75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 2. Juli 2024, Nr. 151
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 24.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Wenn die Wünschelrute ausschlägt

Paul Murrays Roman »Der Stich der Biene« über eine dysfunktionale Familie im irischen Hinterland
Von Robert Best
imago0307501012h.jpg
Paul Murray im Oktober 2023 beim Cheltenham-Literaturfestival

Auf einer Welle großartiger, aus einer reichen Tradition schöpfender, kulturell und sozial wacher, sprachlich ambitionierter aktueller irischer und nordirischer Prosa, zu der auch die Werke von Anna Burns, ­Patrick McCabe, Blindboy Boatclub und Paul Lynch zählen, schwimmt Paul Murrays »Der Stich der Biene« momentan ziemlich weit oben. Der komische und abgründige Roman handelt von einer Mittelklassefamilie, die sich so richtig auseinanderlebt und in einem haarsträubend aberwitzigen Finale auf eine gewisse Art wieder zusammenfindet.

Im Zuge der Wirtschaftskrise ab 2008 geht es mit dem Autohaus von Dickie Barnes im Hinterland von Dublin bergab. Vorher wurde man auf Kosten von VW auf Kreuzfahrten eingeladen, jetzt hat keiner mehr Geld für ein Auto. Dickie, der seinen Job eh auf einer halben Pobacke abzusitzen schien, kümmert das offenbar kaum. Er baut lieber einen Bunker im Wald. Dabei tut er vor allem, was Victor ihm rät, ein Waldschrat, der sein Handy in Aluminiumfolie einpackt und invasive schwarze Eichhörnchen erlegt. Dickie lebt in Momenten auf wie dem, wenn nach langer Quellensuche auf einmal die Wünschelrute ausschlägt. Wozu das alles? Für die »Sicherung der Zukunft«, so nebulös erklärt es Dickie seiner teils hochgradig irritierten Familie. Tochter Cass fühlt sich verraten. Hätte sie doch nur schon das Abi in der Tasche und wäre in Dublin auf der Uni! Die Entfremdung geht so weit, dass Cass in der Gesellschaft ihres Vaters »nur noch glücklich sein kann, wenn sie das Gefühl hat, ihn gedemütigt zu haben«. So bitter sie sind, so komisch sind derlei Tiefpunkte auch, weil Murray immer noch eine Schippe Schlamm drauflegt, wenn man meint, das war es jetzt.

Dabei ist Dickie nie das arme Würstchen, das er von außen betrachtet abgeben würde. Murray liegen seine Figuren offensichtlich am Herzen. Er macht sie verständlich und sympathisch und stattet sie nach und nach mit reichen Hintergrundreliefs aus, die zusammengenommen die schönsten Spannungsfelder ergeben. Dazwischen tummeln sich Poetinnen, allmächtige, grausame Väter, Chefsesseltypen, die als Kind gebettelt und buchstäblich Dreck gefressen haben, hellseherische, aber gleichgültige Tanten, Prepper (haben die nicht am Ende doch recht?), Nerds, die die Prepper auf Youtube imitieren (»Und jetzt lern deinen neuen besten Freund kennen – die Abdeckplane«), begnadete Gaelic-Football-Spieler, Gestalten aus irischen Sagen, Debattierklubredner und Wiedergänger. Und über allem schwebt das Damoklesschwert Klimakollaps. Auf 700 Seiten ist viel Platz.

Trotz des Textumfangs gelingt es Murray stets, auf engstem Raum prägnant zu formulieren. Die Kapitel über Dickies schillernde Ehefrau Imelda sind ohne Satzzeichen gefugt. Das passt zu dieser Figur, die Komplexitäten rasch erfasst, sich oft aber nicht lang mit ihnen aufhält (sie hat genug Durchblick, gordische Knoten aufzuknüpfen, zerschlägt sie aber lieber mit dem Schwert): »Sie wusste dass er glaubte sie versuchte sich seinen Sohn zu angeln und sie wusste dass er wusste dass sie es wusste.« Alles klar?

Schneller gewöhnt man sich daran, dass die Erzählerin irgendwann, als sie dem Leser auch schon ans Herz gewachsen sind, anfängt, ihre Figuren zu duzen, etwa Cass und ihre dominante Sandkastenfreundin Elaine. »Elaine schaut dich an, wie sie dich immer anschaut, wenn jemand anders sie anschaut, wenn sie dich anschaut.« Gibt es keinen unverstellten Blick auf den anderen, keinen Ausweg aus diesem Blickbillard, keine Zuneigung, in der nicht Erwartung, Ungeduld oder Vorwurf mitschwingen? Murray schickt seine Figuren und mit ihnen seine Leser auf die Suche nach einem Safe Space, in dem (Selbst-)Liebe möglich ist, nach einem Ort, wie er Adorno vorschwebte, als er formulierte: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.«

Paul Murray: Der Stich der Biene. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Verlag Antje Kunstmann, München 2024, 700 Seiten, 30 Euro

Großes Kino für kleines Geld!

75 Augaben für 75 €

Leider lässt die Politik das große Kino vermissen. Anders die junge Welt! Wir liefern werktäglich aktuelle Berichterstattung und dazu tiefgründige Analysen und Hintergrundberichte. Und das zum kleinen Preis: 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt erhalten Sie mit unserem Aktionsabo für nur 75 €!

Nach Ablauf endet das Abo automatisch, Sie müssen es also nicht abbestellen!

Regio:

Mehr aus: Feuilleton

                                            Prozess: junge Welt vs. Staat - Hier können Sie spenden.