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Aus: Ausgabe vom 01.07.2024, Seite 16 / Sport
Fußball-EM

Gott sieht alles, nur keinen Fußball

Mit Hilfe von oben: Im Regen von Dortmund gewinnt Deutschland gegen Dänemark und steht im EM-Viertelfinale
Von René Hamann
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Rauf und runter: Nico Schlotterbeck trifft zum vermeintlichen 1:0 (29.6.2024)

Leider werden wir über den VAR, den Videoschiedsrichter, sprechen müssen. Und zwar nicht über die realen Personen, die in irgendwelchen Kellern in Köln oder Leipzig sitzen, sondern über das Wesen des Systems, über die Auswirkungen als solche. Der VAR, der, nehmen wir wenigstens an, erfunden wurde, um Entscheidungen zu treffen, die einer möglichen Objektivität eher entsprechen als die des menschlichen Auges, und die somit über Vorwürfen von Korruption, Parteilichkeit oder wenigstens Blindheit stehen, ist unterdessen zu einer göttlichen Instanz geworden, die ihren eigenen Regeln folgt und Fußballspiele maßlos in ihre Richtung zieht.

Zu den Fakten: Deutschland gewann das späte Abendspiel vom Sonnabend, das zweite Achtelfinale dieser EM, mit 2:0 gegen Dänemark. Das 1:0 besorgte Kai Havertz durch einen verwandelten Handelfmeter kurz nach der Halbzeitpause; Jamal Musiala schloss einen Alleingang nach Steilpass von Nico Schlotterbeck zum entscheidenden 2:0 ab (68. Minute). Danach versuchten die Dänen alles, um zurück ins Spiel zu finden; aber die Deutschen verteidigten den Vorsprung gekonnt und mit einem guten Manuel Neuer im Tor und zogen somit nicht unverdient ins Achtelfinale ein.

Nun hatte das Spiel mit einem Tor für Deutschland begonnen, in der vierten Minute, das durch Videobeweis aberkannt wurde. Hier muss man sagen: zu Recht, da Joshua Kimmich vor dem schönen Kopfball von Nico Schlotterbeck durch ein Foul die Spielsituation entscheidend beeinflusst hatte. Soweit alles korrekt. Nur, dass das Spiel hier bereits eine von mehreren ironischen Ebenen einzog: Schlotterbeck, im Nationaldress bislang eher ein Unsicherheitsfaktor, war erst durch Jonathan Tahs Gelbsperre ins Team gerückt und hätte hier ein Statement abliefern können mit seinem frühen Tor. So aber: nix da. VAR.

Im weiteren Verlauf des Spiels sollte Schlotterbeck dann noch so eine Schlendriansituation erzeugen, ein Dribbling im eigenen Strafraum, das fast schiefgegangen wäre, Schlotterbeck 2022 sozusagen, bevor er den Steilpass aus der Verteidigung zum aufs Tor zustürmenden Musiala schlug – die Entscheidung.

Was Schlotterbeck also letztendlich gelungen ist, daran sollte der dänische Verteidiger Joachim Andersen tragisch scheitern. Der Mann, der entweder an einen Borgen-Darsteller erinnert, der einen überselbstbewussten Chefjournalisten spielt, oder eben selbst etwas Altchefhaftes mit über den Platz trägt, wurde zum Antihelden fast ohne Selbstverschulden. Erst stand er richtig, als Exdortmunder Thomas Delaney nach einer Ecke den Ball zurückspielte: das vermeintliche 1:0 für Dänemark, das der VAR nach einer Millimeterentscheidung wieder zurücknahm.

Dann bekam er den Ball an die Hand, als eine Flanke von David Raum in den Strafraum flog: Elfmeter nach VAR-Entscheidung. Und schließlich war er es, der Musiala zum 2:0 ziehen lassen musste. Der Mann von Crystal Palace wird keine gute Nacht gehabt haben in Dortmund.

Das Spiel hatte es also in sich, inklusive einer viertelstündigen Zwangspause wegen eines Unwetters – die seltsame Aufstellung von Julian Nagelsmann fiel dabei nahezu unter den Tisch. Er hatte Leroy Sané gebracht, bayerischer Problemflügelspieler, für die eine Wusiala-Hälfte Florian Wirtz. »Warum?«, fragte man sich das Spiel hindurch. Sané rechtfertigte seine Aufstellung nicht wirklich. Als Wirtz kam, lag das 3:0 mehrmals in der Luft.

Taktisch hatte Nagelsmann auf »tiefe Läufe« gesetzt, faktisch waren es die Flanken, vorwiegend von Raum, die Gefahr brachten: noch so eine Ironie. Auch Toni Kroos besann sich auf seine Fähigkeit, gefährliche Ecken zu schlagen – Joshua Kimmich hat sich zu einem Mitläufer zurückentwickelt. Immerhin zu einem, der gut viel läuft.

Die Dänen verteidigten hart, wehrten den Sturmlauf ab, gewannen rund um den Mittelkreis viele Zweikämpfe, hatten offensiv gute Momente. Als das Spiel bereit war, zu ihren Gunsten zu kippen, schaltete sich der VAR ein. Und zwar doppelt. Noch so eine Ironie.

Also ja, sprechen wir hier ein vielleicht letztes Mal über Bilder, die entscheiden. Das Foul von Kimmich: Klar, so soll es sein. Ein Delikt wurde übersehen. Das Abseits von Delaney: hauchzart. Wo bleibt da die Grauzone? Warum gibt es hier eine Entscheidung gegen den Verlauf, wo man auch sagen könnte: im Zweifel für den Angreifer? Das Handspiel von Andersen: Gibt es armlose Körper? Wie war das mit der Regel, dass Absicht vorliegen muss?

Hinter der vermeintlich objektiven Technik steht auch hier wieder ein menschliches Ermessen, und zwar eines, das wie ein Kind sagt: Wir haben jetzt diese Technik, also sollen wir sie auch nicht ohne Grund haben. Um sie zu rechtfertigen, müssen wir sie walten lassen. Der Ball hat einen Chip, damit ein Handspiel angezeigt werden kann. Wie und was dieses Handspiel jetzt genau ist, ist sekundär: Die Technik entscheidet das Spiel, weil der die Technik durchsetzen wollende Mensch das so will.

Dänemarks Nationaltrainer Kasper Hjulmand hat die Entscheidungen als »disgrace« (»Schande«) bezeichnet. Zum Beispiel das Abseits: »Wir reden über einen Zentimeter. Kann das wirklich die zweifelsfreie Wahrheit sein?«, fragte er im ZDF. Schande ist vielleicht zu hart. Aber würdelos, das war es.

So fahren die Dänen insgesamt nicht unverdient nach Hause; das deutsche Team darf sich auf ein mögliches ­Duell mit den Spaniern freuen – Ausreden zählen da nicht mehr. Das Turnier ist in seine entscheidende Phase getreten. Hoffen wir, dass der Fußballgott VAR sich in seiner göttlichen Macht wieder mäßigt. Wir wollen nämlich Fußball sehen.

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  • Leserbrief von Hans Schoenefeldt (1. Juli 2024 um 14:31 Uhr)
    Ich bin der Meinung, dass man die VARs abschaffen muss. Offenbar begründen sie ihre Legitimation bzw. Daseinsberechtigung allein damit, dass sie als Totengräber diesem Ballsport die Luft zum Atmen nehmen wollen. Die Abseitsregel, eine der kreativsten Regeln im Fußball, sollte das Offensivspiel befördern. Sie sollte verhindern, dass sich ein Spieler oder gleich mehrere vor das gegnerische Tor in Erwartung eines langen Passes stellten. Einen Spielaufbau hätte es so niemals gegeben. Das habe ich als ballverliebter Freizeit-Fußballer erlebt und gelernt.
    Was wir mit den VAR-Interventionen erleben, ist genau das Gegenteil des Sinns der Regel. Die VAR-Bürokraten stehen für eine Perversion der Abseitsidee, weil sie das Offensivspiel hemmten. Die Angst des Weitspringers überzutreten, verleitet ihn zu Sicherheitssprüngen aus Angst vor Disqualifikation. Aber deshalb ist es wohl so schwierig, diese Regel jenen zu vermitteln, die nie Fußball gespielt haben. Es wäre zumindest sinnvoll, im Vorfeld oder danach, den Ursprung dieser Regel von Experten dann und wann erklären zu lassen, vorausgesetzt, dass diese sie überhaupt selbst verstehen.
    Ich denke an Günter Netzers Schuhgröße, die ihm etliche Male zum Verhängnis hätten werden können. Gut, er hielt sich zurück und war der Regisseur im Mittelfeld. Aber vielleicht geht es den Akteuren dort auch bald an den Kragen. Das Trainer/Spieler-Geschimpfe und das Gerede von Reportern über Abseits oder nicht vor dem VAR war mir allemal lieber als das, was heute passiert, außerdem gibt es das ja auch immer noch. Dem Gequatsche eines Loddars (Matthäus) entgehen wir so oder so nicht. Zum leichteren Verständnis noch ein Satz des legendären Trainers Hennes Weisweiler: »Abseits ist immer dann, wenn der lange Arsch (er meinte Günter Netzer) zu spät abspielt.«
    Genauso wichtig wäre für mich auch eine neue Regel: Spieler dürfen fortan nur noch mit ihren Armen, die am Rücken mit Kabelbinder befestigt werden, auflaufen. Dann gibt es keine Handelfmeter mehr und beim Tor dürfen sich die Spieler nur auf den Rücken legen und mit den Beinen strampeln. Dann nähern wir uns dem Ursprung des Lebens, dass dann ohne Fußball stattfindet.