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Aus: Ausgabe vom 03.07.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Verfassung

Von Felix Bartels
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Formal keine Verfassung, doch in ihrem Geiste: Der Code civil garantiert die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz

Die Verfassung ist das oberste Gesetz eines Staates. Sie hat nicht jede Einzelheit zu regeln, sondern bestimmt, wer im Staat Macht ausübt und in welcher Form das geschehen soll. Sie genießt Vorrang vor den konkreteren gesetzlichen Regelungen und kann so leicht auch nicht geändert werden.

Während sie formal den anderen Gesetzen vorausgesetzt ist, verhält es sich historisch umgekehrt. Im Altertum treten die ersten Gesetze als Regelungen alltäglicher Belange auf, eine Verfassung gehört erst ab der Neuzeit zu den genuinen Eigenschaften eines Staates. Es fand also über die Epochen hinweg eine Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten statt. Ein Gesetz ist geronnene Gewohnheit. Die alten Griechen hatten das Wort »nomos«, das sich zur indogermanischen Wurzel *nem rückverfolgen lässt. Die bedeutet so viel wie »weiden lassen«, späterhin »verteilen«. Die Nutzung von Weidefläche war eine der ältesten gesetzlichen Regelungen.

Gewohnheit kann nur Gesetz werden, wo Schrift existiert. Im lateinischen Wort »lex« steckt das Verb »legere«, was »lesen« bedeutet, und in der Religion spiegelt sich das nämliche Verhältnis in der Beziehung von Liturgie und Buch. Historisch folgt das spätere dem früheren, doch einmal in der Welt, bestimmt das spätere das frühere. Schrift ermöglicht, einen Inhalt (eine Erinnerung, ein Gedicht, eine Inventarliste, einen Vertrag, eine Vorschrift usw.) von seinem Urheber abzusondern. Das Gesetz tritt als eigenständiger Gegenstand auf. Es verkörpert eine Gewohnheit, indem es sie objektiviert. Durch ihre schriftliche Fixierung wird eine Regelung des sozialen Lebens weniger fluide, weniger willkürlich. Im Fall von Streitigkeiten können sich die Parteien nun auf etwas berufen, das außer ihnen liegt, das ist, wie es ist, und auch morgen noch so sein wird, wie es jetzt ist. Auf sehr lange Sicht gilt das auch für die Ausübung politischer Herrschaft. Mit der Etablierung geschriebener Gesetze war die Trennung von Macht und Recht möglich.

Die Verfassung wiederholt diesen Vorgang auf höherer Ebene. Wie der Brauch sich im Gesetz entäußert hat, entäußern die Gesetze sich in der Verfassung. Sie geben ihre Souveränität an eine höhere Instanz ab. Wodurch sie, deren Verallgemeinerung die Verfassung sein soll, in Konflikt mit ihr geraten können. Mitunter frisst eine Verfassung ihre Kinder, und in der langen Geschichte von Staaten und ihren Gesetzen, beginnend im Altertum und reichend bis heute, ist – ein paar düstere Episoden beiseite – der gesellschaftliche Verkehr objektiver, weniger chaotisch und humaner geworden. Recht der ersten Nacht, Wüstung, Bauernlegen, Folter, Kinderarbeit, Ungleichheit verschiedener Gruppen vor dem Gesetz, exklusives Wahlrecht, Unterdrückung anderer Konfessionen, eingeschränkte Rechte für Frauen – all das war einmal »Unrecht, welches hundert Jahre Recht geheißen«, wie Hegel 1818 in seiner Beurteilung der Württembergischen Landstände schrieb.

Indem die Verfassung das letzte Wort hat, wird das Problem der Willkür abgeschwächt, ganz beseitigt allerdings nicht. Der innere Widerspruch jeglichen Gesetzes besteht weiter. Eine Verfassung soll bloßes Setzen von Recht verhindern, aber sie selbst kam durch eine Setzung zustande. Jede Verfassung hat einen Verfasser. Im Akt ihrer Konstitution verstößt sie so gegen ihre eigene Bestimmung. Sogenannte Verfassungsväter setzen sich übers Gesetz hinweg, um künftige Drüberhinwegsetzungen zu verhindern. Man schafft einen Souverän, der sich selbst nicht widersprechen kann (Bodin), einen Leviathan, der den chaotischen Naturzustand in sich einschließt, um ihn aus dem Rest der Gesellschaft auszuschließen (Hobbes). Diese Funktion hat in vordemokratischer Epoche der absolute Monarch getragen, als vorläufiger Ersatz für eine objektivierte Ordnung. Eine Verfassung markiert also nichts anderes als eine nichtpersönliche Personenherrschaft.

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