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Aus: Ausgabe vom 12.06.2024, Seite 15 / Antifaschismus
SS-Massaker in Frankreich

Seit 80 Jahren ungesühnt

SS massakrierte am 10. Juni 1944 im französischen Dorf Oradour mehr als 600 Menschen
Von Florence Hervé
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Frankreichs Präsident Macron (M.) und Bundespräsident Steinmeier besuchen die Gedenkstätte in Oradour-sur-Glane (10.6.2024)

Inmitten des EU-Wahlkampfes besuchte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mehrere Erinnerungsorte: in der Region Rhône-Alpes zu Ehren der Maquis auf dem Plateau des Glières, das Märtyrerdorf Vassieux-en-Vercors und das Waisenhaus von Izieu, von wo aus 44 jüdische Kinder nach Auschwitz verschleppt wurden. Es folgte am 6. Juni die internationale Militärschau um das D-Day-Gedenken. Und schließlich Tulle und Oradour, Orte der Nazibarbarei und der Résistance.

Nach der Landung der Westalliierten an der nordfranzösischen Küste verließ die SS-Division »Das Reich« Südfrankreich in Richtung Limoges und Tulle mit dem Auftrag, die Normandie zu erreichen, und laut SS-General Lammerding »auf dem Weg den Raum rasch und nachhaltig von den Banden zu säubern«. Am 7. Juni 1944 hatten die Partisanen der Résistance die Stadtviertel im Norden der kleinen Industriestadt Tulle befreit. Am selben Abend eroberte eine Abteilung der SS-Panzerdivision die Stadt zurück. Am 9. Juni wurden 99 Geiseln an Laternen erhängt. 101 Deportierte kamen nicht zurück. Am selben Tag wurden 67 Menschen im idyllischen Städtchen Argenton-sur-Creuse von der SS-Division »Das Reich« ermordet.

Eine Abteilung der SS-Division war das Regiment »Der Führer«. Es marschierte am 10. Juni in ein Dorf ein. Die männlichen Bewohner wurden erschossen, etwa 350 Frauen und Kinder in der Kirche eingesperrt und verbrannt. Mit 643 Menschen ermordete die SS nahezu die gesamte örtliche Bevölkerung. Nur 36 Einwohner überlebten das Massaker von Oradour. Es war keine einmalige Greueltat eines »Kompanieführers der Division«, der »in einen Exzess verfallen« war, wie es ein SS-Offizier behauptete.

Der Brand in der Kirche und die Zerstörung des Dorfes waren auch nicht das Werk der Partisanen, wie es in geschichtsverfälschenden Büchern hieß. Das Massaker geschah nach dem im Osten Europas erprobten Szenario. Eine Fortsetzung des Vernichtungskriegs – ob in Jugoslawien, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion, ob in Griechenland, Italien oder Frankreich. Im Sommer 1944 begingen die Nazis die Massaker von Distomo, Marzabotto und Sant’Anna di Stazzema.

Des Märtyrerdorfs Oradour wurde am Montag in Frankreich vielfach gedacht: unter anderem mit der Uraufführung eines »Requiem d’Oradour«, des Films »Les passeurs de mémoire«, in dem Geschichten der Verstorbenen nacherzählt werden, und mit der Vorstellung des historischen Comics »Oradour – die ermordete Unschuld«, das in Zusammenarbeit mit dem 2023 gestorbenen Überlebenden Robert Hébras entstand.

Zum offiziellen Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Oradour anlässlich dieses 80. Jahrestages zeigte sich die 99jährige Überlebende Camille Senon gegenüber junge Welt skeptisch: »Das wird wenig ändern«. Sie erinnerte sich an den Besuch von Steinmeiers Amtsvorgänger Joachim Gauck, der 2013 seine Bitterkeit mit den Überlebenden und den Familien der Opfer teilte, »dass die Mörder nicht zur Verantwortung gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt blieben.« Steinmeier teilte diesmal seine Beschämung darüber mit, »dass danach Mörder straflos geblieben sind, dass schwerste Verbrechen nicht gesühnt wurden«.

Oradour blieb und bleibt ungesühnt. Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer stellte fest: »Bis heute fehlt jegliche Erklärung einer bundesdeutschen Regierung, die die deutsche Verantwortung für dieses Verbrechen anerkennt.« Im Gegensatz zur BRD fand in der DDR ein Prozess statt, SS-Obersturmführer Heinz Barth wurde 1983 zu lebenslanger Haft verurteilt. Von offizieller Seite wurde in der BRD bislang weder die Nichtverfolgung der Mörder noch die politische Einflussnahme auf die Justiz verurteilt.

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