Distomo in Italien noch nicht abgeschlossen ist und fortgeführt werden kann.

Seit zwanzig Jahren arbeitet – gegründet von deutschen Antifaschisten – ein Arbeitskreis Distomo, der auf erinnerungspolitischer und juristischer Ebene die Interessen der Opfer und ihrer Nachkommen unterstützt. Mit öffentlichen Veranstaltungen und verschiedenen demonstrativen Aktionen, wie 2017 bei der Eröffnung der Documenta 14 in Kassel, wird versucht, gemeinsam mit griechischen Antifaschisten Öffentlichkeit für deren berechtigte Forderungen herzustellen. Die Forderungen des Arbeitskreises Distomo lauten: »Deutschland muss alle Opfer des Nationalsozialismus entschädigen! Naziverbrechen nicht vergeben, den antifaschistischen Widerstand nicht vergessen! Gemeinsamer Kampf gegen den wiedererstarkenden Faschismus in Europa!«

Ein Zeuge klagt an

Ein wichtiger Akteur im Kampf um die Erinnerung an das Verbrechen von Distomo ist Argyris N. Sfountouris. Er wurde am 6. September 1940 in Distomo geboren. Bei dem Verbrechen am 10. Juni 1944 verlor er seine Eltern und 30 weitere Familienangehörige. Durch einen glücklichen Zufall überlebten er, seine Schwestern und seine Großeltern. Zuerst lebte er bei seinen Großeltern, später in einem Waisenhaus für Kriegsopfer in Piräus bzw. in einem Kinderheim in Athen.

1949 wurde er zur Kur in ein Kinderdorf in die Schweiz geschickt, wo er nicht nur gesundheitlich auf die Beine kam, sondern eine Schulausbildung absolvieren konnte, bevor er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Mathematik, Kernphysik und Astrophysik studierte. Er schloss das Studium mit der Promotion ab und wurde Physiklehrer in der Schweiz.

Nach dem Militärputsch 1967 in Griechenland engagierte sich Sfountouris von der Schweiz aus gegen die Obristen-Herrschaft. 1994 organisierte er gemeinsam mit der Gemeinde Distomo im Europäischen Kulturzentrum in Delfi eine internationale Tagung unter dem Motto »Gedenken – Trauer – Hoffnung«. Trotz Einladung nahm kein offizieller Vertreter Deutschlands teil. Damals wurde zum ersten Mal die Forderung nach Entschädigung für die Opfer erhoben. Später unterstützte er Klagen gegen Deutschland. In zahllosen Interviews und öffentlichen Auftritten brachte Sfountouris das Massaker von Distomo in das Bewusstsein der deutschen und europäischen Öffentlichkeit. 2006 drehte Stefan Haupt den eindrucksvollen Dokumentarfilm »Ein Lied für Argyris«. 2017 nahm Sfountouris auf Einladung des Arbeitskreises Distomo an der Weltkunstausstellung Documenta 14 in Kassel teil und erläuterte in einem persönlichen Gespräch dem damaligen griechischen Präsidenten sowie dem Leiter der Documenta die Forderungen der Überlebenden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verweigerte ihm bei diesem Anlass ein solches Gespräch.

Ulrich Schneider

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