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Aus: Ausgabe vom 29.06.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Der Russe schnaubt durchs Schlüsselloch

Von Arnold Schölzel
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Ernst Hillebrand ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. In deren Internetzeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) veröffentlichte er am Dienstag unter der Überschrift »Mehr, mehr, mehr« einen Artikel mit den Unterzeilen: »Trotz militärischer Überlegenheit gegenüber Russland herrscht eine Begeisterung für Aufrüstung und Militarisierung. Warum?« Nach ihm hat »eine seltsame Begeisterung für das Militärische« Deutschland ergriffen. Der »wissenschaftlich-medial-politische Hauptstadtkomplex« kenne »derzeit mehrheitlich nur eine Message: mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld für Rüstung. Stellt man dies nicht bereit, ›kommt der Russe‹«.

Das ist freundlich ausgedrückt. Wer Rundfunk oder Fernsehen einschaltet, gar Zeitungen deutscher Milliardärsfamilien liest, verliert alle »Zuversicht« (Olaf Scholz). Ein schönes Stück Mehrwaffenprosa lieferte in dieser Woche zum Beispiel Zeit-Reporterin Olivia Kortas, die auf Seite eins der Wochenzeitung eine positive Bilanz von Waffenlieferungen an Kiew zog. Titel: »Hilft ja doch«. In diesen Tagen häuften sich »die guten Nachrichten« für die Ukraine – sie darf russisches Gebiet beschießen und viel Gerät sei zugesagt. Das erste Halbjahr 2024 habe jedenfalls »bewiesen, dass westliche Waffensysteme und Munition sehr schnell etwas bewirken können«. Denn: »Russland ist nicht allmächtig. Die Ukraine nicht verloren.« Da ist sie, die Zuversicht, die vielen Deutschen verlorengegangen ist, womit Scholz sein mieses Wahlergebnis vom 9. Juni am Mittwoch im Bundestag erklärte. In ihrer Verzweiflung hielten die Wähler den Russen wahrscheinlich für omnipotent. Dank Frau Kortas können sie erlöst werden.

Hillebrand hält sich im Gegensatz zu ihr an Zahlen: »Die NATO ist Russland um ein Vielfaches überlegen. Vor allem die Forderung nach mehr Geld erscheint grotesk.« Die kombinierten Rüstungsausgaben der NATO überstiegen nach ihm 2023 »die Russlands um knapp das Dreizehnfache: Fast 1,3 Billionen US-Dollar für die NATO stehen circa 110 Milliarden Dollar für Russland gegenüber«. Klar, dass ein schlichtes Zeit-Gemüt 110 Milliarden Dollar in den Händen von Russen für Beinahe-Allmacht halten muss.

Hillebrand setzt noch drauf: Quantitativ und qualitativ sei die NATO »Russland haushoch überlegen« und glaubt deswegen auch nicht zum Beispiel Joseph Biden, der Anfang Juni gewarnt hatte, Russland werde sich bei einem Sieg in der Ukraine ein Nachbarland nach dem anderen einverleiben. Das Argument, so Hillebrand, wirke angesichts der NATO-Übermacht »entsprechend freihändig«.

Er unterstützt aber höhere deutsche Rüstungsausgaben, nur sei das »etwas anderes als die gegenwärtige Begeisterung für Aufrüstung und gesellschaftliche Militarisierung«. Deutschland habe noch ein paar andere »Baustellen« wie »Wohnungsbau, Bildung, Infrastruktur, Energiewende, Integration, Pflege, Digitalisierung«. Die politische und soziale Destabilisierung, die von diesen Bereichen ausgehen könne, sei möglicherweise »deutlich realer« als ein »sehr unwahrscheinlicher, im Kern suizidärer Angriff Russlands auf die NATO«. Und auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung dürfte »von Messerangriffen im öffentlichen Raum nachhaltiger gestört werden als von der Angst, dass der russische Bär schon durchs Schlüsselloch schnaubt«.

Hillebrands mutmaßlicher Parteifreund und Kanzler Scholz wünschte sich am Mittwoch einen »funktionsfähigen Kapitalismus in Europa«. Beide wollen so etwas wie Kanonen plus Butter. Weil der Russe nicht besonders mächtig sei. Mit einer solchen Einschätzung der Kräfte scheiterte die SPD im Ersten Weltkrieg an der Realität. Die setzt sich immer durch. Manchmal in Gestalt von Russen.

Der »wissenschaftlich-medial-politische Hauptstadtkomplex« kenne »derzeit mehrheitlich nur eine Message: mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld für Rüstung. Stellt man dies nicht bereit, ›kommt der Russe‹«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (3. Juli 2024 um 15:49 Uhr)
    Da muss sich der Ernst Hillebrand aber schon ordentlich Meriten verdient oder gute Freunde in der SPD-Parteiführung haben, wenn er nach Veröffentlichung seiner Meinung darauf hoffen darf, weiterhin Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest zu bleiben. Schließlich befinden wir uns im Krieg – nur diese Schlussfolgerung kann man ziehen, angesichts der Rhetorik von Ampel- wie Unionspolitikern und »Qualitätsmedien« und angesichts der jährlich für militärische Aufrüstung locker gemachten Milliardensummen. Und im Krieg gilt es, den Burgfrieden sowie den politischen Marschschritt zu halten! Wer wüsste das besser als die SPD? Spätestens seit 1914!

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