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Aus: Ausgabe vom 13.06.2024, Seite 5 / Inland
Verkehrspolitik

Die Mär von S21

Inbetriebnahme von »Stuttgart 21« auf Ende 2026 verschoben. Kritiker glauben den Machern nichts mehr
Von Ralf Wurzbacher
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Doch 2026? Ständige Aufschübe wirken auf die Stuttgarter bereits wie eine schleichende Gewöhnung daran, dass S21 vielleicht niemals fertig wird

Und ewig grüßt das Murmeltier. Der Start von »Stuttgart 21« verzögert sich um ein weiteres Jahr, mindestens. Was schon am Montag durch die Presse geisterte, bestätigte sich tags darauf bei einer Sitzung des S21-Lenkungskreises, in dem die Deutsche Bahn (DB), das Land Baden-Württemberg sowie die Stadt, die Region und der Flughafen Stuttgart das Projekt »steuern«. Nun also liebäugeln die Chaosverwalter mit Dezember 2026 als Eröffnungstermin, nach davor schon mehrmaliger Verschiebung war zuletzt das Jahresende 2025 gehandelt worden. Offiziell noch nicht hinfällig ist der etliche Male korrigierte Kostenrahmen, der vor einem halben Jahr mit 11,5 Milliarden taxiert wurde. Laut Spiegel rechnen Insider längst mit zwölf Milliarden Euro und mehr.

Beim »Aktionsbündnis gegen S21« gibt man nichts auf die neue Wasserstandsmeldung. Die Beteiligten setzten ihr »Täuschungsspiel« fort, heißt es in einer Medienmitteilung vom Dienstag. »Mit Versprechen, von denen sie selbst wissen, dass sie wieder nicht einzuhalten sein werden, bauen sie weiter in die Sackgasse hinein«, beklagte Sprecher Martin Poguntke, und setzte hinzu: »Schluss mit Märchenstunde! Fakten auf den Tisch!« Dazu gehören auch die offensichtlichen Mängel beim Brandschutz, die den kommenden Stuttgarter Tiefbahnhof samt Zulauftunneln zu einer »Todesfalle« machen könnten. Immerhin war beim Treffen des Lenkungskreises ein offener Brief von Kritikern an die Projektgesellschaft Stuttgart–Ulm GmbH (PSU) und das Eisenbahnbundesamt (EBA) mit sieben Schlüsselfragen zum S21-Sicherheitskonzept Thema. In der Vorwoche hatte das EBA in einer Antwort die Einwände mit Ausflüchten, Irreführungen und Falschbehauptungen weggewischt. In diesem Stil bemerkte am Dienstag Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Bündnis 90/Die Grünen), »dass in Deutschland kein Tunnel gebaut wird, um anschließend die Leute zu verbrennen«. Wenn in der Sache trotzdem immer wieder nachgebohrt werde, gehe ihm das »langsam auf den Zeiger«.

Stichwort »langsam«: Hauptgrund für die Hängepartie beim Bau sind die Tücken des sogenannten digitalen Knotens, zu dem man S21 hochrüsten will. Die massiven Kapazitätsverluste, die ein Tiefbahnhof mit nur acht statt bisher 17 Gleisen mit sich bringt, sollen quasi virtuell durch Einsatz des ETCS-Zugleitsystems (European Train Control System) kompensiert werden. Das System ist nicht nur kaum erprobt und fehleranfällig, sondern erfordert laut Experten zwei Drittel mehr Eisenbahnanlagen als ursprünglich geplant, etwa Weichen oder Stellwerke. Das ETCS einbauen zu wollen, sei »kein technischer Wagemut, sondern verantwortungsloses Abenteurertum«, befand Poguntke vom Aktionsbündnis. Er verwies auf Erfahrungen der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die die Technik nicht hoppladihopp, sondern »über Jahre behutsam und erfolgreich« eingeführt und auch die Mär entkräftet hätten, »dass diese nennenswerte Kapazitätsvorteile bringe«.

Sarkastisch ließe sich sagen, »die ständigen Aufschübe sind eine schleichende Gewöhnung an diese Realität: dass Stuttgart 21 nie ans Netz gehen wird«, befand am Mittwoch der Journalist und Buchautor Arno Luik gegenüber junge Welt. In seinem Bestseller »Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn«, habe er anhand einer streng vertraulichen Risikoanalyse des damaligen Projektleiters Hany Azer aus dem Jahr 2011 aufgezeigt, »dass der Bau die Ingenieure überfordert, alles unglaublich teuer wird und der Zeitplan nicht einzuhalten ist«, so Luik. »Es war der Notruf: Stoppt das Ding! Zieht die Notbremse!« Schon vor 14 Jahren habe ihm ein S21-Topplaner gesteckt: »Wir sind wie Fallschirmspringer bei diesem Projekt. (…) Aber wir haben keine Fallschirme dabei.« Carl Waßmuth vom Bündnis »Bahn für alle« stellt sich die Frage, ob S21 wohl beschlossen worden wäre, »wenn man den Menschen die Wahrheit gesagt hätte? Dass es 30 Jahre und länger dauern würde? Dass Stuttgarts Zentrum davon 15 Jahre lang aussehen würde wie nach einem Terroranschlag?« Sein Tipp im Gespräch mit jW : »Vermutlich nicht.«

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  • Leserbrief von Irina Müller aus Berlin (13. Juni 2024 um 15:21 Uhr)
    Man sollte Missmanagement nicht mit neuer Technik entschuldigen. ETCS ist bei unseren Nachbarn erfolgreich im Einsatz. Im Lötschbergtunnel seit über 17 Jahren. Der Gottardtunnel ging mit ETCS 1 Jahr vor dem geplanten Termin 2016 in Betrieb. Die Niederlande rüsten nach über 10 Jahren ETCS Betrieb auf einigen Strecken das gesamte Land mit ETCS aus genau wie Dänemark. In Österreich, Spanien, Polen, Frankreich gibt es ETCS Strecken. Ich würde das System also nicht als wenig erprobt bezeichnen. Bei der DB war die erste Fahrt mit einem ETCS System 2004 mit Herrn Mehdorn auf der Strecke Berlin – Leipzig. Jahre bevor die oben genannten Länder ihr erstes System bekamen. Die DB hat die Systeme bloß nicht genutzt sondern ausgeschaltet.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (12. Juni 2024 um 20:20 Uhr)
    Niemand hat die Absicht, einen Bahnhof zu bauen. Zumindest so lange nicht, wie sich aus dieser »Goldgrube« immer noch weitere Milliarden-Profite auf Kosten der Allgemeinheit in die Taschen privater Räuber schürfen lassen. Außerdem dürften in Zukunft eh immer weniger Züge rollen, da das Schienennetz zunehmend maroder wird. Aber vielleicht reicht es ja noch für einen »kriegstüchtigen« Luftschutzbunker mit Gleisanschluss für Hamsterfahrten aufs Land.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Saltum (12. Juni 2024 um 20:16 Uhr)
    Warum immer so pessimistisch? Es ist immer noch besser, dass Stuttgarts Zentrum wie nach einem Terroranschlag aussieht, als dass S21 ans Netz geht und die Kaltluftschneise des Kopfbahnhofs in dieses Zentrum durch (spekulationsgesteuerte) Bebauung des Kopfbahnhofgeländes unterbrochen wird.

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