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Aus: Ausgabe vom 20.06.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Großbritannien

Neuer Zentrismus

Großbritannien: In ihrem Wahlprogramm gibt sich Labour sozial. Bekenntnis zur Zweistaatenlösung soll verlorene muslimische Wähler zurückgewinnen
Von Dieter Reinisch
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Erst die Partei nach rechts gerissen, nun auf Fang der dabei verlorenen Stimmen: Starmer im Rededuell mit Sunak

Nichts scheint Keir Starmer aufhalten zu können. Obwohl er Labour weiter nach rechts geführt hat als jeder Parteichef vor ihm, steht er vor einem fulminanten Wahlsieg bei den Unterhauswahlen am 4. Juli. Die scharfe Kritik aus dem ehemaligen Jeremy-Corbyn-Lager hatte kaum eine Wirkung. Ein Grund dafür ist die Zersplitterung der Linken nach der Säuberung der Partei durch Starmer selbst in den letzten Jahren.

Im ersten Duell mit dem Premierminister Rishi Sunak hatte Starmer noch schlecht ausgesehen. Die Mehrheit der Befragten gab ab, einen besseren Eindruck vom Tories-Chef zu haben. In den Umfragen konnten die Konservativen dennoch keinen Boden wettmachen. Seit über einem Jahr liegen sie rund zwanzig Prozentpunkte hinter Labour.

Beim zweiten Liveduell am vergangenen Mittwoch sah es ganz anders aus. Zwei Drittel der Befragten bescheinigten Starmer einen Sieg im Duell. Einen Tag später stellte dieser sein Wahlmanifest vor. »Reichtum schaffen« und »Wirtschaftswachstum« sind die Schlagworte der Partei. Bei der Vorstellung des Parteimanifests in Manchester sagte Starmer dem Publikum: »Die Art und Weise, wie wir Vermögen schaffen, ist falsch. Sie hinterlässt bei viel zu vielen Menschen ein Gefühl der Unsicherheit. Reichtum schaffen ist unsere oberste Priorität. Nehmen Sie heute das mit: Wir sind pro Unternehmen und pro Beschäftigte. Wir haben einen Plan zur Vermögensbildung.« Und er fügte hinzu: »Für die arbeitende Bevölkerung ist es zu schwer voranzukommen, die Chancen sind nicht gleichmäßig genug verteilt.« Konkret möchte Labour die Ausgaben kürzen, um so einen ausgeglichenen Haushalt zu schaffen: »Die Schulden müssen in den nächsten fünf Jahren sinken.«

Es sollen 1,5 Millionen neue Wohnungen gebaut und ein staatlicher Energieversorger, GB Energy, geschaffen werden. Auch die Automobilindustrie soll ausgebaut werden. Harte Hand zeigt das Labour-Manifest in der Immigrationsfrage: Es sieht die Einrichtung eines Grenzschutzkommandos vor, wofür Hunderte neue Beamte einzustellen wären – gegenfinanziert durch die Abschaffung des Ruanda-Programms. Die Vermehrung der Beamten soll den »Rückstau in der Bearbeitung von Asylanträgen« lösen – kurz: weniger Einwanderung und raschere Abschiebungen. Auch im Inneren setzt Starmer auf Law and Order: »Tausende neue Polizisten« verspricht er einzustellen. Zudem will er neue Straftatbestände einführen, um die Jugendkriminalität unter Kontrolle zu bekommen.

Die Labour-Rechte feiert das Manifest: »Es spiegle den neuen Zentrismus wider«, schreibt Starmer-Beraterin Claire Ainsley auf Labourlist. »Starmer hat klar von den Erfahrungen in den USA gelernt und sich an der Regierung Biden orientiert.« Scharfe Kritik dagegen kommt von der verbliebenen Labour-Linken. Labours Zurückhaltung in bezug auf Steuererhöhungen und weitere Ausgaben »verurteilt das Gesundheitswesen NHS zu weiterer Fragmentierung und Niedergang«, warnte die Socialist Health Association in einer Aussendung. Sie kritisierte auch einen »Mangel an Details« im Labour-Manifest. Labours Wahlversprechen zur Gesundheit beinhalten die Verdoppelung der Anzahl der Krebsscanner, die Ausbildung Tausender zusätzlicher Hausärzte und Hebammen und 40.000 zusätzliche Arzttermine pro Woche, um die Wartezeiten zu verkürzen.

Trotz der Kritik am zentristischen Wahlprogramm, das vorwiegend Vor­teile für Unternehmen bringt, können die meisten Gewerkschaften keine klare Kritik vorbringen – zu groß sind die Illusionen und Hoffnungen, durch eine Labour-Regierung endlich wieder an den Trögen der Macht zu sitzen. Die großen Gewerkschaften GMB und Unison feierten daher das Manifest.

Nur die kämpferische Unite-Gewerkschaft äußerte Kritik: Generalsekretärin Sharon Graham sagte, die Vorschläge von Labour würden »nicht weit genug gehen«. Unite ist die einzige labour-nahe Gewerkschaft, die das Wahlprogramm nicht unterstützt. Sie sagte, es seien »rote Linien« überschritten worden, insbesondere bei den Arbeiterrechten und dem Verbot neuer Lizenzen für die Öl- und Gasförderung in der Nordsee »ohne einen konkreten Plan für die Sicherung von Arbeitsplätzen zu präsentieren«.

»Um Großbritannien nach Jahren der Vernachlässigung durch die Tories wieder in Ordnung zu bringen, wird mehr Geld benötigt, und es müssen klare Entscheidungen getroffen werden. Wir alle wollen Wachstum, und die von Labour vorgeschlagenen Änderungen könnten das im Ansatz bewirken – allein wird es wahrscheinlich nicht ausreichen«, sagte Graham. Symptomatisch für die Verwirrungen der Labour-Linken ist das Verhalten von Unite: Obwohl sie das Wahlprogramm nicht unterstützen, rufen sie zur Wahl von Labour auf.

Außenpolitisch scheint Bewegung in die Partei zu kommen. Nachdem Starmer sich lange geweigert hatte, einen Waffenstillstand in Gaza zu unterstützen, und dafür stark kritisiert worden war, zeigt das Wahlprogramm nun eine stärker propalästinensische Haltung. Im Rahmen ihres Wahlmanifestes verpflichtet sich die Partei dazu, einen palästinensischen Staat »als Beitrag zu einem erneuerten Friedensprozess anzuerkennen, der zu einer Zweistaatenlösung führen soll«. Desgleichen fordert sie einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung aller Geiseln, die Einhaltung des Völkerrechts und die rasche Ausweitung der Hilfe für Gaza. Das Manifest beschreibt die palästinensische Eigenstaatlichkeit als »unveräußerliches Recht des palästinensischen Volkes«.

Im Herbst hatte Labour in Umfragen stark unter muslimischen Wählern verloren. Zudem traten über 100 Gemeinderäte aus der Partei aus. Mit den klareren Forderungen zu Gaza sollen muslimische Wähler wieder zurückgewonnen werden.

Hintergrund Historische Schlappe

Labour hält die konservativen Tories in den Umfragen auf weite Distanz. Seit nunmehr zwei Jahren liegt die Partei nahezu durchgehend zwanzig Prozentpunkte vor der von Rishi Sunak geführten Konkurrenz. Der gibt sich dennoch optimistisch: »Wir haben erst die Hälfte des Wahlkampfs hinter uns. Ein Sieg ist immer noch möglich«, verkündete er verwunderten Medienvertretern vergangene Woche. Auch jüngste Umfragen bestätigen derweil, dass die Tories auf die schwerste Wahlschlappe ihrer Geschichte zusteuern. Und es könnte noch schlimmer kommen, denn in den reinen Prozentzahlen ist der Abstand der Tories zu den kleineren Parteien nicht mehr so groß. In einer am Mittwoch veröffentlichten Ipsos-Umfrage liegt Labour bei 43 Prozent, die Tories bei 25, Nigel Farages rechtspopulistische Reform UK kommt auf 12, die Liberaldemokraten (Libdems) erreichen 10, die Grünen 6 und die schottischen Nationalisten (SNP) 3 Prozent. Allein das Mehrheitswahlrecht dämpft den Sturz der Tories etwas. In der Mandatsverteilung des kommenden Unterhauses käme Labour zu 453 Sitzen, während auf die Konservativen 115 entfielen. Libdems erhielten 38, SNP 15, Grüne und Reform UK jeweils drei. In Umfragen der vergangenen Woche hatte Reform UK sogar sieben Sitze erreicht. Bekannte konservative Politiker würden demnach ihre Sitze verlieren, darunter Grant Shapps, Penny Mordaunt, Gillian Keegan, Johnny Mercer und Jacob Rees-Mogg. Die Ipsos-Umfrage zeigt auch, dass bei 117 Sitzen der Kampf noch nicht entschieden ist. Der Vorsprung des jeweils Führenden beträgt dort weniger als fünf Prozentpunkte, der Anteil unentschlossener Wähler ist in den betreffenden Wahlkreisen besonders hoch. Kurzum: Die Tories könnten noch weiter fallen. Einen Ausreißer in diese Richtung markierte eine Yougov-Umfrage von Ende vergangener Woche. Nach ihr lag Reform UK mit 19 Prozent sogar erstmals zwei Punkte vor den Tories. (dr)

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