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Aus: Ausgabe vom 28.06.2024, Seite 15 / Feminismus
Sexarbeit

»In großen Bordellen gibt es einen leichten Anstieg«

Über Gerüchte, wonach Zwangsprostitution während der Fußball-EM zunehme und Fußballfans als Freier. Ein Gespräch mit Johanna Weber
Von Gitta Düperthal
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Die Auftragslage für Sexarbeiter ist momentan eher schlecht (Hamburg, 5.9.2021)

Sie ärgern sich über aktuell in Umlauf gebrachte Gerüchte, dass während der Fußballeuropameisterschaft in Deutschland mit einer Zunahme von Zwangsprostitution zu rechnen sei. Können Sie Beispiele dafür anführen?

Zunächst: Für den Anstieg von Zwangsprostitution gibt es gar keine Beispiele, es handelt sich dabei um eine gefühlte Wahrheit. Es ist nicht neu, dass es so behauptet wird. Erstmals kam das Gerücht anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika auf: Vorgeblich sollten »bis zu vierzigtausend Zwangsprostituierte« eingeschleust werden, um dort »den Fans zu Diensten zu sein«. Dafür fehlten damals jegliche Nachweise. Die Zahl war komplett aus der Luft gegriffen. Vor der Fußball-EM 2024 wurden alte Falschmeldungen wieder aufgewärmt: Während des Turniers sei mit einer Zunahme von Zwangsprostitution zu rechnen, zitierte die evangelische Nachrichtenagentur IDEA den »Bundesverband Nordisches Modell« (eingetragener Verein, der Sexarbeiterinnen »entkriminalisiert und Profiteure bestraft« sehen will, jW) am 23. April.

Ein Text in der Berliner Zeitung vom 28. Mai ruft dazu auf, »das Schweigekartell zu zerschlagen« und »Freier anzuzeigen«. In Medien wird die SPD-Familienpolitikerin Leni Breymaier mit »noch mehr Zwangsprostitution« aufgrund der EM, »Benutzung von Frauen« und dem »Kaufen von Frauen in Deutschland« zitiert. Ebenso Unionsfraktionsvize Dorothee Bär mit der Behauptung, Frauen würden »dafür zu Tausenden aus den ärmsten Ländern an die Austragungsorte in Deutschland« gebracht. Für all das gibt es keinen Anhaltspunkt. Es ist einfach nur Quatsch.

Wie erleben Sie denn die Situation im Berufsumfeld der Sexarbeit während der EM?

In großen Bordellen gibt es einen leichten Anstieg, weil Sexarbeitende in der Bundesrepublik an die Orte fahren, wo die Fußballspiele stattfinden. Insgesamt ist die Auftragslage allerdings eher schlecht. Aufgrund von Inflation und schlechten Zukunftsaussichten mangelt es an Kundschaft. In einigen Laufhäusern haben Kolleginnen wegen schlechten Umsatzes aufgegeben. Sollten tatsächlich während der EM einige Kunden mehr als üblich kommen, würde es uns ja freuen. Aber während der Spiele ist meist Totentanz, danach wollen viele mit ihren Kumpels feiern. Es ist ein Märchen, dass Fans in Scharen in die Bordelle zögen. Einträglicher sind große Messen, weil nicht jeder gern danach allein ins Hotelzimmer geht. Häufiger werden dann schon zuvor Termine ausgemacht. Ich war anlässlich des ersten EM-Spiels in München. Wie zu erwarten, war nichts los.

Laut einer Onlineumfrage des SWR-Formats »Vollbild« soll es bei Fußballspielen zu sexuellen Übergriffen in Fanblöcken oder sexualisierter Gewalt in Stadien gekommen sein. Wird das auch im Sexgewerbe merklich?

Die Umfrage kenne ich nicht. Zum Sachverhalt in den Fanmeilen kann ich nichts sagen. Dabei handelt es sich um ein Gruppenphänomen. Dass Gruppen in große Bordelle kommen, gibt es durchaus mal. Das Sicherheitspersonal vor der Tür schmeißt Männer sofort raus, wenn sie belästigen oder übergriffig werden. Kleinere Bordelle öffnen ihre Türen meist erst gar nicht für solche Gruppen.

Welches Interesse ist dahinter zu vermuten, wenn Gerüchte über verschleppte Frauen in die Welt gesetzt werden?

Dass es Tausender Frauen bedürfe, um die Nachfrage zu erfüllen, wird nur suggeriert. Womöglich war die erste Vermutung dahingehend tatsächlich aus Sorge; beruhend auf der Phantasie, dass johlende Männerhorden in Bordelle einfallen könnten. Heute aber ist es bewusste Meinungsmache. Die EM wird zur weiteren Elendszuschreibung der Prostitution genutzt. Dahinter stehen Organisationen wie etwa »Rote Karte für Freier«, die ständig ein kriminelles Umfeld behaupten, weil sie die Prostitution abschaffen wollen. Um reale Sachverhalte geht es ihnen nicht. Allerdings lassen sich Menschen, die es gut meinen, mitunter vor deren Karren spannen.

Können Sie das Selbstverständnis Ihres Berufsstandes erklären?

Dass es wenig Perspektive im Job als Hure gibt, liegt genau an dem gesellschaftlichen Stigma, dass wir vermeintlich nur Opfer wären. Gerade für alleinerziehende Mütter kann es jedoch ein annehmbarer Job sein. Läuft es gut, müssen sie nur vier Stunden arbeiten, während ihr Kind in der Kita ist. Ist es krank, bleibt man eben zu Hause. Die meisten Sexarbeitenden sehen das Gewerbe eher als vorübergehenden Job, um Geld zu verdienen. Sie machen sich wenig Gedanken, wie sie sich weiterbilden können oder über Altersabsicherung und Krankenversicherung. Aber das sind Dinge, die im Grunde nötig wären.

Wie trifft Sie das Vorurteil, dass Ihr Beruf hauptsächlich im »kriminellen Umfeld« stattfindet?

Weil es so suggeriert wird, glauben einige Sexarbeiterinnen, dass unsere Arbeit sehr gefährlich sei; und meinen, sich in die Arme von vermeintlichen Beschützern und Zuhältern werfen zu müssen. Dabei können wir auch gegenseitig aufeinander aufpassen. Wir tragen tatsächlich zum Wohlgefühl der Gesellschaft bei. Ich würde mich freuen, wenn wir ein Umdenken hinkriegen und der Beruf der Sexarbeit gesellschaftlich anerkannt wird – und auch Frauen ihre eigenen sexuellen Wünsche offensiver äußern würden.

Tatsächlich leben wir in einer übersexualisierten Gesellschaft, aber die einzelnen Menschen machen sich kaum Gedanken über ihre eigenen sexuellen Vorstellungen und Bedürfnisse. Viele haben nicht gelernt, offen darüber zu reden. Die Gesellschaft wäre glücklicher, wenn wir das mehr zulassen und ausleben würden. Gewollt von den Prostitutionsgegnern ist, dass Menschen ihre Sexualität nur in festen Beziehungen oder der Ehe ausleben. Dahinter steht ein konservatives, längst überkommenes Weltbild.

Johanna Weber ist politische Sprecherin des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienst­leistungen e. V.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (28. Juni 2024 um 16:39 Uhr)
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    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (1. Juli 2024 um 11:02 Uhr)
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    Ich dachte eine boshafte Steigerung ist unmöglich. Für alleinerziehende Mütter ein annehmbarer Job? Gitta Düperthal sollte das vielleicht einmal selbst probieren und wissen, dass sie hier ein ganz übles PR- oder Propagandamaterial an die Leser bringt, wie das ist einen 90 Kilo verschwitzen Körper zu ertragen und das gleich bis achtmal in vier Stunden, in denen sie bestenfalls zwischen 50 und 100 Euro/Std. verdient. Von denen 160 Euro (täglich) Zimmerkosten anfallen. Zuzüglich verschiedener Nebenkosten, Krankenversicherung, Sozialversicherungsbeiträge für Selbstständige, Umsatz- und Einkommensteuer. In welchem Umfang sie Krankheiten nach Hause bringt, die sich auch durch Kondome nicht vermeiden lassen, mag ich nicht einmal vermuten. Arbeitsagenturen hatten versucht, solche Art der Berufstätigkeit zu erzwingen. Es ist glücklicherweise gescheitert. Mancher Vermittler in der Arbeitsagentur wird den Artikel in der Schublade aufbewahren oder als Jobangebot ins Netz stellen, wobei die Unterstützung durch manche Weiterbildungs- und Serviceagentur sicher ist. Dass sich die jW Redaktionskonferenz scheut zu intervenieren, ist neu, ebenso dass die Mechanismen von PR unbekannt sind oder dass verlangt wird, dem Artikel ein PR oder Werbehinweis voranzustellen. Wirft ein neues Bild auf die jW. Das höchst kriminelle Umfeld existiert jedenfalls, dazu könnte man jeden Polizisten, der mit dem Täterfeld der Organisierten Kriminalität, Drogen- und Menschenhandel befasst ist, als Ergänzung befragen. Das trifft auch auf jene Hilfsorganisationen zu, die Unterstützung bieten. Über wen schreibt ihr hier? Die studierte Philosophin Salomé Balthus, sie gründete Ende 2016 eine eigene Agentur für Luxus-Prostituierte. »Hetaera« heißt der Zusammenschluss von zwölf Frauen, die sich ein klassisches Dinnerdate mit 1.000 Euro bezahlen lassen, eine Nacht mit 3.000 Euro, räumt das Leid der Zwangsprostituierten wenigstens ein. Von der werden hier von der jW Menschenhandel und Zwangsprostitution bezweifelt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (28. Juni 2024 um 10:12 Uhr)
    Es ist traurig zu lesen, dass »gerade für alleinerziehende Mütter (...) es jedoch ein annehmbarer Job sein (kann)«. Eine respektlose und zynische Aussage von Johanna Weber. Diese Mütter gehen nicht freiwillig in diesen »annehmbaren Job«, sprich Prostitution, sondern aus wirtschaftlicher Not, weil der Staat die notwendige Hilfe versagt!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manuel S. aus Berlin (28. Juni 2024 um 09:06 Uhr)
    Das ist Werbung und gleichzeitig Personalbeschaffung der Lobby von Bordellbesitzern und Zuhältern. Immer wieder erscheinen zynische Artikel oder Interviews in dieser Zeitung, welche die vielen seriell vergewaltigten Frauen in der Prostitution verhöhnen und reaktionärste, sexistische Propaganda verbreiten. »Gerade für alleinerziehende Mütter kann es jedoch ein annehmbarer Job sein« – es ist nicht zu fassen!

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