Ungedeckte Wechsel
Von Daniel BratanovicEs ist einer der berühmteren Sätze aus dem Marx-Engels-Kanon, der gut 175 Jahre nach seiner Niederschrift noch Gültigkeit beanspruchen darf: »Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.« Aber gilt er uneingeschränkt? Marx und Engels waren Zeugen eines Epochenumbruchs: Jahrtausendelang waren das Pferd zu Land und das Segelschiff zur See die schnellsten Fortbewegungsmittel. Mit einem Mal aber beherrschten Lokomotive und Dampfschiff die Szene. Ganze Armeen von Lohnarbeitern zogen tagein, tagaus in riesige Fabriken mit rauchenden Schloten und arbeiteten an gigantischen Maschinen, wo 150 Jahre zuvor noch kleine Manufakturen gestanden hatten.
Die »Vervollkommnung der Maschinen« (Adam Smith) beschreibt aber bloß die stofflich-technologische Seite, eines umfassenden, alles ergreifenden Verhältnisses. Anschließend an die zitierte Passage heißt es im »Manifest der Kommunistischen Partei«: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus.« Dass diese Bourgeoisie »massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen hat als alle vergangenen Generationen zusammen«, ist unzweifelhaft richtig, aber warum kann sie nicht anders? Bei der permanenten Revolutionierung der Produktivkräfte folgt sie einem Zwang. Ihr Stimulus ist das Streben nach Extramehrwert innerhalb der Konkurrenz der Kapitale: Der einzelne Kapitalist steigert mittels neuer Produktionsmethoden oder Maschinen die Produktivität seiner Arbeiter. So kann er den individuellen Wert seiner Produkte reduzieren und zum üblichen gesellschaftlichen Wert verkaufen – die Differenz ist der Extramehrwert. Verallgemeinert sich die neue Produktionsmethode, verschwindet er. Entwicklung der Produktivkräfte heißt vor diesem Hintergrund, dass ein wachsendes Quantum an Mehrarbeit bzw. Mehrprodukt mit einem geringer werdendem Quantum an notwendiger Arbeit erbracht wird, oder von der stofflichen Seite betrachtet: fortschreitender Ersatz lebendiger durch vergegenständlichte vergangene Arbeit. Was also Produktivkräfte sind und wie sie sich bewegen, kann in der bürgerlichen Gesellschaft ohne Bezug auf den Tauschwert, der sie bestimmt, nicht erfasst werden.
Was unter Marxisten allgemein bekannt ist, ist damit noch lange nicht erkannt. Das Verständnis von Produktivkraft als gesamtgesellschaftliche, also auf den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess bezogene Größe wurde mitunter ersetzt durch eine verdinglichte Auffassung, die Produktivkräfte allein mit Produktionsmitteln und Technik identifiziert. So erscheint dann der technische Fortschritt bei Kautsky als »Grundlage der gesamten Entwicklung der Menschheit«. Auch Bucharin vertritt in seiner »Theorie des historischen Materialismus« (1922) einen mechanistischen Begriff von Produktivkraft. Deren Entwicklung schrumpft bei ihm zur Entwicklung der gesellschaftlichen Technik zusammen, die er zum Dreh- und Angelpunkt seiner ganzen Gesellschaftsanalyse macht. Lukács kritisierte daran, dass Bucharin zuweilen das Entscheidende verwischt: »sämtliche Phänomene der Ökonomie (…) auf gesellschaftliche Beziehungen der Menschen untereinander zurückzuführen«. Auch Gramsci bemängelte, dass bei ihm Technik »an die Stelle des Ensembles der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse tritt«, und betont die gesellschaftliche Formbestimmtheit der Technik. Mit seiner technizistischen Produktivkraftkonzeption blieb Bucharin nicht allein. Stalin sprach in »Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft« (1950) explizit von der Neutralität der Technik, betrachtete Produktivkräfte also nicht im Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen, sondern naturalistisch.
In welchem Maße von einer übergreifenden gesellschaftlichen Auffassung der Produktivkraftentwicklung ausgegangen werden muss, lässt sich negativ auch anhand dringender Gegenwartsfragen darstellen. Kapitalistische Produktionsweise hat in den vergangenen zwei Jahrhunderten die »naturbedingten Produktivkräfte« bzw. die »Gratisdienste der Natur« (Marx) in einem Maße vernutzt, dass ihre vollständige natürliche Reproduktion nicht mehr gewährleistet ist. Sie gewinnen damit einen Wert, der bestimmt ist durch die zu ihrer Reproduktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. »Es findet hier praktisch neben der Ersetzung lebendiger Arbeit durch vergangene auch eine Substitution lebendiger Arbeit durch zukünftige statt, die im Gegensatz zur völlig bezahlten toten Arbeit und zur teilweise bezahlten lebendigen Arbeit nicht bezahlte und nicht geleistete Arbeit ist, ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, Beraubung künftiger Generationen.« (Knolle-Grothusen).
Wissenschaftler haben im Auftrag der Bundesministerien für Umwelt sowie Wirtschaft und Klimaschutz im vergangenen Jahr die finanziellen Folgen des Klimawandels bis zur Mitte des Jahrhunderts auf bis zu 900 Milliarden Euro beziffert. Dies bedeutet, dass bisheriger Profit, im Kapitalismus der einzige Maßstab zur Beurteilung der Produktivität, um den Preis nun eintretender erheblicher ökologischer Verwerfungen erfolgt ist, deren Behebung gesellschaftliche Aufgabe ist. Vergangener Profit erweist sich damit nachträglich als unproduktiv, »wenn man die unterschlagene zukünftige Arbeit mit in Rechnung stellt« (Knolle-Grothusen). Gesamtgesellschaftlich gesehen kann demnach bei allem technologischen Fortschritt angesichts der erreichten Stufe des Stoffwechselprozesses von einer »Scheinentwicklung« der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung gesprochen werden. Die Bourgeoisie revolutioniert nicht mehr, sie destruiert.
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Tabu ums Tabu
vom 02.07.2024
»Naturgegeben« ist im Kapitalismus die Gratisnutzung der außermenschlichen Natur und die Tendenz, sie über die Grenzen der Regenerationsfähigkeit von Naturkreisläufen hinaus zu treiben. »Naturgegeben« ist ebenso, dass Wechselwirkungen mit den Eingriffen anderer Kapitalisten und die kumulierten Effekte solcher Eingriffe aus Sicht der Einzelkapitalisten im Falle von Umweltkatastrophen nicht deren Problem sind. Es handelt sich aus kapitalistischer Sicht um gesellschaftliche Probleme.
Die Kosten der Beseitigung von so verursachten großen Umweltkatastrophen und ihrer Folgekosten haben mit dem Einzelkapitalisten und seinem privaten Profit nichts zu tun. Sie beeinträchtigen daher seine Wertschöpfung nicht. Es ist daher unsinnig, wenn Bratanovic im Anschluss an Knolle-Grothusen von einem ungedeckten Wechsel und der Beraubung künftiger Generationen durch unbezahlte (künftige) Arbeit schreibt.
Kapitalistischer Profit ist ungeachtet seiner gesellschaftlichen Produktion immer privater Profit. Gesellschaftliche Kosten, erst recht keine künftigen Kosten, können den privaten Profit nicht mindern. Bratanovics These, dass sich vergangener Profit wegen der gesellschaftlichen Kosten nachträglich als unproduktiv erweist, ist schlicht falsch.
Völlig daneben ist schließlich sein Versuch, die künftigen gesellschaftlichen Kosten von Umweltkatastrophen mit den fiktiven Kosten der Beseitigung des Klimawandels belegen zu wollen. Der Klimawandel ist größtenteils nicht durch die Industrialisierung verursacht. Nach Mehrheitsmeinung der sich damit befassenden Wissenschaftler wird er durch die Industrialisierung verschärft bzw. beschleunigt. Das macht die von ihm zitierten Kostenberechnungen und die Bezugnahme auf die Produktivkraftentwicklung unsinnig.
Wenn er die destruktive Seite der kapitalistisch geprägten Produktivkraftentwicklung deutlich machen will, sollte er sich nicht nur mit Umweltpolitik, sondern auch mit den Rückwirkungen der kapitalistischen Form der Produktivkraftentwicklung auf die menschliche Gesellschaft befassen: Mit wiederkehrenden ökonomischen Krisen, mit Militarisierung und Kriegen, Umweltkatastrophen, Elend bei gleichzeitiger Verschwendung und Luxuskonsum, alten und neuen Seuchen und deren kumulierte Auswirkungen auf die Hauptproduktivkraft, die Menschheit.
Wer denkt dabei nicht auch mal an Stalins »Großbauten des Kommunismus«? In den damals angelegten Waldschutzstreifen des früheren »wilden Feldes« im Süden der Ukraine wird heute gekämpft und gestorben – weiterentwickelt wird nichts! Dass es mit dem wohl größten Sowjet-Projekt, der Wasserversorgung des Aralsees aus sibirischen Strömen, nichts geworden ist (und im Oligarchenkapitalismus der untereinander verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken auch z. Z. gar nichts werden kann), wird noch Generationen leidtun. Der Kapitalismus kann sowas nicht. China zeigt, gerade im Wasser- und Umweltbereich, was der Staat kann (und was auch mal nicht).