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Aus: Ausgabe vom 12.06.2024, Seite 4 / Inland
Selenskij im Bundestag

Geschichtsverdrehung im Bundestag

Rede des ukrainischen Präsidenten umjubelt. BSW und Großteil der AfD nicht im Plenum
Von Philip Tassev
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An der Front läuft es für Kiew nicht gut, aber in Berlin gibt er sich siegessicher: Wolodimir Selenskij im Bundestag (11.6.2024)

Für den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij wird halb Berlin lahmgelegt. Am Dienstag morgen ging im Zentrum der Hauptstadt nichts mehr, S-Bahnen fielen aus und Straßen waren gesperrt. Auf der Spree patrouillierten Polizeiboote. Selenskij wurde im Reichstagsgebäude zu seiner ersten persönlichen Rede im Rahmen einer Sondersitzung des Parlaments empfangen und von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas mit maximaler Geschichtsverdrehung begrüßt. »Ukrainische Soldaten hatten einen wichtigen Anteil an der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus«, behauptete die Sozialdemokratin, die überging, dass diese Soldaten in den Reihen der von den ukrainischen Nationalisten bekämpften Roten Armee kämpften. Die Zukunft der Ukraine liege »in der EU und in der NATO«. Mit »Slawa Ukraini«, dem traditionellen Gruß der ukrainischen Nationalisten, beendete sie ihre Begrüßungsansprache.

Selenskij drohte in seiner Rede in Richtung Russland: »Wir werden diesen Krieg zu unseren Bedingungen beenden.« Das geteilte Europa sei niemals friedlich gewesen und das geteilte Deutschland niemals glücklich, dozierte er. Die Abgeordneten des Bundestags könnten daher verstehen, »warum wir so hart gegen die Versuche Russlands kämpfen, uns zu spalten, die Ukraine zu teilen. Warum wir alles tun, um eine Mauer zwischen Teilen unseres Landes zu verhindern«. Es sei im gemeinsamen Interesse des Westens, »dass Putin diesen Krieg persönlich verliert« und die Ukraine ein »volles Mitglied der EU« werde. Er dankte der BRD für die Aufnahme von rund einer Million ukrainischer Flüchtlinge und die Unterstützung durch Waffenlieferungen.

Die zehn Abgeordneten der Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) blieben der Selenskij-Rede am Dienstag demonstrativ fern. Die außenpolitische Sprecherin des BSW, Sevim Dagdelen, sagte dazu gegenüber AFP: »Mit dem Fernbleiben setzen wir auch ein Zeichen der Solidarität mit all jenen Ukrainern, die sich einen sofortigen Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung wünschen, statt von Präsident Selenskij als Kanonenfutter für einen nicht gewinnbaren Krieg zwangsrekrutiert zu werden.«

Vertreter der anderen Parteien empörten sich darüber. »Das sind dann die Menschen, die sonst immer darauf pochen, man müsse miteinander reden«, schrieb Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) auf der Plattform X. Mit dem BSW habe Wladimir Putin nun neben der AfD »schon die zweite Partei in Deutschland, die ihm unreflektiert folgt«. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion, Katja Mast, nannte die Entscheidung des BSW »peinlich« und »respektlos«. Wagenknecht versuche, sich »auf dem Rücken der Ukraine« zu profilieren. SPD-Außenpolitiker Michael Roth klagte, »einem demokratisch gewählten Präsidenten, der für die Freiheit seines Landes kämpft, den Respekt zu verweigern, ist so mies«.

Als »Unding« bezeichnete auch Dietmar Bartsch von der Linkspartei das Fernbleiben des BSW: »Wie auch immer man zu Selenskij oder zu Waffenlieferungen stehe, in der Demokratie gehe es darum, zumindest zuzuhören, und nicht darum, Aufmerksamkeit zu erregen.« Auch Koparteichefin Janine Wissler bekundete bei X, das Verhalten »falsch« zu finden.

Auch Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann ätzte gegen Wagenknecht und nannte es »eine große Ehre, dass Selenskij heute im Bundestag spricht«. Ihr Parteikollege Konstantin von Notz warf dem BSW vor, »den Weg für die eskalative und imperialistische Aggression Putins zu ebnen«. Das Fernbleiben nannte er »schlicht beschämend«.

Die AfD-Fraktion blieb dem Auftritt mit Ausnahme von vier Abgeordneten ebenfalls fern. In einer gemeinsamen Erklärung bezeichneten die AfD-Chefs Alice Weidel und Tino Chrupalla Selenskij als »Kriegs- und Bettelpräsident«. Die Ukraine brauche »einen verhandlungsbereiten Friedenspräsidenten, damit das Sterben aufhört und das Land eine Zukunft hat«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (14. Juni 2024 um 10:34 Uhr)
    Eine Anmerkung zur Rede des ukrainischen Präsidenten im Bundestag wäre zu ergänzen. Die Rede ist hier https://www.president.gov.ua/en/news/nashe-z-vami-liderstvo-ta-volya-ukrayinciv-mayut-spracyuvati-91449 in offizieller englischer Übersetzung einsehbar. Selenskij sagt einerseits: »Do we have any other goal than peace? No.« Andererseits sagt er aber auch: »And the one who brought the war should, on the contrary, forget about peace. Forever.« Das kann man so verstehen, dass »Frieden« für Herrn Selenskij »endloser Krieg« gegen Russland bedeutet. Gewissermaßen 1984 von George Orwell in natura. Dass der Ukrainekrieg keineswegs nur von einem verursacht wurde, sondern dass viele – auch viele Ukrainer, Herr Selenskij vorneweg – zur Eskalation beigetragen hatten, sollte man natürlich ebenfalls nicht übersehen.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (14. Juni 2024 um 15:05 Uhr)
      Es ist kaum zu glauben, dass es bei vielen Linken praktisch zum guten Ton gehört, diesen Antikommunisten zu zitieren. Das Machwerk »1984« von George Orwell wurde in der DDR als staatsfeindliche Hetzschrift eingestuft. Das fast noch schlimmere antikommunistische »Farm der Tiere« wurde in den sozialistischen Ländern ebenfalls verboten. Für diese Hetzschrift fand Orwell zunächst selbst in seiner Heimat keinen Verleger, weil Großbritannien zu dieser Zeit Verbündeter der Sowjetunion im Kampf gegen Nazideutschland war. Von welcher »Qualität« diese beiden Bücher sind, zeigt schon die Tatsache, dass der US-Geheimdienst CIA die Filmrechte kaufte.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (13. Juni 2024 um 11:57 Uhr)
    Die »Geschichtsverdrehung im Bundestag« ließe sich mit anderen Zitaten besser belegen. Die Bundestagspräsidentin forderte ja z. B. auch, »dass die Ukrainerinnen und Ukrainer selbstbestimmt und unabhängig über ihre Zukunft entscheiden«, was bekanntlich unvereinbar mit der vom Westen goutierten Weigerung Kiews ist, der russischen Minderheit im Lande die völkerrechtlich verbrieften Selbstbestimmungsrechte zu gewähren. »Die russischen Kriegsverbrechen werden geahndet« fordert Bas und lässt dabei die ukrainischen Kriegsverbrechen komplett unter den Tisch fallen. 1000 bis 2000 Waffenstillstandsverletzungen täglich vor dem russischen Kriegseintritt, so eine »Kleinigkeit« übersieht der Westen gern, wenn die Gier nach Machtzuwachs regiert. Wenn Selenskij im Bundestag behauptete, »A divided Europe has never been peaceful« (president.gov.ua), dann übersieht auch er geflissentlich so eine »Kleinigkeit« wie die mit dem Fall des Ostblocks einsetzenden Sezessionskriege in Jugoslawien-Kriege, die von deutscher Anerkennung der Abspaltungen angeheizt wurden. Selenskijs Behauptung, Putin »chose killings over agreements«, ist natürlich ebenfalls verlogen, wo es nicht Putin, sondern die Ukraine war, die ganz bewusst die Minsker Vereinbarungen missachtet hatte und dafür auf Aufrüstung und erklärtermaßen kriegerische Problemlösungskonzepte gesetzt hatte, inklusive Atomkriegsdrohung direkt vor dem russischen Kriegseintritt. Verlogen ist auch Selenskijs Behauptung, Russland plane einen Eroberungsfeldzug »through Europe«. In der jW konnte man kürzlich lesen, dass das »Bullshit« ist. Selenskij unterstellt einigen die Ansicht, »Putin is there forever«. Ist das noch erklärungsbedürftig? Er fordert »give diplomacy a chance« und hat doch selber Verhandlungen mit Putin verboten. In einem Punkt hat Selenskij allerdings unfreiwillig auch mal recht: »peace grows not out of shots, but out of guarantees«. Das trifft ins Schwarze der russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien. Glückwunsch!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Stephan K. aus Neumarkt i.d.OPf. (13. Juni 2024 um 11:57 Uhr)
    Selenskij hat es nicht so mit der Geschichte. Was passiert, wenn ein nationalistischer und militaristischer Geschichtenerzähler an seine eigenen Geschichtsmärchen glaubt? Selenskij verwies im Bundestag in seiner eigenwilligen Geschichtslektion die nicht anwesenden Parteien und das seine Kriegsrede »boykottierende« BSW auf das Beispiel der Berliner Mauer. Die sei ja nun auch weg. Recht hat der Mann. Nur wie verschwand die Berliner Mauer wieder? Durch Krieg, durch den dritten Weltkrieg? Der ukrainische Präsident kennt offensichtlich nur noch die Geschichtsbücher seiner Fascho- und Nationalistenkumpels. Die sind auch nicht so dick, weil sie so einfach sind. Sonst wüsste er, dass es einen gesamtdeutschen Bundestag und ein ungeteiltes Berlin gibt, dass diese Orte überhaupt existieren und begehbar sind, das lag am Verhandeln. An Ost- und Entspannungspolitik. Am KSZE-Prozess. Am Anerkennen einer »Unrechtsgrenze« und von »Unrechtsregimes«. So bezeichneten seine ideologischen Kumpels und Vorfahren in Westdeutschland die Bösen und sie hatten böse Worte für die hiesigen »Vaterlandsverräter« und »Russenfreunde«, wie z. B. Willy Brandt. Für den gefährlichen und ahistorischen Unfug, den der ukrainische Präsident verzapfte, gab es den Beifall der Anwesenden. Auch aus der Partei Willy Brandts. Aus der ehemaligen Partei Willy Brandts. Und auch »Standing Ovations« von den Resten einer ehemals antimilitaristischen Linksfraktion. Überhaupt dieser Willy Brandt. Kniefall in Warschau statt Gemetzel, »Asow«-Brigade oder Atomkrieg. Warschau und Berlin stehen noch und sind heil und intakt. Noch. Hätten hiesige Revanchisten die »Ostgebiete«, inklusive derer in Polen, die immer noch polnisch sind, »heim ins Reich« oder in die Westrepublik geholt, dann gäbe weder die Ukraine noch Deutschland. Polen schon gar nicht. Vermutlich gäbe es die zivilisierte Welt nicht mehr.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (13. Juni 2024 um 10:40 Uhr)
    Opportunisten, Obskuranten, Geschichtsfälscher, Volksverräter, Revanchisten, Bellizisten und Faschisten unter sich!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (12. Juni 2024 um 06:33 Uhr)
    Ob es richtig oder falsch ist, die Rede von (eigentlich Ex-)Präsident Selenskij zu ignorieren, sei dahin gestellt. Falsch ist definitiv, diesem Usurpator überhaupt die Möglichkeit einer Rede zu geben. Dass Selenskij selbst für die Unmöglichkeit von Verhandlungen mit Russland durch ein Dekret sorgte, sollte jedem geläufig sein, der sich mit der Geschichte dieses furchtbaren Krieges auskennt. Dazu kommen die Repressionen gegen die russisch sprechenden Menschen in der Ostukraine, denen verboten wurde, ihre Muttersprache zu benutzen. Eine Regierung, die ihre »Helden« in den Kollaborateuren des Hitlerfaschismus findet, dafür die Erinnerungen an ihre wirklichen Befreier, zu denen auch Zehntausende ukrainische Soldaten und Partisanen gehörten, schleift und dafür Denkmäler für Stepan Bandera errichtet, verteidigt die »westliche Wertedemokratie«? Na, vielen Dank. Eine Regierung, die durch Greifkommandos, die letzten vielleicht für den Krieg tauglichen Männer von der Straße holt, als Vorbild für Deutschland? Dann wird wohl die angekündigte »neue Wehrpflicht« durch Pistorius ähnlich umgesetzt – dann werden die Feldjäger der Bundeswehr auch bald durch die Straßen patrouillieren und alles, was nicht schnell genug verschwunden ist, in die Bundeswehr pressen. Demokratie? Bestimmt nicht … Ich zweifle schon lange, ob wir wirklich in einer Demokratie leben. Wann endlich denken die Selenskij applaudierenden Abgeordneten mal daran, dass sie vom Volk gewählt wurden? Fragen ihre Wähler, wie sie handeln sollen. Für mich als Sympathisant des BSW war es eine richtige Entscheidung der Gruppe, sich zu entfernen und sich nicht das Gerede eines nicht mehr legitimen Präsidenten anzuhören. Und das Gejaule der anderen Fraktionen zeigt mir – richtig gehandelt! Dass die AfD ähnlich dachte – geschenkt. Daraus aber Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Parteien zu konstruieren, zeigt die Argumentationslosigkeit der Kritiker. Gemeinsamkeiten gibt es nämlich nicht!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Saltum (11. Juni 2024 um 20:33 Uhr)
    Ist der ukrainische Präsident noch gewählt oder amtiert er schon?

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