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Aus: Ausgabe vom 18.06.2024, Seite 11 / Feuilleton
Philosophie

Einsam in der Wüste

Seltene Reflexionen: Ein Essay von Gunnar Hindrichs über den Krieg
Von Marc Püschel
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David Roberts: »The Departure of the Israelites« (Öl auf Leinwand, 1829)

Das Denken setzt erst ein, wenn Dinge ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Doch eine hinreichende Bedingung für Einsichten sind Krisen nicht. Während etwa die Coronapandemie zahlreiche philosophische Debatten ausgelöst hat, fiel das Echo auf den Ukraine-Krieg verhalten aus. Zwar haben wir ihm, wie allen Weltbegebenheiten, eine große Anzahl an Slavoj-Žižek-Kommentaren zu verdanken, doch philosophische Reflexionen im engeren Sinne blieben Mangelware. Selbst wo eine Besinnung auf die Geistesgeschichte stattfand, diente diese oft nur politischen Grenzziehungen, etwa für Moritz Rudolph im Philosophie-Magazin, der eine gute zivile westliche »Locke-Welt« von einer kriegerischen östlichen »Hobbes-Welt« abgrenzte.

Letzteres wäre für Gunnar Hindrichs wohl ein Beispiel für eine »Selbsteinberufung« der Philosophie. Denn ihm zufolge fühlt sich im Ukraine-Krieg die Zivilgesellschaft selbst angegriffen. Anstatt das Zivile und den Krieg als Gegensätze zu begreifen, verstehe die gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft sich als »Kriegszivilgesellschaft« und berufe sich selbst ein, stelle also ihr Denken und Sprechen von vornherein in den Dienst einer Freund-Feind-Unterscheidung.

Dem will der Baseler Philosoph mit seinem Essay »Abseits des Krieges« Reflexionen entgegensetzen, die bereits im Titel andeuten, von wo aus sie erfolgen. Denn das Zivile stellt eine Bedingung dar, unter der wahre philosophische Reflexion überhaupt erst erfolgen kann. Aus diesem Grund hält Hindrichs bereits zu Beginn fest: »Hinter den folgenden Überlegungen steht daher das Nein zum Krieg.« Doch so leicht kann sich die Philosophie nicht abseits stellen. Da sie von Sachen handeln, die alle angehen, tritt sie »in den Raum des Miteinandersprechens und Miteinanderhandelns ein«. Diese Zwickmühle gelte es auszuhalten, »in der Hoffnung auf Gehör durch andere«.

So klug wie die einleitenden Bemerkungen ist Hindrichs prinzipieller Ansatz. Unter zehn Gesichtspunkten – Weltgeschichte, Recht, Macht, Befreiung, Selbsterhaltung, Helden, Institutionen, Angst, Religion, Militarismus – untersucht er den Krieg. Von diesen zehn Bestimmungen will er aufweisen, dass sie sich in unlösbare Widersprüche verwickeln: »Weil die Bestimmungen sich in Aporien verwickeln, verneinen sie den Krieg. (…) Sie verneinen den Krieg, indem sie ihn darstellen – die Darstellung des Militarismus ist Antimilitarismus.«

Mit seinem hohen philosophisch-begrifflichen Anspruch bei gleichzeitiger klarer Positionierung steht der Essay in der intellektuellen Landschaft der Gegenwart einzigartig dar. Auch die Form steht dem Inhalt nicht nach, Hindrichs nähert sich den kategorialen Bestimmungen sprachlich elegant und in meist stringenter Argumentation.

Nicht immer jedoch wird der Anspruch erfüllt. Mitunter ist unklar, ob die Aporien wirklich solche des Krieges selbst sind. So übt etwa das Kapital »Befreiung« vor allem Kritik an manchen linken Interpretationen, die Ukraine führe einen quasi antikolonialen Befreiungskampf. Hindrichs argumentiert, damit werde die eigene koloniale Geschichte Europas auf den Feind der Gegenwart projiziert. Damit betreibt er aber eher klassische Ideologiekritik gegenüber einer Strömung der Linken, anstatt eine immanente Kritik des Krieges vorzunehmen.

Die Behandlung der anderen Bestimmungen ist schlüssiger. Hindrichs hebt an mit dem Urteil Hegels, die Weltgeschichte sei das Weltgericht, so dass jeder Krieg vor dem weltgeschichtlichen Zusammenhang, in dem er steht, begreiflich wird. Hindrichs kann hier überzeugend beanspruchen, eine allgemeine Bestimmung mit dem konkreten Ukraine-Krieg, der ja im öffentlichen Diskurs oft als »Zeitenwende« verstanden wird, zu verknüpfen. Auch die anschließende Kritik Hegels ist sinnvoll: »Ein Abschlussgedanke über Geschichtsprozesse kann nur bis zu seiner eigenen Gegenwart reichen. Was zukünftig sein wird, überschreitet seine Reichweite. Dann aber denkt er in Wahrheit keinen historischen Gesamtzusammenhang.« So fallen die in Hegels Urteil verbundenen Bestimmungen des Rechts und der rein faktischen Macht auseinander. Der Gang von Hindrichs’ Überlegungen erweist sich als in der Sache begründet.

Nun beansprucht Hindrichs am Ende seiner Reflexionen selbst einen Abschlussgedanken. Da der Militarismus das freie Miteinanderhandeln radikal ausschalte, gehe die Verneinung des Militarismus, also die Idee des Friedens, auf das Gegenteil: »Sie umrisse den Gelingensbereich freien Miteinanderhandelns. Mehr lässt sich wohl nicht sagen. Aber es bildet einen neuen Abschlussgedanken. In ihm wären die Fluchtlinien einer Weltgeschichte zusammengeführt, die ihre Zukunft nicht vergisst, sondern aus der Verneinung der militaristischen Gegenwart entwirft.«

Für konkretere Verneinungen scheint das Philosophieren des aus der Kritischen Theorie kommenden Hindrichs wenig Platz zu bieten. Eine Weltgeschichte, die ihre Zukunft nicht vergisst, ließe sich natürlich marxistisch denken. Hindrichs geht diesbezüglich erstaunlich weit mit und schluckt sogar »die marxistische Kröte«, dass die bürgerliche Gesellschaft »zur Aufrechterhaltung ihrer wirtschaftlichen Grundlagen Krieg führen muss«. Doch von Klassen oder konkreten Akteuren spricht er nicht. Auch bleibt trotz ständiger Bezüge die Bedeutung des Ukraine-Krieges und damit das Verhältnis des historisch Besonderen zum Allgemeinen des Krieges unklar.

An die Stelle einer historischen Selbstverortung scheint bei Hindrichs eine christlich-transzendente Utopie zu treten, wie das Religionskapitel andeutet. Dort gelangt Hindrichs über einen sehr kurzen Bezug auf den späten Foucault und die spirituelle »Sorge um sich« zunächst dahin, in der Identitätspolitik eine »identitäre Religion« zu sehen. Nicht nur wird hier etwas begriffsunscharf von Spiritualität direkt zur Religion gesprungen, auch scheint dieser Einschub vor allem dazu zu dienen, in einer weitgehend säkularen Welt doch wieder die Religion ins Spiel zu bringen.

In ergänzenden Passagen interpretiert Hindrichs den biblischen Auszug des Volkes Israel aus Ägypten als revolutionären Kampf: »Legt man das frei, dann bildet der Monotheismus keine Religion des Krieges mehr. Statt dessen spricht er von der Transzendenz der Freiheit und ihrem Kampf.« Doch der Status dieser Interpretation bleibt selbst vage. Ist es eine Analogie? Ein bloßes Vorbild neuzeitlicher Revolutionen? Gibt es ein neues Volk Israel?

Offen bleibt daher auch die Perspektive, die der Essay für das politische Handeln bieten kann. In Hindrichs’ »Philosophie der Revolution« heißt es, Gott schreibe »die Handlungsregeln auf die Herzen der Revolutionäre«. Abgesehen davon, dass schon die Formel an sich unklar bleibt, so scheinen die Regeln des Miteinanderhandelns, welche die militaristische Gegenwart überwinden könnten, nichts menschlich Verhandelbares zu sein. Doch trifft dies zu, so bliebe auch für den Antimilitarismus nur der einsame Ruf in der Wüste – oder das Miteinanderschweigen.

Gunnar Hindrichs: Abseits des Krieges. Ein philosophischer Essay. Verlag C. H. Beck, München 2024, 126 Seiten, 16 Euro

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