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Aus: Ausgabe vom 26.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Rock-’n’-Roll

Eine bessere Welt

Minimal-Rock-’n’-Roll: Escape-ism spielten ein ziemlich phänomenales Konzert in der Berliner 8-MM-Bar
Von Maik Rudolph
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»Rome wasn’t burnt in a day / Took a lot of time for the bricks to be razed (…) / See everybody had a turn / To make Rome burn / But these Romans, they never learn / It’s time to take a match man / It’s time to return« – Ian F. Svenonius

Es ist ein deutliches »Je, Je, Je!« – kein »Yeah, Yeah, Yeah!« –, mit dem Ian F. Svenonius die Meute vor der Bühne anheizt; Genosse Walter hätte es nicht zu schätzen gewusst. Dann übersteuert eine Gitarre, ein Minimal-Electro-Beat versucht vergeblich, Struktur zu schaffen – bis der Bass einsetzt, dieser hypnotische Moment eintritt, wie beim ersten Hören der »Human Fly« von The Cramps. Plötzlich schallt Mick Jaggers cooler Doppelgänger: »Rome wasn’t burnt in a day. / Took a lot of time for the bricks to be razed (…) / See everybody had a turn / to make Rome burn / But these Romans, they never learn / It’s time to take a match man, it’s time to return« (Rom wurde nicht an einem Tag niedergebrannt. / Es dauerte lange, bis die Ziegel niedergerissen waren (…) / Seht, jeder war mal dran / Rom brennen zu lassen / Aber die Römer, sie lernen es nicht / Es ist Zeit, ein Streichholz in die Hand zu nehmen, es ist Zeit zurückzukehren). Allusionen an spätrömische Dekadenz und nicht weniger auch ein Aufruf, dass wir uns diesmal mehr ins Zeug legen sollten. Eskapismus gar? Nein, das ist Escape-ism, hier wird die Realitätsflucht proletarisiert, der Ismus ist zurück.

»The found-sound dream-drama in Scandinavia and Europe« hieß die aktuelle Tour, die am Montag in Paris ihr Ende gefunden hat. Für einen Abend, am vergangenen Freitag, hielten Escape-ism auch in der Berliner 8-MM-Bar. Keine Vorband, kleines Lokal, alles reduziert für diesen Minimal-Rock-’n’-Roll, Eigenbeschreibung und Wortspiel mit dem Punkfanzine Maximum Rocknroll. Dafür war es vor der Bühne proppenvoll: nicht die übliche Hipsterlaufkundschaft, sondern eingefleischte Fans, die mitsingen konnten, manche stellten auf Aufforderung des Sängers sogar die Band vor.

Der vertonte Eskapismus ist ein Solo­projekt von Svenonius. Live aber immer in Begleitung, aktuell mit der Avantgardetänzerin Sandi Denton an Bass und Keyboard. Er: Gitarre, Gesang und Drumcomputer. Ein Situationist, auch wenn er die französischen Anhänger Guy Debords dafür kritisiert, den Sowjetismus abzulehnen, erzählte der gebürtige Chicagoer vor sieben Jahren dem US-Indie-Magazin Under the Radar, der im Smash-Hit »Iron Curtain« davon phantasiert, in eine bessere Welt zu fliehen und diese dann einzumauern.

So ist auch der musikalische Werdegang von Svenonius, der nebenbei auch noch für Bücher und Filme verantwortlich zeichnet, eine große Dérive durch Klänge und Genres: 1988 versuchte er mit dem »13-Point Program to Destroy America«, so der Titel der ersten Langspielplatte von Nation of Ulysses, statt schnöde als experimentelle Hardcore-Punk-Band, ohne die es beispielsweise Refused wohl gar nicht geben könnte, sich gleich als politische Separatistenpartei zu gerieren. Und das auf dem einflussreichen, so wie wohl auch politisch progressivstem Label des Genres, Dischord Records, aus Washington, D. C.

Als die tourende Terrorzelle nicht mehr ausreichte, griff er gleich zur Befreiungstheologie. The Make-up waren die Überbringer des neuen Gospels, mit viel Disko und Glamour – eine Hybris, die der von Prince in nichts nachsteht, der schaffte es immerhin, Miles Davis zu konvertieren. Folkiger wurde es dann mit Chain and the Gang, etwas Dylan und The Fugs, viel Garage-Rock bzw. Protopunk der 60er: »I’ll tell you what a dollar is / It’s an internationally traded increment of worth / Yeah, it’s bigger than you and me / Bigger than you and me put together / It’s also called currency« (»Ich sag dir, was ein Dollar ist, / Er ist ein international gehandelter Wertzuwachs / Ja, er ist größer als du und ich / Größer als du und ich zusammen / Man nennt ihn auch Währung«). Lyrik, die sperriger nicht sein könnte, und doch geht der Sound genauso gut rein und muntert zum Tanzen auf wie The Strokes oder The Hives in den Indiediskos der späten 2000er und 2010er.

Die aktuelle Eskapade – Escape-ism, seit 2017 – nimmt den Faden der vorherigen Projekte auf und kann es nicht lassen, weiterhin die Jugend zu verführen. Balsam für die Seele, ein Schierlingsbecher fürs Ohr. Auf dem »Lost Record« (2018) kokettiert Svenonius damit, dass dieses Album so subversiv sei, dass es jetzt erst vom Hörer auf Trödelmärkten wiederentdeckt werden muss, die Labels versuchten es in Vergessenheit geraten zu lassen – erzählt aus der Ich-Perspektive der Platte.

Aktuelle Veröffentlichung ist die Single »The Rebel Outlaw«, die erste Wortmeldung seit den Seuchenjahren, mit dem Verve von Iggys »Real Wild Child«, die gerade auch live einen starken Country-Einschlag mitbringt. Hoffentlich gibt es mehr solche Experimente in der Zukunft. Denn normalerweise setzt der Drumcomputer den Rhythmus, und es wird Rock ’n’ Roll gespielt, eine ausgelutschte Genre­bezeichnung, deren Kern heute nur noch vage zu bestimmen ist, hier aber zur vollen Geltung kommt. Rebellisch, aber adrett im Auftreten: als hätte sich die britische Mod-Bewegung an Alan Vega oder Lou Reed als ästhetische Ikonen orientiert. Der Minimal-Electro Svenonious’, der die schneidende Gitarre und den hämmernden Bass konterkariert, ist auch deutlich von Vegas No-Wave-Band Suicide beeinflusst. Understatement wird zum Overstatement: Die Band ist in dieser Iteration natürlich keine herkömmliche Musikkapelle, sondern, wie er am Freitag auf der Bühne erklärte, »die Nummer eins Protestgruppe in der Welt«. Wogegen wird protestiert? »Alles, was du hast.« Agitprop ’n’ Roll vom Feinsten.

Escape-ism: »The Rebel Outlaw« (Radical Elite)

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