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Aus: Ausgabe vom 08.06.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Neues von der Kajal-Clique

Von Stefan Wimmer

Dieser Tage erscheint »Lost in Translatione« im Blond-Verlag, Stefan Wimmers zweiter Roman über die »Kajal-Clique« und die Hölle einer süddeutschen Vorstadtjugend der 80er Jahre. Der folgende Auszug ist leicht gekürzt. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. (jW)

Es war ein unglaublich heißer Sommer in der Münchner Vorstadt Pasing. Ein Sommer, wie man ihn heute kaum mehr findet, weil jedes Grad Celsius inzwischen mit dem Panikthermometer abgemessen wird. Ein Sommer, der nach Pommes, Grillwürstchen und Freibadchlor roch. Ein Sommer, der den Asphalt von Pasing flirren ließ wie eine Überlandstraße in Mexiko.

Wir hatten gerade die 10. Klasse hinter uns gebracht und standen kurz vor den Ferien. »Wir«, das waren: Roderick Thorwald, unser Boss mit dem pfiffigen Bärenschädel, den verschmitzt glimmenden Waldtieraugen und den breiten Knochenwülsten über den Brauen … Michi Meindorff, der schlaksige Spund mit der Stachelfrisur, den ausrasierten Geheimratsecken und dem schönen Schauspielergesicht, der ein wenig wie Sting in »Der Wüstenplanet« aussah … Sowie meine Wenigkeit, Stefan Wimmer, Ihr ergebenster Diener, in diesem besagten Sommer immer mit wasserstoffblonden Zotteln, Military-Hose und schwarzer Kutte angetan. Zu dritt bildeten wir die »Kajal-Clique«, die respektierteste, berüchtigtste New-Wave-Clique des Münchner Westens, immer auf der Suche nach Abenteuern, Partys und der großen Liebe.

Und diese Sommerferien – das darf ich jetzt schon verraten – waren eine Saga für sich, die irrsten Sommerferien, die wir je erlebt hatten. Wir fuhren nämlich zusammen an die Adria, und nie wieder in der Geschichte der Kajal-Clique gab es so viel Remmidemmi, Rabatz und Rambazamba. Nie wieder standen wir so an der Spitze und rockten das Haus. Es waren Augenblicke, wie sie nur einmal im Leben eines Menschen vorkamen, und leider kehrten diese Augenblicke auch bei uns in dieser Intensität nie wieder zurück. Wenn ihr also zufällig zur selben Zeit nicht in Italien gewesen sein solltet, dann bleibt am Ball, denn dieses Buch spart euch einen Haufen Geld, und die Freiheit, die damals herrschte, ist heute sowieso undenkbar.

Doch zunächst der Reihe nach: Die letzten Julitage, die Zeit kurz nach Zeugnisvergabe, verbrachten wir, die Kajal-Clique, meist am Pasinger Bahnhof, unserem Gettotreffpunkt. Und dort, zwischen der berühmten Bahnhofsuhr und den Telefonzellen, waren die Dinge so fragwürdig wie eh und je: Noch immer hielten die Prolls rund um den Psychopathen Lothar ganz Pasing unter ihrer Kontrolle. Noch immer platzte die Bahnhofshalle vor Verrückten fast aus allen Nähten. Noch immer schlich der Päderast Lochlippe mit seinem grauen Ledermantel und seinen Lederjeans durch die Backsteingänge, um sich an die Fersen seiner Zielpersonen zu heften. Noch immer rief der langhaarige Wurstverkäufer Lutz an der Würstelbude vorm Halleneingang mit seiner lauten Berliner Hausbesetzerstimme Sprüche wie:

»’S gibt frische Gelbwurst! Gelbwurst direkt aus’m Kutter! Wiener und Krakauer! Holt euch eure Gelbwurst! Wir sind alle Tote auf Urlaub!«

Und wenn man sich das Bahnhofs-Tableau von der »Asia-Teetruhe« bis zum »Altpasinger Bräustüberl« so ansah, war klar, dass Lutz mit seinem letzten Satz Recht hatte.

Die Wochen vor Zeugnisausgabe hatte sich für uns, die Mitglieder der Kajal-­Clique, noch eine entscheidende Neuigkeit ergeben: Wir waren über die Nachbarschule, das Bertolt-Brecht-Gymnasium, mit drei Mädchen in Kontakt gekommen, die unsere prekäre Lage bloß leider nicht leichter machten. Ich muss vorausschicken: Roderick, Meindorff und ich waren im Grunde verkappte Romantiker, am liebsten hätten wir eine Affäre mit der Hauptdarstellerin von Franco Zeffirellis »Romeo und Julia« gehabt.

Doch die Pasinger Verhältnisse ließen solche Tagträumereien nicht zu. Die drei Mädchen vom Bertolt-Brecht-Gymnasium – ihre Namen seien hiermit ge­leakt: sie hießen Sabine Steinhirnle, Nina Stickelbrucks und Tine Irmler – waren von gymnasialer Anmut und neusprachlicher Bildung nämlich sehr weit entfernt. Wie damals üblich, trugen sie Zwiebeljeans, Cowboystiefel und lange Schlabberhemden, die wie Leintücher um ihre Hintern flatterten, und alle drei waren eingefleischte Fans des aktuellen ­Madonna-Hits »Papa Don’t Preach«.

Papa schien zuhause bei den drei Grazien wirklich nicht allzu viel zu sagen zu haben, denn die Umgangsformen von Steinhirnle, Stickelbrucks und Irmler waren so roh und unzivilisiert, dass sie in dieser Form nur bei australischen Zuchthäuslerinnen vorkamen. Sabine Steinhirnle hatte ein breites Gesicht mit Sommersprossen, um Nina Stickelbrucks’ Mundwinkel spielten leicht verschorfte Schwären, und Tine Irmler hatte den Teint eines Grottenolms. Sie alle waren zu geizig, sich Zigaretten zu kaufen, und schnorrten daher die ganze Zeit am Pasinger Bahnhof herum (wobei sie ihre erbetenen Fluppen ebenfalls nur mit geborgten Feuerzeugen anzündeten). Im Umgang mit uns benutzten sie als Anrede grundsätzlich nur unsere jeweiligen Nachnamen, und wenn sie am Bahnhof hinter einem herhinkten, mit ihren Cowboystiefeln und den wehenden Leichentuchhemden, dann klang das so:

»Hey, Wimmer, host’ a Zigaretten für mi’? I bin grod mehr so auf’m Schnorrette-Trip!«

»Hey, Meindorff, jetzt bleib doch amoi steh’! Du bist so schee! Gehst’ ins ›Bella‹? Konnst mer vielleicht a Erbsen-Calzone und a’n ›Bergbock‹ mitbringen? I zahl’s dir morgen z’ruck!«

Die drei waren also wirklich nicht das, was man sich unter einem heißen Sommerflirt vorstellte, doch das Mysteriöseste an der Sache war: Nicht mal mit diesen dreien lief etwas.

(…)

Es klang also wie ein Befreiungsschlag, als Roderick Ende Juli, dabei fahrig mit seiner Kim-Extra-Size-Zigarette herumfuchtelnd, zu uns sagte:

»Ja?! Kommt ja gar nicht in die Tüte, dass wir uns diesen Scheiß hier noch länger gefallen lassen! Der Pasinger Bahnhof ist ein ›Pfuhl‹! Ein ›Pfuhl‹, ja?! Die Losung muss lauten: ›Mónica, wir fahr’n nach Méchico!‹¹ Das hält ja kein Mensch aus!«

Ohne groß rätseln zu müssen, was Roderick mit seinen kryptischen Wendungen meinte, waren wir sofort seiner Ansicht. Daher fielen Meindorff und ich ein und sagten:

»Klar, ganz deiner Meinung! Bloß, wohin willst du fahren? Mexiko kannst du ja wohl nicht meinen!«

Roderick wippte auf seinen spitzen Schuhen vor und zurück, zog hektisch an seiner Zigarette und sagte wie ein Seher:

»Ja, s-s-s-s-s-s-s-s-s-s, ich tendiere stark zu Italien! Gero hat durchblicken lassen, dass er einen Urlaub in Milano Marittima springen lässt. ›Piacere, riposo, relax!‹ Der Italiener weiß zu genießen!«

Gero war Rodericks leiblicher Vater – ein Staranwalt, der sich um seine väterlichen Pflichten herzlich wenig kümmerte, von der Mutter getrennt lebte und Roderick nur von Zeit zu Zeit mit Geld oder Luxusurlauben milde zu stimmen versuchte.

»Wer von der Kajal-Clique Lust hat …«, fuhr Roderick geheimnisvoll fort, »… soll mitkommen! Er ist immer wohlgelitten!«

Rodericks Einladung ehrte uns. Er war schließlich unser Boss.

»Ok!« sagten wir. »Aber wie sollen wir das auf die Schnelle organisieren? Unsere Eltern sind da sicher nicht so erpicht drauf, dass wir alleine in den Urlaub fahren …«

Roderick sagte streng, in seiner üblichen hochgestochenen, nuscheligen Art:

»Ja?! Dem Verständigen genügen wenig Worte … Dann müssen eben Strategiepunkte entworfen werden!«

Zum Thema »Fernreisen« muss ich einflechten: Meine Eltern waren praktisch nie mit mir ins Ausland gefahren, zu mehr als regelmäßigen Kurzurlauben am Chiemsee hatten sie kein Geld. Wir hatten daher nur einmal vor vier Jahren einen Urlaub mit »Hörmann Reisen« an der Riviera gemacht, und dieser Auslandsaufenthalt war nahezu ein Horror gewesen: Die dortigen Dorfkriminellen terrorisierten unsere Reisegruppe, zwei Mädchen wären fast vergewaltigt worden, und auch mein Vater und ich mussten mehrmals die Beine unter die Arme nehmen vor den Jugendbanden, die im Zentrum herumhingen. Das Einzige, was ich positiv im Gedächtnis hatte, war der unglaublich intensive Geruch der Macchia, der Geschmack des ersten Schlucks Rotwein in meinem Leben und das geniale Cappuccino­eis. Ich sprach Roderick auf meine Italien-Erfahrungen an, doch Roderick verwahrte sich:

»Ja?! ’S kannst’ doch überhaupt nicht miteinander vergleichen! Milano Marit­tima is ’n mondänes Seebad! Adria! Jetset! High Society! Völlig andere Nummer! So unterschiedlich wie Witzigmann und Pasinger Bahnhof.«

Da wir Roderick vertrauten (er hatte mit seinem Vater schließlich schon diverse Prunkurlaube in ganz Europa verbracht), machten Meindorff und ich uns umgehend daran, unsere Eltern zu bearbeiten, damit sie ihr Placet gäben. Die Meinen ließen sich sogar lächerlich einfach überzeugen. Vor allem der Hinweis auf Rodericks Vater als Anstandsdame (er war ein bekannter Mann aus der Tagespresse) flößte ihnen Vertrauen ein. Für dieses Jahr hatten sie ohnehin keinen Chiemsee-Urlaub geplant, also waren sie einverstanden. Ja, sie stellten mir sogar, ohne zu zögern, ein halbwegs brauchbares Taschengeld zur Verfügung.

So leicht war der Plan jedoch noch nicht in die Wirklichkeit umgesetzt. Denn Roderick und sein Vater, die ja die treibenden Kräfte hinter der Urlaubsidee gewesen waren, rührten in der Folge keinen Finger, um dem Projekt näherzukommen. Im Gegenteil: Wie so oft ließ Roderick aus Faulheit und Bequemlichkeit alles schleifen und dachte nicht im Traum daran, irgendwelche Buchungen voranzutreiben. Statt dessen stand er jeden Nachmittag im hinteren »Portofino«, warf Geld in einen Spielautomaten namens »Merkur Charly« und drückte mit seinen kleinen, fummeligen Fingern an den Tasten herum.

So ging dies rund eine Woche. Auf unsere Einwände, dass die Zeit drängte und wir den August nützen mussten, gab Roderick keine Antwort, sondern blies nur distinguiert Rauchringe in die Luft und beobachtete mit entrückten Waldtieraugen, wie drei Früchte vor seiner Nase hielten. Dann murmelte er:

»Ja?! ›Royal-Kombination!‹ Do ut des! Wenn nur erst die Jumbo-Ausspielung wär!«

Nach diesen Worten prasselten in der Regel Dutzende von Münzen aus dem Automaten in den Ausgabeschacht. Denn eines musste man Roderick lassen: Am »Merkur Charly« hatte er den Bogen raus.

Ein Detail muss ich noch hinzufügen: Unserem Freund Deibel hatten wir von unseren Italien-Plänen selbstredend nichts gesagt – hauptsächlich deshalb, weil Deibel immer noch der schlimmste Kraftdieb und Pechbringer Pasings war! Nach wie vor schlurfte er in seiner abgeranzten Cordhose und seinem »Bonduelle«-­T- Shirt hinter uns her, hielt Klagereden über seine Finanzsituation und malträtierte unsere Nerven.

Doch so einfach, wie wir uns das gedacht hatten, ließ sich Deibel nicht abschütteln. Er ahnte, dass wir etwas ohne ihn im Schilde führten. Er konnte geradezu erspüren, dass wir etwas ohne sein Wissen ins Werk setzten, und so tauchte er immer häufiger unangemeldet am Pasinger Bahnhof auf, wie aus dem Nichts zu unserer Dreiergruppe hinzustoßend, überraschte uns bei der Urlaubsplanung und schnappte mit seinen Ohren wichtige Hinweise auf. Schon bald ging er dazu über, ungefragt seinen Senf zum Thema hinzuzugeben:

»So, ›Adria‹, baxbeiderhax!«, nölte er. »Find i a gute Sach’! Allerdings dürf’ mer’s finanziell ned überspannen, weil’s bei mir pinke-pinke-mäßig grad zappenduster ausschaut. Aber wenn mer so was wie a’n Sozialfonds einrichten, wo a jeder a’m jeden unter d’ Arme greift, dann bin i dabei!« – Ein Satz, auf den hin Meindorff, Roderick und ich uns nur kopfschüttelnd ansahen.

Als wir schließlich dazu übergingen, uns nur noch im hinteren »Portofino« zu treffen, um Deibel auszutricksen, roch dieser schnell Lunte und schaffte es jedes Mal, in unsere Zusammenkünfte zu platzen. Geziert am Tisch fläzend, nippte er an seinem Cappuccino und rief:

»Du, Roderick, wie viel – hast du g’sagt – kosten jetzt no’ amal so belegte Semmeln in a’m Tante-Emma-Laden in Milano Marittima? I frag nur, um mir a Bild von de’ Lebenshaltungskosten zu machen!«

»›Panini‹ …«, murmelte Roderick am Automaten stehend und verdeckte mit seinen Fingerchen die Leuchtfenster. »›Panini‹ heißt das magische Wort, Deibel! Nicht ›Semmeln‹!«

»Ja-ja, scho’ klar!«, unkte Deibel. »Scho’ klar! In puncto Italien macht mir so schnell keiner was vor! Da bin i voll des Schweinchen Schlau! Die Familie vom Kutten und vom Mütze hat da nämlich in Rimini a Strandhaus … Die G’schichten von dene’ beiden weiß i brühwarm! Aber um’s jetzt no’ amal aufs Tapet zu bringen: Glaubst’, wir könnten uns vielleicht in so a Jugendherberge einquartieren? Weißt, so vom Sparfuchs-mäßigen her?«

Meindorff und ich stöhnten auf und hieben auf den Tisch.

»Was wollen wir denn in einer Jugendherberge?« protestierten wir. »Unser Ziel ist es, Italienerinnen anzureden! Da gehen wir doch nicht in irgendeine total überwachte, durchreglementierte Jugendherberge! Logischerweise nehmen wir uns ein anonymes, gediegenes Hotel. Und nicht irgendeinen Bettelorden!«

»Oder wie wär’s mit a’m Campingplatz?« nölte Deibel weiter. »I hab mer überlegt: Der Helmi hätt’ a Fünf-Mann-Zelt! Des könnt’ er mir leihen! Da hätt’ mer glei’ a gut’s Polster von eing’spartem Geld.«

»Roderick, sprich ein Machtwort!« riefen wir. »Jetzt sind wir schon gestraft mit dem Pasinger Bahnhof! Jetzt sollen wir auch noch in ein Fünf-Mann-Zelt! Was für ein Irrsinn!«

»Ja, für a Hotel hab i halt ned die finanziellen Möglichkeiten!« platzte Deibel heraus. »A Hotel bricht mir zastermäßig ’s G’nack! Weißt, i bin für gleiche Bedingungen! Für a faire Ausgangslage! So wie in dem Film, wo s’ alle aufstehen und sagen: ›ICH bin Spartakus!‹ ›ICH bin Spartakus!‹ Ned, dass einer privilegierter is als der andere!«

Roderick nahm richterlich seine Slim-Line-Zigarette aus dem Aschenbecher, sog gierig Rauch ein und dozierte mit seiner hohen Stimme, ohne sich vom Automaten umzudrehen:

»Also, wenn Herr Deibel …« – hier machte Roderick kreisende Bewegungen mit der Zigarette – »… Im Klartext: Der, der ursprünglich gar nicht vorgesehen war … Um nicht zu sagen: Der, der ohnehin nur als ›buffo‹, als ›harlekino‹ in Frage kommt … Vulgo: Der, der die ganze Zeit mit nervtötenden Mätzchen von sich reden macht … jetzt auch noch Sonderwünsche anmeldet, dann kann ich nur sagen: ›Troll Er sich! Reite er auf seinem Esel gen Stöberlstraße!‹«

»Des KÖNNTS ned machen!« rief Deibel. »Ihr MÜSSTS mi’ mitnehmen! Ihr könnts mi’ ned dalassen! Da gibt’s sogar a’n Gerichtshof in Den Haag, an den mer appellieren kann! Alles andere wär’ a Verstoß gegen die Menschenrechte!«

»Ja?! Spinnt wohl! Spinnt wohl!« echauffierte sich Roderick. »Zu Dreistigkeit kommt jetzt auch noch Erpressung! Ich sage nur: ›Verschärftes Kioskverbot‹, ja?! ›Verschärftes Kioskverbot‹² Wer kein Geld hat, der bleibt in Pasing und genießt den Sommer mit Sabine Steinhirnle.«

Das war Rodericks letztes Wort. Doch natürlich ließ Deibel nicht locker. Er bat, beschwor und redete ins Gewissen. Er versicherte, argumentierte und bettelte. Er gestikulierte, begründete und raufte sich die Haare. Ja, er versuchte, durch Rücksprache mit der Waisenverwaltung (denn Deibel war Vollwaise) zusätzliche Geldmittel zu erschließen. Schließlich ließen wir das Thema auf sich beruhen, weil wir uns ohnehin sicher waren, dass Deibel das benötigte Geld nicht zusammenbekommen und sich das Problem dadurch von selbst erledigt haben würde.

Doch auch bei uns dreien kamen die Abfahrtsvorbereitungen nur mühevoll in Bewegung: Da Roderick immer noch jeden Tag im »Portofino« stand und gebannt den Melodien des »Merkur Charly« lauschte (sein Vater kümmerte sich ebenfalls um nichts), blieb es an Meindorff und mir hängen, die Initiative zu ergreifen: Zu diesem Behufe kontaktierten wir einen Schulkameraden von uns, Flavio, der in die Nebenklasse ging, Hardrocker war und als Halbitaliener familiäre Beziehungen zum Nachbarort von Milano Marittima – Cervia – hatte. Flavio erklärte sich bereit, für uns telefonisch die Hotelbuchung zu erledigen. Ja, mehr noch: Er bot Meindorff sogar an – nachdem für Roderick und mich ein Hotel gebucht war –, ihm ein Gästezimmer im Haus von seiner Familie zu überlassen. Nach dieser Hilfestellung fuhr Flavio am 6. August los nach Italien, um selbst in die Sommerfrische zu gelangen.

So blieb für Meindorff und mich lediglich übrig, die Bahntickets und die Platzreservierungen zu erwerben. Rodericks Vater war derweil immer noch nicht in die Gänge gekommen, er überlegte bereits, für sich und seine 23jährige Geliebte ein Ferienhaus in Südspanien anzumieten, bei ihm war nach wie vor alles in der Schwebe. Wir dagegen hatten Milano Marittima fest im Blick.

Nach Erwerb der Zugtickets jedenfalls kamen wir triumphierend ins »Portofino«, klopften Roderick auf die Schulter und riefen:

»Roderick, wir haben’s geschafft! Alles unter Dach und Fach! Wir können übermorgen los! Meindorff pennt bei Flavio, wir beide im Hotel ›Solemare‹! Die Zugtickets und die Reservierungen sind gekauft!«

Doch Roderick starrte nur gedankenverloren auf eine Kombination von Erdbeeren, die vor seiner Nase hielt, zog konsterniert an seiner Zigarette und murmelte:

»Ja?! S-s-s-s-s-s-s-s-s! Dreimal hab ich jetzt die Bonusleiter verdrückt! Diesen Charly bring ich um!«

Ansonsten waren die letzten Tage noch von hochsommerlicher Leichtigkeit: Es fanden ein paar Gartenpartys in Obermenzing statt, auf denen wir vor Hitze japsten und Fassbier tranken. Und dann war da noch ein Gerichtstermin um einen defekten, von uns »ausgenommenen« MVV-Fahrkartenautomaten zu bestehen, bei dem uns Rodericks Vater, ein dünnlippiger, wortkarger Mann, erfolgreich herausboxte (nun wollte er mit Verspätung doch nach Milano Marittima nachreisen!), und schließlich erfuhren wir, dass auch Deibel mit uns mitfahren würde. Er ­hatte es geschafft, die Sparschweine diverser Verwandter zu plündern, und sein jetziger Plan bestand darin, in Milano Marittima am Strand zu übernachten (wir vermuteten, dass die Strandpolizei diesem Projekt ein jähes Ende setzen würde). Der Urlaubs­countdown jedenfalls lief, und mit jeder Minute kamen wir der Abfahrt näher.

Die Nachricht von unserer Italienreise verbreitete sich schließlich auch am Pasinger Bahnhof. Denn entgegen unserer Weisung hatte Deibel, anstatt Stillschweigen zu bewahren, sämtliche Infos in alle Richtungen hinausposaunt. So verfolgten uns Tage vor der Abfahrt, während Lutz im Hintergrund wie ein mittelalterlicher Büttel seine Würste anpries, Steinhirnle, »Maul- und Klauen-Nina« und Tine Irmler und riefen:

»Wir ham’s scho’ ’keert, dassts wegfahren wollts nach Italien! Glaubts, ihr seids was Bessers? Glaubts, ihr seids recht trendy? Aber des lass mer uns ned g’fallen! So was könnts mit uns ned macha! Wir kumma mi’m Alex Schmiedl nach! Des hamma nämlich scho’ mitkriagt, wo ihr wohnts.«

Es war also höchste Zeit, loszufahren.

*

Anmerkungen

1 Zitat aus dem Film »Atemlos«, mit Richard Gere. »Ja?!« war Rodericks Lieblingsfüllwort. Er sprach es meist japsend und knapp aus, und von Empörung bis Leutseligkeit konnte es bei ihm alles ausdrücken.

2 »Verschärftes Kioskverbot« war von uns hauptsächlich im Frühjahr 1984 ausgesprochen worden, als wir noch regelmäßig am Kiosk von Hanni und Roman verkehrten. Im Sommer 1985 war die Drohung bereits weitgehend zur Formel erstarrt, entfaltete aber immer noch ihre schreckliche, über die Maßen inhumane Wucht.

Stefan Wimmer, geboren in München, ist Schriftsteller und Journalist. Er war mehrere Jahre Redakteur bei verschiedenen Lifestylemagazinen, schrieb u. a. die Romane »Die 120 Tage von Tulúm«, »Der König von Mexiko«, »Die 12 Leidensstationen nach Pasing« und lebt in Mexiko und München.

Stefan Wimmer: Lost in Translatione. Blond-Verlag, München 2024, 288 Seiten, 18 Euro

Im Buchhandel ab 20. Juni. Schon jetzt beziehbar über: auslieferung@blond-verlag.de

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