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Aus: Ausgabe vom 29.06.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Mutter, Vater, Ich

Bachmannpreisimpressionen
Von Barbara Eder, Klagenfurt
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Das große Los: Sarah Elena Müller

»Glaub an dein Glück!« – mit diesem Slogan kann man nicht nur bei Lotterien reüssieren, sondern auch bei literarischen Wettbewerben. In Aussicht gestellt sind beim Klagenfurter Bachmannpreis hohe Summen, die Regeln des Spiels kennt en détail aber keiner. Ein Ereignis am Mittwoch abend sorgte dahingehend für Kontingenz: Ein Losverfahren legte die Lesereihenfolge für die kommenden drei Tage fest, die Teilnehmenden griffen nacheinander in ein Gefäß mit Namensschildern. Der Zufall sollte sicherstellen, dass alle unter chancengleichen Bedingungen antreten. Die Wahrscheinlichkeit, gleich am ersten Tag als erster vorzutragen, lag im Vorfeld bei rund sieben Prozent – die in Bern lebende Autorin Sarah Elena Müller hatte das große Los gezogen.

Schauplatz von Müllers Text ist ein Zimmer, kurz »Gebiet« genannt. Am Übergang zu diesem meldet sich eine Schwelle immer wieder zu Wort, die als sprechende Entität auftritt. Sie murrt, knurrt und knarzt – und kommentiert auf diese Weise, wer sich Zugang zum Raum dahinter verschafft. In diesem befindet sich ein Sammelsurium ungeordneter Stoffe. Aus den Textilien ihres Mitbewohners hat die Ich-Erzählerin einen Text gewebt.

Den Ansammlungen von Müllers Schneiderlein sind am Donnerstag nachmittag weitere gefolgt. Die deutsche Autorin Christine Koschmieder las einen Text mit historischer Patina über dehnbares Nylongewebe – ein Material, das sich dem Körper anpasst, nicht aber umgekehrt. In Tijan Silas Text ging es um andere Stoffe: Ein Vater sammelt darin defekte Elektrogeräte, die er reparieren und anschließend verkaufen will. Der Elektroschrott erweist sich jedoch als Äquivalent für wertlos gewordene Doktortitel. Sie sind Ursache für das zuerst Erwerbslos- und dann Verrücktwerden der aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland emigrierten Eltern des Ich-Erzählers.

Versuche, etwas mit Wert zu belehnen, das keinen mehr hat, enden oft tragikomisch. Man fängt mit einfachen Reparaturarbeiten an – und kommt im Absurden heraus. Die auf so mancher Südseeinsel bis zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts als Zahlungsmittel genutzten Kaurimuscheln führt der Züricher Schriftsteller Jurczok mit seinem Text einem neuen Verwendungszweck zu: Sie dienen als Schmuckstücke in väterlichen Münzsammlungen. Auch sein Ich-Erzähler kommt nicht ohne Erziehungsberechtigten aus. Während dieser seine Pennys poliert und katalogisiert, ruft die Mutter zum Abendessen – so lange, bis es kalt geworden ist.

Eine mit ödipalen Altlasten vollgestopfte Messiewohnung entrümpelt auch die österreichische Autorin Ulrike Haidacher mit ihrem Text. Er stammt aus dem Roman »Schwestern«, und krank sind darin alle drei – von der Arbeit als Krankenpflegerinnen am Sterbebett der Großmutter. Der heimliche Star des Textes: ein Rosinenweckerl, das als symbolträchtiger Snack durch das Geschehen rollt. Solange, bis eine der Schwestern kündigt: Anja will und kann nicht mehr. Auch für sie offenbart sich die Welt nicht als Wille und Vorstellung, sondern als große Rumpelkammer familiärer Altlasten. Noch weitere zwei Tage lang wird es im Klagenfurter Karton rappeln – mit Mama, Papa und einem erzählenden Ich.

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