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Aus: Ausgabe vom 22.06.2024, Seite 12 / Thema
Marxismus

Vorwärts in die Vergangenheit

Rahel Jaeggis »Fortschritt und Regression« steht stellvertretend für die Renaissance der Geschichtsphilosophie – und für deren Schwächen
Von Marc Püschel
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Giambattista Vico (1668–1744) unterstellte einen zyklischen, aber insgesamt aufsteigenden Geschichtsverlauf und beharrte darauf, dass der Mensch seine Geschichte vollständig erkennen kann, weil er sie selbst macht (Frontispiz von Vicos Opus magnum »Scienza nuova«, überarbeitete Ausgabe von 1744)

Geschichtsphilosophie ist die große Anomalie der Philosophiegeschichte. Seit der Hochphase der Athener Philosophie sind alle Teilbereiche, über die sich überhaupt philosophieren lässt, vorgeprägt. Ob Metaphysik, Ethik, Erkenntnistheorie, Logik, Biologie, Physik, Ästhetik/Poetik, Politik, Recht, Wirtschaft, Kultur oder Religion – sie alle werden bereits bei Platon und Aristoteles zum Gegenstand des reinen Denkens. Das berühmte Bonmot von Alfred North Whitehead, alle abendländische Philosophie sei nur eine Fußnote zu Platon, lässt sich von diesem umfassenden Anspruch, alles nur Denkbare zu erörtern, her verstehen. Allein die Geschichtsphilosophie hat ihr eigenes Kapitel geschrieben.

Das an den Naturzyklen orientierte antike Weltbild hat ein wirklich geschichtliches Denken noch nicht zugelassen. So findet sich bei Platon im Phaidon-Dialog eine Verteidigung des »Werdens im Kreis« gegenüber einem »gerade fortschreitenden Werden« (im Rahmen einer Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele). Der nichtzyklische Fortgang wurde als Zuwachs von Chaos und Formlosigkeit verstanden. Erst mit dem Christentum trat ein Geschichtsdenken ein, dass von der Einzigartigkeit historischer Ereignisse ausgeht. Schöpfung der Welt, Jesus Christus und das Jüngste Gericht sind Eckpunkte eines linear gedachten Geschichtsverlaufs.

Ausgang im Christentum

Als das Christentum, das in der Spätantike mit dem römischen Kaiserreich fast zu verschmelzen schien, mit der Plünderung Roms durch die Westgoten 410 in eine Legitimationskrise geriet, entwarf der Kirchenvater Augustinus in seinem Werk »De civitate Dei« (Vom Gottesstaat) eine erste entwickelte Theorie über den Verlauf der Geschichte. Da sich das christliche Denken jedoch um außerweltliche Bezugspunkte dreht, auf die alles menschlichen Handeln hin orientiert ist oder von ihm aus beurteilt wird, kann hier höchstens von einer »Geschichtstheologie« gesprochen werden.

Die Geschichtsphilosophie entwickelte sich erst im Abstoßen vom christlichen Geschichtsdenken, das im »Discours sur l’histoire universelle« (1681) des Bischofs Jacques-Bénigne Bossuet noch einmal systematisch entwickelt wurde. Erst mit der Aufklärung kam die menschliche Geschichte in ihrer eigenen Dynamik in den Blick. Entscheidende Impulse setzten der Italiener Giambattista Vico, der darauf verwies, dass der Mensch seine Geschichte vollständig erkennen kann, weil er sie selbst macht (eine These, die seither als »Vico-Axiom« bezeichnet wird); Voltaire, der Mitte des 18. Jahrhunderts als erster den Begriff »Philosophie der Geschichte« verwendete; und Condorcet, der in seinem »Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain« (Entwurf eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes) von 1794 den Gedanken einer gesetzmäßigen Vervollkommnung der Menschheit mustergültig ausformulierte.

Von hier an gab es kaum ein Halten mehr. Bei Hegel und Marx ist die Geschichte fast zu einer Art Grundlagendisziplin geworden, bevor schließlich im Laufe des 19. Jahrhunderts alle Bereiche der Wissenschaften vom Sog eines historistischen Denkens erfasst wurden. Doch so schnell der Aufstieg, so rasch war auch der Fall der Geschichtsphilosophie. Bereits der Historismus des 19. Jahrhunderts war schon früh nicht mehr am Ganzen der Geschichte interessiert. Das Diktum des Historikers Leopold von Ranke, jede Epoche stehe unmittelbar zu Gott, verweist auf den neuen Relativismus, der mit dem allgemein-historischen Denken einherging. Im 20. Jahrhundert wurde dieser Relativismus – auch als Reaktion auf solche schrecklichen Ereignisse wie den Holocaust – noch zugespitzt. Den Schlusspunkt scheinen Jean-François Lyotard mit seinem postmodernen Abgesang auf die »großen Erzählungen« und Francis Fukuyama mit seiner berüchtigten These vom »Ende der Geschichte« gesetzt zu haben. Ein Denken, das sich auf die Geschichte als Ganzes richtet und darin eine Entwicklung zu erkennen vermag, scheint obsolet geworden zu sein.

Problemlösungen

Seit etwas mehr als zehn Jahren jedoch feiert die Geschichtsphilosophie plötzlich eine Renaissance. An Universitäten sind Seminare über sie wieder an der Tagesordnung, und eine Reihe neuer Einführungen ist erschienen – vielleicht nicht zufällig alle in den Jahren nach der Wirtschaftskrise von 2008/09, die nach einer langen Phase der Stabilität wieder die Brüchigkeit der liberal-kapitalistischen Weltordnung demonstrierte.¹ Lange Zeit beschränkten sich diese Bemühungen darauf, rein philosophiegeschichtlich bereits bestehende Theorien neu darzustellen und zu diskutieren.² Mit der Kritischen Theoretikerin Rahel Jaeggi tritt nun erstmals eine Philosophin auf, die in ihrem jüngsten Werk »Fortschritt und Regression« den Anspruch erhebt, ein neues umfassendes Konzept in die Geschichtsphilosophie einzubringen.³

Keine Geschichtsphilosophie, so Jaeggi, sei keine Lösung. Denn will man die Welt nicht nur positivistisch auffassen, sondern auch »die Widersprüche und Krisen dieses Wirklichen zusammen mit den Potentialen seiner Veränderung begreifbar« machen, muss man ein grundsätzliches Verständnis für historische Veränderungen entwickeln. Sie selbst nähert sich der Geschichte durch Reflexionen des Begriffspaars Fortschritt und Regression. Grundsätzlich will Jaeggi dabei gegenüber idealistischen Geschichtsauffassungen auch an einem »materialistischen Moment« festhalten.

Anstatt Fortschritt und Regression inhaltlich zu bestimmen, argumentiert die Berliner Professorin, dass es sich dabei jeweils um »eine Form des Wandels handelt, genauer: um eine bestimmte Weise, auf Krisen zu reagieren und Probleme zu bewältigen. Fortschritt ist, auf eine kurze Formel gebracht, ein sich anreichernder, Regression ein systematisch blockierter Problemlösungs- und Erfahrungsprozess.«

Dieser Kerngedanke wird auf rund 250 Seiten weiter entwickelt. Das Verständnis von Fortschritt als Problemlösungsprozess soll dabei den teleologischen Gedanken, Geschichte entwickele sich auf ein immer schon festgelegtes Ziel hin, ebenso überwinden wie die Überzeugung, Fortschritt komme automatisch (obwohl sie selbst darauf hinweist, dass letzteres ein Strohmann sei, da fast niemand mehr eine solche Auffassung vertrete).

Immer wieder betont Jaeggi dabei: »Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme.« Ob sie fortschrittlich seien oder nicht, bemesse sich daher an der Qualität der Problemlösung, nicht an einem vorab festgelegten, ahistorischen Maßstab. Fortschrittlich sei daher nicht diese oder jene ganz konkrete Lösung, sondern die Art und Weise, wie Lösungen für gesellschaftliche Probleme angestrebt und erreicht werden.

Dazu differenziert Jaeggi zwischen Problemen erster und zweiter Ordnung. Jene sind die ursprünglich auftretenden Probleme, wie zum Beispiel Armut in einer Gesellschaft, Klimawandel, politische Instabilität eines Gemeinwesens, usw.; diese betreffen die Art und Weise, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Ob also bestimmte Lebensformen und Praktiken fortschrittlich sind, »entscheidet sich eben nicht an der Frage, ob sie die diese auslösenden Probleme erster Ordnung lösen, sondern ob sie Probleme zweiter Ordnung lösen können: ob sie also über die dazu erforderlichen institutionellen Ressourcen und Möglichkeiten der Initiierung von Reflexions- und Problemlösungsprozessen verfügen. Die Frage ist also nicht, ob sie faktisch – manchmal oder häufiger – Probleme lösen, und noch nicht einmal nur, ob sie – manchmal oder häufiger – lernen. Die Frage ist, ob sie gelernt haben, zu lernen.«

Komplementär dazu wird Regression definiert als eine »Krise zur Lösung von Krisen« und das »Unvermögen, eine Krise zu bewältigen oder ein Problem zu lösen«. Das Resultat dieser Überlegungen, so Jaeggi, sei ein »nichtteleologischer, pragmatistisch-materialistischer und dabei pluraler Fortschrittsbegriff«.

Schwachpunkte

Ist denn nun dieser Ansatz selbst ein theoretischer Fortschritt? Zunächst kommt man nicht umhin, darin eine ganze Reihe innerer Widersprüche festzustellen. Bereits die oft wiederholte Formulierung, dass Gesellschaften kein Ziel haben, sondern Probleme lösen, leuchtet nicht recht ein. Denn anderorts schreibt Jaeggi selbst: »Praktiken haben ein inhärentes Telos. Sie sind auf ein Ziel gerichtet, das durch sie erreicht werden kann.« Was Teleologie, was individuelle und kollektive Zielsetzungen sind, wird jedoch überhaupt nicht erörtert. Dabei hat diese Frage eine lange Tradition und bereits Aristoteles behandelt im siebten Buch der »Metaphysik« das Zielsetzen in Hinblick auf die Baukunst, also ausgehend von Arbeitsprozessen.

Auch Jaeggis Verschiebung der Fortschrittsfrage auf die reine Form eines Problemlösungsprozesses ist problematisch. Denn was eine erfolgreiche Problemlösung war, kann immer erst im nachhinein bestimmt werden. Dies hieße aber letztlich, dass über kein einziges politisches Phänomen in der Gegenwart begründet geurteilt werden könnte, ob es fortschrittlich oder regressiv ist. So müsste man auch, bleibt man streng in Jaeggis Konzeption, beispielsweise bei rechten Populisten wie Donald Trump oder Javier Milei abwarten, ob ihre Politik nicht vielleicht doch zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beiträgt.

Problematischer noch als diese Leerstellen in der Begründung ist allerdings die extreme Abstraktheit von Jaeggis Konzeption. In dem Buch ist viel die Rede etwa von einem »komplexen Verflechtungszusammenhang«, einer »multifaktoriellen wechselseitigen Beeinflussung unterschiedlicher Praxissphären« oder einem »komplex geknüpften Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, Einflüsse, Effekte und Verbindungen vielfältiger Art und Richtung«. Wie das alles weiterhelfen soll, bleibt so rätselhaft wie bei anderen Definitionen. So seien Überzeugungen »in Praktiken, Praktiken in Überzeugungen eingebettet«, sozialer Wandel sei »ein krisengetriebener Problemlösungsprozess« und etwas geschichtlich Neues entstehe »aus den Grenzen und den Konflikten, die sich aus einer alten sozialen Ordnung und über diese ergeben und im Zweifelsfall aus den Widersprüchen, von denen diese gezeichnet ist«.

Wechselwirkungen

Die Reihe abstrakter Bestimmungen, die nicht weiterhelfen, ließen sich noch beliebig fortsetzen. Das alles erinnert nun eher an die schlechtesten Momente marxistischer Historiographie, wo der Begriff »Wechselwirkung« mitunter als bloßes Füllwort diente, um Diskrepanzen zwischen historischer Faktenlage und marxistischen Theoremen zu überdecken. Tatsächlich bezieht sich Jaeggi selbst auf marxistische Bestimmungen, die sie zu erweitern meint: »Statt von einem einseitigen Bedingungsverhältnis zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen, geht eine in meinem Sinne ›ermäßigte‹ beziehungsweise erweiterte Version dieses Verhältnisses von einem wechselseitigen Verhältnis aus.«

Wo hier aber die Neuerung sein soll, bleibt offen. In bezug etwa auf die Basis-Überbau-Frage wies bereits Friedrich Engels auf die entscheidende Rolle von Wechselwirkungen hin: »Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (…) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt.«⁴

Jaeggis Plädoyer gegen allzu deterministische Auffassungen in allen Ehren, doch worin sie einen Mehrwert gegenüber dem ihr zufolge »revisionsbedürftigen« Marx bieten kann, bleibt offen. Zwar vermeidet sie mit ihrem Verständnis, Fortschritt nur als Form des Problemlösens zu fassen, allzu voreilig logische Strukturen in die Vergangenheit zu projizieren. Zugleich bleibt sie mit diesem Formalismus der eigentlichen Geschichte völlig äußerlich. Historische Ereignisse und Prozesse tauchen zwar als Beispiel auf, ohne dass jedoch historische Forschung stattfindet und mit allgemeinen Prinzipien vermittelt wird (wie es beispielsweise Marx auf bestechende Weise in »Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon« macht). So erscheint, zugespitzt formuliert, Jaeg­gis Buch in Sachen historischer Konkretion als theoretische Regression.

Ziel und Notwendigkeit

Gegen eine solche Konzeption ist der Marxismus in Sachen Geschichtsverständnis weitaus konkreter und sachhaltiger. Und doch wird ihm unterstellt, eine überholte Form der Geschichtsphilosophie zu sein. Viele Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden, beruhen jedoch auf Missverständnissen.

So wird behauptet, der Marxismus gehe von einem fest definierten Ziel, dem Kommunismus, aus, das immer schon als Ziel der Menschheit gesetzt sei und auf das sie sich unvermeidlich zubewege. Doch eine solche A-priori-Setzung eines bestimmten Ziels nehmen zwar viele Aufklärer vor (die an utopische Vorstellungen aus der Frühen Neuzeit, etwa von Tommaso Campanella, anknüpfen), nicht jedoch Marx und Engels. Sie knüpften vielmehr an Hegel an, der bereits die Setzung eines bestimmten Zielzustands überwand. Die Geschichte ist für ihn zwar der »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, doch Freiheit meint keinen hier konkret definierten Endzustand, etwa einen Staat von dieser oder jener Beschaffenheit, sondern die Möglichkeit, sich selbst bewusst bestimmen zu können. In Bezug auf die Menschheit bedeutet dies: Das Ziel der Geschichte besteht in der freien Selbstorganisation einer Menschheit, die nicht mehr blind ihren Naturvoraussetzungen und ihren eigenen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Darüber, welche konkreten Organisationsformen sich eine befreite Menschheit geben würde, ist damit noch nichts gesagt. Doch dass die historischen Prozesse auf diese Freiheit abzielen, dies war für Hegel aus der Rekonstruktion der Form der bisherigen geschichtlichen Entwicklung heraus begreifbar.

Während Hegel den Fortschritt nur bis zu seiner Gegenwart verfolgte, weil darüber hinaus nichts wissenschaftlich Gesichertes gesagt werden könne, gingen Marx und Engels noch einen entscheidenden Schritt weiter. Nicht nur kann aus der Geschichte eine formelle Entwicklungsrichtung abgeleitet werden, sondern auch das Haupthindernis für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit – denn dieses ist ebenso gegenwärtig und kann daher wissenschaftlich bestimmt werden. Der Kommunismus ist daher kein a priori gesetztes Utopia, sondern ein Zustand, der als bestimmte Negation einer aufgrund des Privatbesitzes an Produktionsmitteln krisenhaften Gegenwart eingesehen wird. Übersetzte man dies in Jaeggische Termini, so könnte man sagen: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ist eine Problemlösung, die die Menschen befähigt, ihre zukünftigen Probleme zu lösen, und ist in diesem Sinne ein Anreichungsprozess für menschliches Lernen – doch verwäscht solch eine Begrifflichkeit den klaren Sinn der Marxschen Bestimmungen eher, als dass sie einen Gewinn darstellt.

Eigendynamik des Kapitalismus

Verwickelter als das Problem des Zielpunkts der Geschichte ist die Frage, wie determiniert die historische Entwicklung ist. Auch Marx und Engels sind hier nicht eindeutig. In der Grabrede auf seinen Freund hob Engels zwar hervor: »Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte.«⁵ Doch wie streng der Begriff »Entwicklungsgesetz« zu fassen ist und worauf er sich bezieht, ist umstritten. Marx selbst schrieb im »Kapital«, »die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation«.⁶ Diese strenge Determination im Sinne von Naturgesetzen bezieht Marx jedoch in erster Linie auf die Eigendynamik des Kapitalismus. In Bezug auf eine alle Gesellschaftsformationen übergreifende Gesetzmäßigkeit war Marx vorsichtiger. So heißt es in einem Brief von 1877 über die Entwicklung Russlands, das Land werde nur dann »die unerbittlichen Gesetze dieses (kapitalistischen) Systems zu ertragen haben«, wenn es dahin strebt, »eine kapitalistische Nation nach westeuropäischem Vorbild zu werden«.⁷ Ob es eine solche wird, sah Marx als nicht ausgemacht, und er warnte daher an gleicher Stelle vor dem »Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein«.⁸

In dem Widerspruch zwischen Produktivkraft und Produktionsverhältnissen sahen Marx und Engels zwar ein vorantreibendes Moment in allen Gesellschaftsformationen (Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus bzw. Kommunismus), doch wie dieser Widerspruch sich in der konkreten historischen Situation auswirkte, sollte der historischen Forschung zur Klärung belassen bleiben.

Eingestanden, besonders in der alten Arbeiterbewegung mag eine recht deterministische Vorstellung vom Verlauf der Geschichte geherrscht haben. Doch bereits in Rosa Luxemburgs Diktum »Sozialismus oder Barbarei« steckt die Zurückweisung einer unvermeidlich-linearen Entwicklung. Der Sozialismus, das wissen seither alle Kommunisten, kommt nicht automatisch – doch ist er die einzige Form gesellschaftlicher Entwicklung, die als Fortschritt bezeichnet werden kann. Eine »Alternative« zum Sozialismus gibt es zwar immer, allerdings kann es sich dabei nur um eine Gesellschaft handeln, die in unlösbare Widersprüche verstrickt bleibt und das herrschende Elend reproduziert. Kurz: die Barbarei.

Unabweisbare Mühen

Auch aus dieser Perspektive scheint nun zunächst geschichtsphilosophisches Denken obsolet und sich in historischer Einzelforschung einerseits und konkreter Politik andererseits aufzulösen. Doch lehnt man jegliche Geschichtsphilosophie, das heißt die Betrachtung der Geschichte als Ganzes, ab, droht der Rückfall in den Positivismus. Die Stärke marxistischen Denkens bestand immer darin, Einzelforschungen in einen größeren Kontext einzubetten.

Die Möglichkeit einer solchen Einbettung in einen gesamtgeschichtlichen Rahmen sollte nicht voreilig bestritten werden. Zumindest sollte erst einmal der innerhalb der marxistischen Bewegung erreichte Stand zur Kenntnis genommen werden, der weitaus umfassender ist als alle Antikommunisten es wahrhaben wollen. Oft wurde etwa der Untergang Roms als Beispiel für Widersprüche in der marxistischen Geschichtsauffassung herangezogen, weil die neuen Produktionsverhältnisse des Mittelalters mit einem Rückgang des Niveaus der Produktivkräfte einhergingen. Doch führten gerade solche Problemstellungen zu enorm fruchtbaren Debatten, die sich in der DDR beispielsweise im Zuge von Jürgen Kuczynskis Buch »Gesellschaften im Untergang« entspannten – eine der ausführlichsten Diskussionen, die es in der DDR-Geschichtswissenschaft gegeben hat. Die Frage ist dabei in einem so differenzierten Maße erörtert worden, dass selbst bundesrepublikanische Historiker ihren Kolleginnen und Kollegen aus der DDR Respekt zollten und auf die Notwendigkeit hinwiesen, deren Ergebnisse zu rezipieren.⁹ Die grob scheinende Stufenfolge von Gesellschaftsformationen wurde schon längst in zahlreichen Bereichen verfeinert und konkretisiert.

Doch Geschichtsphilosophie scheint nicht nur möglich, sondern auch nötig. Von Walter Benjamin stammt die Mahnung, nichts habe die deutsche Arbeiterschaft so korrumpiert wie die Meinung, »sie schwimme mit dem Strom«. Der mittlerweile herrschende Glaube, es gäbe gar keinen historischen Strom, trägt aber offenkundig auch nicht gerade zur Stärkung der Bewegung bei – eine Arbeiterbewegung, wie Benjamin sie vor Augen hatte, sie mag noch so korrumpiert gewesen sein, wäre heutzutage bereits ein Schritt nach vorne. Denn wie in der Erkenntnisarbeit der Positivismus, so droht in der politischen Arbeit der Voluntarismus. Aus der Herabstufung des Sozialismus zu einer bloßen Möglichkeit folgt schnell Überforderung. Denn gibt es keine Einsatzmöglichkeiten für politisches Handeln mehr, die an objektiv erforschbare geschichtliche Entwicklungen anknüpfen, so bleibt nur die Forderung nach maximalem subjektivem Einsatz übrig – eine Forderung, die unzählige ausgebrannte Aktivisten hinterlässt.

Erst eine Verfeinerung unseres historisch-dialektischen Begriffsapparats wird den Marxismus wieder in den Stand setzen, die Leistung Lenins zu wiederholen. Denn es sollte nicht vergessen werden, dass gerade das Wissen um den dialektischen Gang der Geschichte die Menschheit befähigte, nicht in einem spontanen Aufstand wie der Französische Revolution oder der Pariser Kommune, sondern gemäß einer Jahrzehnte zuvor entworfenen Theorie zum ersten Mal planmäßig ihre eigene Geschichte zu verändern.

Anmerkungen

1 Die wichtigsten dieser Einführungen stammen von Johannes Rohbeck (2016 bei Junius), Emil Angehrn (2012 im Schwabe-Verlag) und Matthias Schloßberger (2013 im Akademie-Verlag).

2 Einen kreativen neuen, aber recht kurzen Ansatz bietet Daniel Martin Feige in seinem 2018 in der Zeitschrift für Kulturphilosophie erschienenen Aufsatz »Retroaktive Teleologie. Zur Aktualität geschichtsphilosophischen Denkens«.

3 Rahel Jaeggi: Fortschritt und Regression, Berlin: Suhrkamp 2023

4 Friedrich Engels: Brief an Joseph Bloch, 21. September 1890. In: MEW, Bd. 37, S. 463

5 Friedrich Engels: Das Begräbnis von Karl Marx. In: MEW, Bd. 19, S. 335

6 Karl Marx: Das Kapital. In: MEW, Bd. 23, S. 791

7 Karl Marx: Brief an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski, 1877. In: MEW, Bd. 19, S. 111

8 Ebd., S. 112

9 Peter Hassel: Marxistische Formationstheorie und der Untergang Westroms. In: Alexander Fischer/Günther Heydemann (Hg): Geschichtswissenschaft in der DDR, Berlin 1990, 81–98, hier S. 81

Marc Püschel schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11.6.2024 gemeinsam mit Marc Bebenroth und Maik Rudolph über die Fernsehserie »Fallout«: Strahlende Landschaften.

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