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Aus: Ausgabe vom 01.07.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Debatte über Ukraine-Krieg

Verspielte Sicherheitsordnung

Gegen das geschürte Misstrauen: Petra Erler und Günter Verheugen über den »langen Weg zum Krieg« in der Ukraine
Von Georg Auernheimer
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Erst Auflösung der Sowjetunion, dann Erweiterung der NATO: US-Präsident George Bush mit Beratern (4.8.1990)

Eine solche Neuerscheinung zum Ukraine-Krieg müsste die Meinungsmacher, die täglich Legenden über diesen Krieg auf allen Kanälen verbreiten, in Aufregung versetzen, möchte man meinen. Denn Petra Erler und Günter Verheugen, die nicht nur die eingetrichterten Erklärungsmuster zu dem Konflikt korrigieren, sondern auch das zugrundeliegende Weltbild zurechtrücken, sind mit Außen- und Europapolitik bestens vertraut. Verheugen war EU-Kommissar und Vizepräsident der EU-Kommission, nachdem er mehr als ein Jahrzehnt im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags tätig gewesen ist. Petra Erler, geboren in Thüringen, hat den Anschluss der DDR in der Nähe von Entscheidungsträgern aus zwei Perspektiven verfolgen können und war später Mitarbeiterin von Verheugen in der EU-Kommission.

Den Inhalt des Buches kann man in drei Teile gliedern. In den ersten drei Kapiteln wenden sich die Verfasserin und der Verfasser dem Krieg zu, dessen Charakter als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Russischen Föderation sie unter mehreren Aspekten beleuchten. In den Kapiteln vier bis sechs machen sie den Lesern bewusst, dass der Kalte Krieg mit der Auflösung der Sowjetunion, die viel künftiges Konfliktpotential barg, nicht endete, sondern höchstens einige Jahre pausierte. Die verschiedenen US-Administrationen kommen dabei nicht gut weg. In den Kapiteln sieben bis neun wird im Rückblick auf die letzten zwei Jahrzehnte der Bonner Republik aufgezeigt, was Entspannungspolitik bewirken kann. Außerdem wird die gegenwärtige Konflikteskalation in den Kontext des Übergangs zu einer multipolaren Weltordnung gestellt.

Dem ersten Teil ist nicht viel Neues über diesen Stellvertreterkrieg zu entnehmen. Dass die Neocons in Washington, namentlich Dick Cheney und Paul Wolfowitz, nach der Auflösung der So­wjetunion klar den Weg zu einer unipolaren Weltordnung wiesen und jeden Rivalen ausschalten wollten, dass Zbigniew Brzeziński die Ukraine als den Stein in der Festung Russland kennzeichnete, den es loszubrechen gelte, und dass ein NATO-Beitritt der Ukraine für Russland die rote Linie überschritten hätte, das wurde dem Publikum bereits in zahlreichen Publikationen zum Thema erklärt.

Auch dass von einem »unprovozierten Angriffskrieg« angesichts der NATO-Osterweiterung und nach der Kündigung mehrerer Abrüstungsverträge seitens der USA keine Rede sein kann, ist inzwischen innerhalb der kritischen Gegenöffentlichkeit Konsens. Die Brisanz der Ausführungen ergibt sich mehr daraus, dass das alles jemand mit dieser politischen Laufbahn darlegt. Bemerkenswert auch die Korrektur der üblichen Erzählung über den Krieg in Georgien. Erler und Verheugen lassen ebenfalls keinen Zweifel, dass der sogenannte Euromaidan von ultrarechten Kräften vereinnahmt wurde, die von den USA zu einem Staatsstreich ermuntert wurden, wenn auch die Rolle faschistischer oder faschistoider Gruppierungen in der heutigen Ukraine unterbelichtet bleibt.

Das Massaker in Odessa wird als »ein brutaler Zusammenstoß prorussischer und proukrainischer Demonstranten« verharmlost. Nicht deutlich wird, dass die Regierung in Kiew das von ihr beanspruchte Staatsvolk im Osten des Landes jahrelang mit Krieg überzog. Die Abtrennung der Krim wollen Verheugen und Erler nicht als Sezession gelten lassen, obwohl sie konzedieren, dass dort schon vor der Auflösung der Sowjetunion Sezessionstendenzen zu verzeichnen waren. Aber insgesamt ist beachtlich, wie beide in dem Buch gegen den Mainstream anschreiben.

Die Einschätzung von Verheugen und Erler, die politische Führung in Moskau handle rational und besonnen und setze so lange wie möglich auf Diplomatie, steht im Gegensatz zu den genau umgekehrten, schmähenden Einschätzungen des russischen Präsidenten in der deutschen Publizistik. Gewürdigt wird Wladimir Putins wiederholtes Drängen auf eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Das Gegenteil bewirkten die Verdächtigungen und Verurteilungen seitens des Westens, zum Beispiel bei angeblichen Giftgasanschlägen, beim Abschuss des Passagierflugzeugs »MH 17« oder wegen angeblicher Beeinflussung der Präsidentschaftswahlen in den USA, ohne dass die Gegenseite angehört oder in Untersuchungen einbezogen wurde, wie Erler/Verheugen vermerken. Als absoluter Sündenfall gilt ihnen die Anmaßung der NATO, sich als Sicherheitsgarant aufgespielt und eine gemeinsame europäische Sicherheitsordnung aufgegeben zu haben, wie sie mit KSZE bzw. OSZE angestrebt war. Sie wollen klarmachen, dass das stets neu geschürte Misstrauen Verhandlungslösungen behindert und die Konflikteskalation befördert.

Mit einem gewissen Wohlwollen verfolgen Verheugen und Erler die Entwicklung der BRICS-Staaten, ohne die Widersprüche und latenten Konflikte zwischen und innerhalb dieser Staaten zu verkennen. Kritik an der Aufgabe des Anspruchs auf eine multipolare Weltordnung und Bedauern über »die Unterordnung der EU unter die USA« durchziehen die letzten beiden Kapitel. Damit sei es unmöglich geworden, »sich vorzustellen, man könnte als Gleicher unter Gleichen die Geschicke der Welt gemeinsam gestalten«. Das scheint ein Traum von Erler und Verheugen zu sein. Ein mehrseitiger Anhang mit Weblinks beschließt den Band.

Günter Verheugen, Petra Erler: Der lange Weg zum Krieg. Russland, die Ukraine und der Westen – Eskalation statt Entspannung. Heyne, München 2024, 335 Seiten, 24 Euro

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (1. Juli 2024 um 14:36 Uhr)
    Wer vom »Verspielen« einer gemeinsamen Sicherheitsordnung durch das »Schüren von Misstrauen« schreibt, hat das Wesen des Imperialismus nicht begriffen. Kann man das von den Verfassern oder dem Rezensenten erwarten? Wir möchten zwar manchmal gern, aber können doch einfach nicht zurück in die Zeit vor Jean Jaurès (1914) – »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen« – und vor allem vor Lenins Werk »Der Imperialismus …« von 1915. Leider hat sich an dieser bösen Erkenntnis, trotz Atomkriegsgefahr und drohender globaler Umweltvernichtung nichts Wesentliches geändert.

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