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Aus: Ausgabe vom 28.06.2024, Seite 12 / Thema
Militarisierung

Durch den Scholzomaten gedreht

»Frieden braucht Kriegsertüchtigung!« Wie der Bundeskanzler sich an Kants Friedensschrift vergreift
Von Ulrich Ruschig
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Frieden durch den, der Aufrüstung und Kriegsanstrengung predigt? Mit Kant nicht zu machen (kenntlich gemachtes Wahlplakat der SPD, 27.5.2024)

Anlässlich des 300. Geburtstages von Immanuel Kant fand am 22. April in Berlin eine zentrale Feier statt, um Kants »Person, sein Denken und dessen Bedeutung für eine konfliktreiche Gegenwart« zu würdigen. Den »Festakt« richtete die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften aus. Als den alleinigen Festredner hatte sie Bundeskanzler Olaf Scholz eingeladen. Der hatte die Gelegenheit genutzt, um »Kants großartige Schrift ›Zum ewigen Frieden‹ (…) aufs Neue zur Hand zu nehmen«¹ und so zu interpretieren, dass eine gut beleumundete Rechtfertigung für die militärische Unterstützung der ukrainischen Regierung und für die politischen Ziele des Westens insgesamt herauskam. Scholz erntete ein begeistertes Presseecho: endlich mal keine betulich-akademische Festrede, sondern eine »harte« (!) politische Rede. Zustimmung erhielt Scholz sowohl für die kriegstreiberische Absicht als auch für seine Kant-Umdeutung. Doch niemand überprüfte am Kantschen Text, ob überhaupt stimmte, was Scholz über Kants Friedensschrift vortrug. Die akademische Philosophengemeinde war – unterwürfig wie eh und je – auf Kriegskurs gegangen.

Der rhetorische Kniff

Der Kanzler leitete seine Rede mit einem dem geneigten Auditorium als fraglos negativ, häufig gar als abschreckend präsenten Beispiel ein, um vor solchem Hintergrund die eigene Position ins rechte Licht zu rücken. Scholz begann nämlich damit, über Wladimir Putin zu sprechen. Der russische Präsident habe kundgetan, Kant sei »einer seiner Lieblingsphilosophen«. Noch im Jahre 2005 habe Putin vorgebracht, dass Kant »ein kategorischer Gegner der Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten durch Krieg« gewesen sei. An »diesen Teil seiner Lehre« wolle er, Putin, sich halten und dazu beitragen, die von Kant dargelegte »Vision« eines ewigen Friedens in der heutigen Generation zu verwirklichen. Ohne weitere Erläuterungen war den Zuhörern klar, dass Putins Anerkennung für Kant geheuchelt sein müsse. Auf diese Weise bestärkte Scholz sein Auditorium in dessen Voreingenommenheit und präsentierte einen neuen Beleg dafür, dass man Putin kein Wort glauben könne. Der Boden war bereitet für die Schlussfolgerung, dass der Kanzler Kant vor dem skrupellosen Zugriff Putins bewahre, und für die implizite Botschaft, dass er, Scholz, weder so verlogen wie Putin sei noch den Philosophen für finstere Zwecke vereinnahme.

Doch Scholz steht Putin in nichts nach. Auch bei Scholz kommt Kant »unter die Räder«. Kann man nachweisen, dass die Kant-Darstellung von Scholz, die von allen Journalisten bereitwillig übernommen und verbreitet wurde, explizit falsch ist, mehr noch: dass Kant genau für das Gegenteil dessen eintritt, was Scholz aus ihm zu machen versucht, dann wird ersichtlich, von welcher Art diese Macht ist, die hinter dem Kriegsvorbereitungsprogramm steht. Das Vorhaben muss groß sein, wenn der große Philosoph so rabiat uminterpretiert wird, dass aus ihm ein ideeller Unterstützer der gegenwärtigen Kriegspolitik wird.

In seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« geht Kant von der nüchtern-sachlichen Feststellung aus, dass sich die Staaten, betrachtet man ihr Verhältnis untereinander, im »Naturzustand« befinden, dass dieser Naturzustand aktuell oder potentiell ein Zustand des Krieges zwischen ihnen sei und dass deswegen Frieden gestiftet werden müsse.² Wie aber, so fragt Kant, könne der so bitter nötige Frieden gestiftet werden? Und: von wem?

Doch vorab sei gefragt: Wie geht eine solche Friedensstiftung definitiv nicht? Der »Naturzustand« ist ein gesetzloser Zustand. Ein solcher könne, so Kant, nicht dadurch überwunden werden, dass Staaten Kriege führen und wähnen, durch kriegerische Handlungen gegeneinander so etwas wie Recht und die Überwindung des »Naturzustandes« herstellen zu können. Es könne keinen legitimierten Gerichtshof geben, der über den Staaten stehe und der die kriegerischen Handlungen des einen Staates als rechtens, die des anderen als nicht rechtens beurteile. Nichtsdestotrotz heften die Staaten ihren eigenen kriegerischen Handlungen das Etikett »rechtmäßig« an, während sie im gleichen Atemzug die kriegerischen Handlungen des Feindes als »unrechtmäßig« titulieren. Wenn Staaten Kriege führen, gerieren sie sich nicht selten als Friedensstifter. Bereits Augustinus empfahl, als Ziel des Kriegführens die Herstellung eines »gerechten« Friedens zu verkünden. Allein so könne der Krieg als in philosophischem Sinne »gerecht« beurteilt werden. Am Beispiel: Der Westen spricht vom unrechtmäßigen Krieg Russlands (»völkerrechtswidrig«, »Angriffskrieg«), behauptet hingegen, das Vorrücken der NATO-Truppen an die russische Westgrenze sei rechtmäßig. Die militärische Bedrohung Russlands durch den Westen gebe es gar nicht, sei vielmehr eine Einbildung, wenn nicht gar böswillige Projektion Russlands. Die russische Regierung streitet ab, dass die militärische Intervention in der Ukraine unrechtmäßig sei und behauptet hingegen, die Bedrohung Russlands durch die NATO sei aggressiv und ergo unrechtmäßig.

Mit dem Hinweis darauf, dass das Verhältnis der Staaten untereinander ein im Grundsatz gesetzloser Zustand sei, wischt Kant vom Tisch, was die Staaten als ihre »moralischen« Begründungen für das massenhafte Töten vorbringen, wie zum Beispiel: es gehe beim Kriegführen darum, einen (gerechten) Frieden zu sichern oder zu erlangen oder einen »ungerechten« Feind zu bestrafen usw. Gegen solch vorgetäuschte Moralität, die in Wahrheit die Verletzung des fundamentalen moralischen Gesetzes beinhaltet, setzt Kant, was für das potentiell kriegerische Verhältnis zwischen den Staaten als alleiniger, aus moralischer Vernunft begründeter Imperativ gelten kann: »Das Recht der Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.«³ Die Staaten, so Kant, sollen ihre Machtansprüche aufopfern. Jeder Krieg, da in ihm von der jeweiligen Staatsführung unterworfene Menschen gezwungen werden, andere Menschen zu töten, um dabei selbst getötet zu werden, widerspreche dem moralischen Gesetz – das gelte auch schon für jede Drohung mit Krieg. Deswegen könne der wahre (»ewige«) Frieden, das Endziel einer vom moralischen Gesetz geleiteten Menschheit, grundsätzlich nicht durch Krieg erreicht werden.

Durch jeden von ihnen neu angezettelten Krieg und durch jede Drohung mit Krieg entfernten sich die kriegführenden Parteien immer mehr von jenem Endziel. Hinzu komme, dass jeder Krieg den Keim von neuen Kriegen in sich trage. Sei nämlich ein Krieg durch die Erschöpfung der militärischen Kräfte oder durch die militärische Niederlage einer Seite zu einem Ende gekommen (in einem Waffenstillstand oder einem vorläufigen Friedensvertrag), dann werde die unterlegene Partei bei der ersten günstigen Gelegenheit danach trachten, die Feindseligkeiten wiederaufleben zu lassen, indem die geschlossenen Friedensverträge auf implizite Kriegsgründe hin interpretiert werden.⁴

Wenn nun die kriegführenden Staaten einen Frieden grundsätzlich nicht herbeiführen können, mögen sie auch ihre Kriege als »gerecht« ausgeben und rechtfertigen – wie, wodurch und durch wen kann dann ein wahrhafter Frieden gestiftet werden? »Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein.«⁵ Kant argumentiert, es sei unmöglich, einen wahrhaften Frieden dadurch zu stiften, dass man einen Krieg führt, mag dieser wie auch immer etikettiert sein. Und welcher Staat behauptet schon von den von ihm geführten Kriegen, sie seien ungerecht? Stets soll es sich um »Verteidigungskriege« handeln.

Der Kriege schon zu viele

Des Kantschen Arguments ungeachtet behauptet Festredner Scholz, der Westen (die NATO, die USA, Deutschland) stifte Frieden dadurch, dass er einen »Verteidigungskrieg« gegen Russland führe – durch die Waffenlieferungen und insgesamt durch die Unterstützung (»so viel und so lange wie notwendig«) der Ukraine, die diesen Krieg stellvertretend für die westlichen Interessen und die »westlichen Werte« führt. Doch der Festredner preist die Kantsche Friedensschrift – eine gekonnt herbeigeführte Gedankenverwirrung. Ein solcher Wirrsinn hat freilich Methode. Es geht Scholz um nichts Geringeres als darum, die Kriegsvorbereitung Deutschlands dick mit dem Terminus »Frieden« zu überschreiben. Auf einem Wahlplakat zur Europawahl wird eine Großaufnahme von Scholz mit einem einzigen Wort und in großen Buchstaben unterlegt: »FRIEDEN«. In einem gewissen Sinne stimmt das Plakat. Setzen Scholz und andere den NATO-Krieg gegen Russland fort, werden sie Frieden herbeiführen, nämlich »den ewigen Frieden (…) auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung«.⁶ Kant strebte unter »ewigem Frieden« freilich einen anderen an.

1795 urteilte der Königsberger: Der Kriege waren es schon viel zu viele! Das Kriegführen zwischen Staaten soll (endlich) aufhören! Frieden soll (endlich) sein! Doch Kant bleibt bei dem unwiderstehlichen Veto – es solle kein Krieg sein! – nicht stehen. Er entwickelt Bedingungen (notwendige, nicht hinreichende) für den ab sofort und bitter nötig einzuschlagenden Weg zum Frieden. Diese Bedingungen nennt er »Präliminarartikel«. Es sind Materialisationen, ohne die jenes Veto der moralisch-praktischen Vernunft abstrakt und ohne Bezug zur Wirklichkeit bliebe, wodurch die Vernunft sich selbst aufhöbe. Daran, ob diese Bedingungen in der Wirklichkeit angegangen werden oder nicht, lässt sich urteilen, ob hinter der wohlfeilen Beteuerung, man wolle ja Frieden, tatsächlich moralisch-praktische Vernunft steckt oder ob Kriegstreiber sich als Friedensengel tarnen. Nota bene! – heutzutage tritt der Teufel nicht mehr mit Hörnern und Pferdefuß auf. So verwundert es nicht, dass der Festredner diese notwendigen Bedingungen auf dem Weg vom abstrakten »Es solle kein Krieg sein!« hin zum wahrhaften Frieden verschweigt. Um den Engelsschleier, mit dem sich politische Falschmünzer umhüllen, wenn sie ihre Kriegspolitik als Friedensstiftung verkaufen, zu lüften, seien einige der Kantschen »Präliminarartikel« erörtert.

Der dritte lautet: »›Stehende Heere (miles perpetuum) sollen mit der Zeit ganz aufhören.‹ Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenze kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden.«⁷ Angewandt auf die heutigen Zeiten: Das ständige Aufrüsten, die Technologiesprünge bei den Waffensystemen, Hunderttausende ständig unter Waffen gehaltene, kriegstauglich gemachte und entsprechend angestachelte Soldaten bedrohen den Feind, in diesem Falle die Russische Föderation. Deren Staatsführung registriert die anwachsende Bedrohung und reagiert darauf, indem sie ihrerseits aufrüstet, was der Westen wiederum als Bedrohung interpretiert und so ad infinitum.

Aufgrund des Mechanismus, dass eine militärisch unterfütterte Bedrohung Angst bei der bedrohten feindlichen Seite erzeugt und dass diese Angst vor der Bedrohung beim Bedrohten die Erhöhung von dessen eigenem Bedrohungspotential initiiert usw., kennt die Aufrüstung, wie Kant hellsichtig bemerkt, »keine Grenzen«. Der deutsche Bundeskanzler behauptete in seiner Festrede, die russische Regierung unterstelle »Bedrohungen Russlands, die es nicht gibt«. Scholz weiß um die Aufrüstung Deutschlands, die er mit dem »Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro noch zusätzlich befeuerte, er weiß von den programmatischen Erklärungen des Verteidigungsministers, die deutsche Armee »kriegstüchtig« zu machen, er weiß um die »Kriegsspiele« seiner Generäle, die überlegen, mit welchen Waffen welche Ziele auf russischem Territorium angegriffen werden können. Mithin behauptet Scholz von einem Seienden, von dem er erwiesenermaßen weiß, dass es sei, es sei nicht. Zudem urteilt Scholz, die russische Regierung irre, wenn sie eine seiende Bedrohung durch die NATO behaupte. Doch statt seinen Satz von der nichtexistenten Bedrohung Russlands zu überdenken, setzt er auf einen Schelmen anderthalbe: Dass die russische Regierung behaupte, Russland werde von der NATO militärisch bedroht, belege »die ungute Angewohnheit (Putins), ›böse Absichten an anderen zu erklügeln‹« – wie es Scholz, dabei in Kants Sprache schlüpfend, formuliert und so die verbale Konfrontation auf die Spitze treibt: Putin beweise seine Bösartigkeit dadurch, dass er in der Aufrüstung der NATO eine Bedrohung sehe, wo es doch eine Bedrohung Russlands durch die NATO gar nicht gebe.

Sofortige Abrüstung

Gegen ein solches Durcheinander der Gedanken des Bundeskanzlers sei an Kants klare Aussage erinnert: Die Staaten bedrohen sich wechselseitig mit Krieg allein schon durch die Aufrüstung auf beiden Seiten. Solle es zum Frieden kommen, dann müsse auf beiden Seiten abgerüstet werden. Das ist der Sinn des Kantschen dritten »Präliminarartikels«, den Scholz seinem Auditorium wohlweislich vorenthielt. Erinnert sei an den von Gorbatschow bereits 1985 unterbreiteten Vorschlag, ein »gemeinsames Haus Europa« zu errichten, eine Föderation der europäischen Staaten vom Atlantik bis zum Ural. Innerhalb von fünf Jahren sollten die nuklearen Waffenarsenale halbiert, binnen der nächsten fünf Jahre ganz vernichtet werden. NATO und Warschauer Pakt sollten aufgelöst und ein Sicherheitssystem vereinbart werden, in dem die Sicherheit eines Staates mit der Sicherheit der Nachbarstaaten verknüpft werde. Gorbatschows Vorschlag, auf eine europäische Friedensordnung zielend und deutlich erkennbar auf den dritten »Präliminarartikel« Kants rekurrierend, wurde vom Westen mit weiterer Aufrüstung und damit beantwortet, NATO-Truppen von der Elbe an die Oder, von der Oder an die Weichsel und von da an die Westgrenze Russlands vorrücken zu lassen, was die Atmosphäre des Kalten Krieges wiederbelebte.

Der Westen, der sich zu Feierstunden pharisäisch auf Kant beruft, verletzte das Kantsche Verbotsgesetz – im Gegensatz zum Generalsekretär der KPdSU, der es achtete, Abrüstung vorschlug und nach einem Jahrhundert der Weltkriege eine Perspektive auf Frieden in Europa zu eröffnen versuchte. Doch der Westen wollte definitiv keinen Frieden. Nach dem Kalten Krieg waren die USA als die einzige Weltmacht verblieben. In Gorbatschows Friedensvorschlag sahen sie weniger ein den dritten »Präliminarartikel« befolgendes Tun, als vielmehr eine günstige Gelegenheit, ihre Vorherrschaft im eurasischen Raum auszubauen und zu zementieren. Russland sollte entscheidend geschwächt werden, nicht zuletzt, indem die Ukraine als gegen die Russische Föderation opponierende Macht aufgebaut und in Stellung gebracht wurde. Es war dann die NATO, die im Jahre 1999 mit der Bombardierung Belgrads – der Sache nach ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg seitens der NATO, von ihr freilich als ein »gerechter Krieg« bezeichnet und als »humanitäre Intervention« mit bedauerlichen »Kollateralschäden« gerechtfertigt – das »gemeinsame Haus Europa« endgültig in Schutt und Asche legte.

Menschen als Maschinen

In demselben dritten »Präliminarartikel« führt Kant ein weiteres Argument gegen die Aufrechterhaltung von »ständige(n) Heere(n)« an: »Zum Töten oder getötet werden in Sold genommen zu sein«, scheint »einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines Andern (des Staats) zu enthalten (…), der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen lässt«.⁸ Solange es »stehende Heere« gebe, solange werden Menschen zum Töten und zum Getötetwerden instrumentalisiert. Solche Instrumentalisierung verletze das moralische Gesetz. Aufgrund dessen werde der Weg zum Frieden, der allein unter der leitenden Idee des moralischen Gesetzes gegangen werden könne, blockiert.

Aus der oben ausführlich wiedergegebenen Kantschen Passage zitiert Scholz das Satzfragment »Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen«. Auf Kant bezugnehmend – die Menschen sollen nicht als »nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und verbraucht« werden – behauptet der Kanzler, allein durch Putin und die russischen Befehlshaber werde das moralische Gesetz Kants, in jedem einzelnen Menschen die Idee der Menschheit jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel zu gebrauchen,⁹ verletzt. Kein Wort verliert Scholz jedoch über das »zynische Verheizen« der ukrainischen Soldaten durch die ukrainischen Befehlshaber und mittelbar durch den Westen, wo die ukrainische Führung doch selbst sagt, der Westen liefere »uns« die Waffen, »wir« liefern die Menschen. Aber das von Kant begründete Verbotsgesetz (eine lex prohibitiva) gilt allgemein, nicht nur für die russische Seite. »Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge siehst du nicht? (…) Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen«, heißt es im Neuen Testament.

Im sechsten »Präliminarartikel« formuliert Kant ein weiteres Verbotsgesetz, das, soll der Weg zum wahren Frieden durch alle gegenwärtigen Feindseligkeiten hindurch offen bleiben, unbedingt eingehalten werden müsse. »›Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen (…).‹ (…) Denn irgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg (bellum internecium) ausschlagen würde.«¹⁰

Gegenwärtig ist freilich zu beobachten, dass die deutschen Politiker allenthalben, mal fahrlässig, mal absichtsvoll, das »Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes« (gemeint: Putin) zerstören, und zwar sowohl bei sich selbst als auch bei der deutschen Bevölkerung. Sie zetteln eine Hetze sondergleichen gegen den russischen Präsidenten an, von dem sie behaupten, er sei von Kopf bis Fuß ein Dämon, er verkörpere geradezu das Böse. Sicherheit in Europa könne (und solle) es nicht mit Russland geben, sondern gegen Russland. Die maßgeblichen deutschen Politiker modellieren ein fiktionales Gebilde namens »westliche Wertegemeinschaft«, ohne rational angeben zu können, worin das Gemeinschaftliche denn liege und welche »Werte« präzis gemeint seien, wobei trotz solch diffuser Bestimmung allerdings feststeht, dass aus dieser »Wertegemeinschaft« Russland ausgeschlossen sei oder ausgeschlossen werden müsse. Russland, folgt man dieser Propaganda, gehöre auch nicht zu Europa, weder das Land noch die Menschen noch die Kultur – Tolstoi, Dostojewski, Tschaikowski und vielen anderen zum Trotz.

In seiner Kant-Rede spricht Scholz dem russischen Präsidenten einen »Vernichtungswillen« zu, »wie ihn in seiner schieren Maßlosigkeit wohl die wenigsten von uns im Europa des 21. Jahrhunderts noch für möglich gehalten hätten«. Ein »schier maßloser« »Vernichtungswille«, das ist ein radikal böser, irreparabel verderbter Wille, der sich von der Möglichkeit, durch Vernunft bestimmt zu werden, unwiderruflich verabschiedet habe, dem die Vernichtung von Menschen quasi »zur Natur« geworden ist.

Vertilgung beider Kriegsparteien

Es steht zu befürchten, dass, wenn der deutsche Bundeskanzler zu Protokoll gibt, sein Vertrauen in die Denkungsart des russischen Präsidenten sei irreparabel zerstört, umgekehrt das russische Vertrauen in die Denkungsart des deutschen Bundeskanzlers, der einen solch heftigen Angriff auf die vernünftige Integrität einer Person unternimmt, erodiert. Doch unabhängig davon, was Putin über die Denkungsart des deutschen Bundeskanzlers denken mag, dass Scholz dem russischen Präsidenten einen Vernichtungswillen zuschreibt, affiziert nicht zuletzt den Willen des Zuschreibenden selbst. Der Weg vom Zuschreiben eines Vernichtungswillens zum Vernichten dieses Vernichtungswillens ist nämlich nicht weit. Am Beispiel der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock: Hasserfüllt und freudig-triumphierend in die Zukunft schauend prognostizierte sie als Wirkung der von ihr gerade mitbeschlossenen westlichen Sanktionierungsmaßnahmen: »Das wird Russland ruinieren!«

Die Zerstörung des »Vertrauens auf die Denkungsart des Feindes« bedeutet, dass eine der Kriegsparteien zunächst bei sich das Potential für das moralische Gesetz ramponiert und dann, vermittelt in folgenschwerer Wechselwirkung gegenseitiger Provokationen, auch das Potential bei der feindlichen Partei. Obendrein hat sie eine verhängnisvoll-düstere Folge in der Wirklichkeit: Das eh schon »heillose Kriegführen«¹¹ gehe, wie Kant ebenso hellsichtig wie warnend hervorhebt, in einen »Ausrottungskrieg« über. Dieser impliziere »Vertilgung«, die beide Kriegsparteien »zugleich und mit dieser auch alles Recht treffen« könne.¹² Die moralische Depravierung, die in der fahrlässig oder mutwillig selbst herbeigeführten Zerstörung des »Vertrauens auf die Denkungsart des Feindes« besteht und wovon Scholz’ Kant-Rede ein Dokument abgibt, bedingt das Hineinschlittern in einen (atomaren) Weltkrieg. Bereits 1795 hatte Kant den fatalen Zusammenhang zwischen der durch die Beschädigung eines Ideellen erfolgenden moralischen Depravierung und der deshalb drohenden realen Vernichtung aufgezeigt.

Es bleibt zu hoffen, dass die Spirale der Vertrauenszerstörung durch das wechselseitige Attestieren eines »Vernichtungswillens« sich nicht weiterdreht wie bei der Bedrohung durch Aufrüstung, wo die Angst vor Bedrohung die weitere Aufrüstung anstößt, wobei, wie bei der Aufrüstung, auch bei diesem Angriff auf die Denkungsart die westliche »Wertegemeinschaft« den offensiveren Part zu spielen scheint. Diese Hoffnung stützt sich auf eine vage Vermutung: Auf Seiten von Putin und der russischen Regierung könnte noch mehr Erinnerung an Kant lebendig sein. Wird jedoch auf beiden Seiten das »Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes« fortschreitend zerstört, dann, so die stringente Analyse Kants, ist der Übergang in den »Ausrottungskrieg (bellum internecium)« zwingend gesetzt.

Anmerkungen

1 Olaf Scholz: Rede von Bundeskanzler Scholz beim Festakt zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant am 22. April 2024 in Berlin. Alle weiteren Scholz-Zitate hieraus.

2 Vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Band VIII, Berlin 1968, S. 348 f.

3 Ebd., S. 380

4 Ebd., S. 344

5 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Band VI, Berlin 1968, S. 354

6 Kant (Anm. 2), S. 347

7 Ebd., S. 345

8 Ebd.

9 Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Band IV, Berlin 1968, S. 429

10 Kant (Anm. 2), S. 346

11 Kant (Anm. 5), S. 354

12 Kant (Anm. 2), S. 346 f.

Ulrich Ruschig ist Professor für Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

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