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Aus: Ausgabe vom 02.07.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Produktivkraftentwicklung

Ungedeckte Wechsel

Profit auf Pump. Über kapitalistische Produktivkraftentwicklung
Von Daniel Bratanovic
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Vergangene Arbeit ersetzt mehr und mehr lebendige (Ausschnitt aus einem Mural von Diego Rivera, 1932/33)

Es ist einer der berühmteren Sätze aus dem Marx-Engels-Kanon, der gut 175 Jahre nach seiner Niederschrift noch Gültigkeit beanspruchen darf: »Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsin­strumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.« Aber gilt er uneingeschränkt? Marx und Engels waren Zeugen eines Epochenumbruchs: Jahrtausendelang waren das Pferd zu Land und das Segelschiff zur See die schnellsten Fortbewegungsmittel. Mit einem Mal aber beherrschten Lokomotive und Dampfschiff die Szene. Ganze Armeen von Lohnarbeitern zogen tagein, tagaus in riesige Fabriken mit rauchenden Schloten und arbeiteten an gigantischen Maschinen, wo 150 Jahre zuvor noch kleine Manufakturen gestanden hatten.

Die »Vervollkommnung der Maschinen« (Adam Smith) beschreibt aber bloß die stofflich-technologische Seite, eines umfassenden, alles ergreifenden Verhältnisses. Anschließend an die zitierte Passage heißt es im »Manifest der Kommunistischen Partei«: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus.« Dass diese Bourgeoisie »massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen hat als alle vergangenen Generationen zusammen«, ist unzweifelhaft richtig, aber warum kann sie nicht anders? Bei der permanenten Revolutionierung der Produktivkräfte folgt sie einem Zwang. Ihr Stimulus ist das Streben nach Extramehrwert innerhalb der Konkurrenz der Kapitale: Der einzelne Kapitalist steigert mittels neuer Produktionsmethoden oder Maschinen die Produktivität seiner Arbeiter. So kann er den individuellen Wert seiner Produkte reduzieren und zum üblichen gesellschaftlichen Wert verkaufen – die Differenz ist der Extramehrwert. Verallgemeinert sich die neue Produktionsmethode, verschwindet er. Entwicklung der Produktivkräfte heißt vor diesem Hintergrund, dass ein wachsendes Quantum an Mehrarbeit bzw. Mehrprodukt mit einem geringer werdendem Quantum an notwendiger Arbeit erbracht wird, oder von der stofflichen Seite betrachtet: fortschreitender Ersatz lebendiger durch vergegenständlichte vergangene Arbeit. Was also Produktivkräfte sind und wie sie sich bewegen, kann in der bürgerlichen Gesellschaft ohne Bezug auf den Tauschwert, der sie bestimmt, nicht erfasst werden.

Was unter Marxisten allgemein bekannt ist, ist damit noch lange nicht erkannt. Das Verständnis von Produktivkraft als gesamtgesellschaftliche, also auf den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess bezogene Größe wurde mitunter ersetzt durch eine verdinglichte Auffassung, die Produktivkräfte allein mit Produktionsmitteln und Technik identifiziert. So erscheint dann der technische Fortschritt bei Kautsky als »Grundlage der gesamten Entwicklung der Menschheit«. Auch Bucharin vertritt in seiner »Theorie des historischen Materialismus« (1922) einen mechanistischen Begriff von Produktivkraft. Deren Entwicklung schrumpft bei ihm zur Entwicklung der gesellschaftlichen Technik zusammen, die er zum Dreh- und Angelpunkt seiner ganzen Gesellschaftsanalyse macht. Lukács kritisierte daran, dass Bucharin zuweilen das Entscheidende verwischt: »sämtliche Phänomene der Ökonomie (…) auf gesellschaftliche Beziehungen der Menschen untereinander zurückzuführen«. Auch Gramsci bemängelte, dass bei ihm Technik »an die Stelle des Ensembles der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse tritt«, und betont die gesellschaftliche Formbestimmtheit der Technik. Mit seiner technizistischen Produktivkraftkonzeption blieb Bucharin nicht allein. Stalin sprach in »Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft« (1950) explizit von der Neutralität der Technik, betrachtete Produktivkräfte also nicht im Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen, sondern naturalistisch.

In welchem Maße von einer übergreifenden gesellschaftlichen Auffassung der Produktivkraftentwicklung ausgegangen werden muss, lässt sich negativ auch anhand dringender Gegenwartsfragen darstellen. Kapitalistische Produktionsweise hat in den vergangenen zwei Jahrhunderten die »naturbedingten Produktivkräfte« bzw. die »Gratisdienste der Natur« (Marx) in einem Maße vernutzt, dass ihre vollständige natürliche Reproduktion nicht mehr gewährleistet ist. Sie gewinnen damit einen Wert, der bestimmt ist durch die zu ihrer Reproduktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. »Es findet hier praktisch neben der Ersetzung lebendiger Arbeit durch vergangene auch eine Substitution lebendiger Arbeit durch zukünftige statt, die im Gegensatz zur völlig bezahlten toten Arbeit und zur teilweise bezahlten lebendigen Arbeit nicht bezahlte und nicht geleistete Arbeit ist, ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, Beraubung künftiger Generationen.« (Knolle-Grothusen).

Wissenschaftler haben im Auftrag der Bundesministerien für Umwelt sowie Wirtschaft und Klimaschutz im vergangenen Jahr die finanziellen Folgen des Klimawandels bis zur Mitte des Jahrhunderts auf bis zu 900 Milliarden Euro beziffert. Dies bedeutet, dass bisheriger Profit, im Kapitalismus der einzige Maßstab zur Beurteilung der Produktivität, um den Preis nun eintretender erheblicher ökologischer Verwerfungen erfolgt ist, deren Behebung gesellschaftliche Aufgabe ist. Vergangener Profit erweist sich damit nachträglich als unproduktiv, »wenn man die unterschlagene zukünftige Arbeit mit in Rechnung stellt« (Knolle-­Grothusen). Gesamtgesellschaftlich gesehen kann demnach bei allem technologischen Fortschritt angesichts der erreichten Stufe des Stoffwechselprozesses von einer »Scheinentwicklung« der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung gesprochen werden. Die Bourgeoisie revolutioniert nicht mehr, sie destruiert.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (4. Juli 2024 um 14:27 Uhr)
    Zur Erinnerung: Hierzulande erinnere mich lachend und erzähle diese wahre Geschichte gern. Mein lieber Nachbar in Dresden Prohlis klingelte am Anfang der Achtziger vor Weihnachten bei uns, und sagte: Herr Hidy es gibt Radeberger in der Kaufhalle, beeilen sie sich, aber nehmen sie ihre Frau auch mit, weil es nur drei Flaschen pro Person gibt!
  • Leserbrief von Dieter Elken (4. Juli 2024 um 14:14 Uhr)
    Jegliche Produktivkraftentwicklung ist seit ihren Anfängen immer auch mit Eingriffen in die außermenschliche Natur verbunden und damit zugleich destruktiv. Das war in Teilen der Welt schon immer mit der Zerstörung von Naturkreisläufen verbunden. Man denke nur an die Zerstörung der Wälder rund um das Mittelmeer. Der dem Kapitalismus innewohnende Zwang, Profite zu maximieren, zwingt zugleich dazu, sich ohne Rücksicht auf natürliche Kreisläufe alle Naturkräfte zu unterwerfen – solange die je eigene Naturnutzung für die Profitmaximierung nicht in Gefahr gerät. Die im Kapitalismus auf die Spitze getriebene chaotische Form der Naturnutzung bewirkt zwangsläufig immer wieder Katastrophen und/oder verschärft sie.

    »Naturgegeben« ist im Kapitalismus die Gratisnutzung der außermenschlichen Natur und die Tendenz, sie über die Grenzen der Regenerationsfähigkeit von Naturkreisläufen hinaus zu treiben. »Naturgegeben« ist ebenso, dass Wechselwirkungen mit den Eingriffen anderer Kapitalisten und die kumulierten Effekte solcher Eingriffe aus Sicht der Einzelkapitalisten im Falle von Umweltkatastrophen nicht deren Problem sind. Es handelt sich aus kapitalistischer Sicht um gesellschaftliche Probleme.

    Die Kosten der Beseitigung von so verursachten großen Umweltkatastrophen und ihrer Folgekosten haben mit dem Einzelkapitalisten und seinem privaten Profit nichts zu tun. Sie beeinträchtigen daher seine Wertschöpfung nicht. Es ist daher unsinnig, wenn Bratanovic im Anschluss an Knolle-Grothusen von einem ungedeckten Wechsel und der Beraubung künftiger Generationen durch unbezahlte (künftige) Arbeit schreibt.

    Kapitalistischer Profit ist ungeachtet seiner gesellschaftlichen Produktion immer privater Profit. Gesellschaftliche Kosten, erst recht keine künftigen Kosten, können den privaten Profit nicht mindern. Bratanovics These, dass sich vergangener Profit wegen der gesellschaftlichen Kosten nachträglich als unproduktiv erweist, ist schlicht falsch.

    Völlig daneben ist schließlich sein Versuch, die künftigen gesellschaftlichen Kosten von Umweltkatastrophen mit den fiktiven Kosten der Beseitigung des Klimawandels belegen zu wollen. Der Klimawandel ist größtenteils nicht durch die Industrialisierung verursacht. Nach Mehrheitsmeinung der sich damit befassenden Wissenschaftler wird er durch die Industrialisierung verschärft bzw. beschleunigt. Das macht die von ihm zitierten Kostenberechnungen und die Bezugnahme auf die Produktivkraftentwicklung unsinnig.

    Wenn er die destruktive Seite der kapitalistisch geprägten Produktivkraftentwicklung deutlich machen will, sollte er sich nicht nur mit Umweltpolitik, sondern auch mit den Rückwirkungen der kapitalistischen Form der Produktivkraftentwicklung auf die menschliche Gesellschaft befassen: Mit wiederkehrenden ökonomischen Krisen, mit Militarisierung und Kriegen, Umweltkatastrophen, Elend bei gleichzeitiger Verschwendung und Luxuskonsum, alten und neuen Seuchen und deren kumulierte Auswirkungen auf die Hauptproduktivkraft, die Menschheit.
  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (3. Juli 2024 um 12:03 Uhr)
    Das Thema wird seit »Limits to Growth« (1972) sogar von Weltbank und IWF debattiert – geholfen hat es nicht. Die kapitalistische Produktionsweise versagt ohnehin regelmäßg bei allumfassenden Aufgabenstellungen, etwa der Folgenbewältigung und Vorbeugung von großen Katastrophen. Daher gibt es die Theorie von der »hydraulischen Gesellschaftsformation«, von Karl-August Wittfogel, nach der es etwa unter einem »orientalischen Despoten« viel besser gelang und gelingt, Flutkatastrophen zu verhindern als mit dem Kapitalismus, indem ein landesweites Deichsystem mit staatlichen. Deichwächtern (»Deichgrafen« usw.) geschaffen und aufrechterhalten wird. In China war das eventuell, Wittfogel war davon überzeugt, die Basis der Jahrhunderte dauernde Existenz des Kaiserreiches mit seiner Unzahl von staatlichen Beamten aller Ebenen. Ehe wir uns darüber mokieren: die Schleusensysteme in den Niederlanden an den Mündungen von Maas, Rhein und Schelde hat der Staat in Auftrag gegeben, von Rendite bzw. Profit war da keine Rede! Weil es wortwörtlich um das künftige Überleben des Südens der Niederlande ging!
    Wer denkt dabei nicht auch mal an Stalins »Großbauten des Kommunismus«? In den damals angelegten Waldschutzstreifen des früheren »wilden Feldes« im Süden der Ukraine wird heute gekämpft und gestorben – weiterentwickelt wird nichts! Dass es mit dem wohl größten Sowjet-Projekt, der Wasserversorgung des Aralsees aus sibirischen Strömen, nichts geworden ist (und im Oligarchenkapitalismus der untereinander verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken auch z. Z. gar nichts werden kann), wird noch Generationen leidtun. Der Kapitalismus kann sowas nicht. China zeigt, gerade im Wasser- und Umweltbereich, was der Staat kann (und was auch mal nicht).
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (2. Juli 2024 um 00:32 Uhr)
    Der außerordentlich wichtige Artikel zeigt einige Schwachstellen der »Sozialismus oder Barbarei«-Parole auf. Viele Linke, die sich dieser Parole bedienen, sind hoffnungslose Fortschrittsgläubige (und setzen sich von daher nicht von der bürgerlichen Grundauffassung ab). Von der Neutralität der Technik wird vielfach ausgegangen bzw. davon, dass »alle Probleme« technisch/technologisch lösbar sind. Es reicht aber nicht aus, die Produktivkräfte im Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen zu betrachten, man muss beides ins Verhältnis zu den Gratisdiensten der Natur setzen. Ein Gratisdienst der Natur sind habitable Zonen (»Was ist eine Habitable Zone« wäre einen Artikel in der Rubrik »Natur & Wissenschaft« wert …). Sie ermöglichen die Bildung von Materieansammlungen, die man Leben nennt. Selbige müssen zur Aufrechterhaltung ihrer Existenz Entropie exportieren können (nicht abgeschlossene Systeme!). Die derzeitige Entwicklung der Produktivkräfte ist durchaus geeignet, die Entropieexportfähigkeit von Organismen in der (noch) habitablen Zone »Erde« zu erschweren bis unmöglich zu machen. Beispiele hierfür findet man auch in dieser Zeitung, z. B. Berichte über Korallenbleiche und Hitzetote (siehe hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Hitzeindex). Ein Problem bei der Sache ist, dass ihr Kern ziemlich unanschaulich ist. Mit Marx: »Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.« In diesem Sinne hat »die Linke« noch allerhand zu tun, um das Wesen des ungedeckten Wechsels zu erkennen.

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