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Aus: Ausgabe vom 04.07.2024, Seite 4 / Inland
Niedergang der Linkspartei

Gysi zieht Notbremse

Nach Linke-Desaster bei EU-Wahl fordern ehemalige Fraktionschefs umfassende Erneuerung der Partei
Von Nico Popp
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Kurz vor 12: Gregor Gysi und Dietmar Bartsch (Berlin, 10.11.2023)

Nach dem Fiasko der Partei Die Linke bei der EU-Parlamentswahl am 9. Juni wächst der Druck auf die Parteispitze. Nachdem sich zuletzt die direkt gewählte Berliner Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch mit scharfer Kritik zu Wort gemeldet und eine Neuausrichtung beim Bundesparteitag im Oktober gefordert hatte, legen nun zwei weitere Abgeordnete nach, deren Stimme innerparteilich Gewicht hat: die beiden ehemaligen Fraktionschefs Gregor Gysi und Dietmar Bartsch.

»Ich sage es hier ganz offen, wir brauchen eine strukturelle, politische und personelle Erneuerung«, sagte Gysi bei einem Pressegespräch am Dienstag abend in Berlin. Komme diese Erneuerung nicht, und »wir denken, wir machen weiter so, wir bleiben bei 2,7 Prozent – das wäre natürlich eine Katastrophe«, fügte er hinzu. Bartsch sagte: »Die entscheidende Frage ist wirklich die, dass es eine Alternative gibt.« Beide legten sich nicht fest, ob sie bei der Bundestagswahl 2025 noch einmal kandidieren. Zumindest innerparteilich wollen sich beide Politiker, die bereits in führenden Funktionen der Vorgängerpartei PDS aktiv waren, nicht mehr in der ersten Reihe engagieren. Das sei Sache einer anderen Generation, sagte Bartsch. Wie Lötzsch verlangten sie, dass die Partei insbesondere das Thema Frieden wieder stärker in den Vordergrund stellt.

Mit der Intervention stoßen Gysi und Bartsch in laufende Manöver der Parteispitze. In der vergangenen Woche hatte Koparteichef Martin Schirdewan die Möglichkeit angedeutet, dass er nicht mehr für das Amt kandidieren wird. Unmittelbar nach der EU-Wahl hatte er noch einen »Neubegründungsprozess der Linken« angekündigt. Offen ist, ob Koparteichefin Janine Wissler versuchen wird, sich im Amt zu halten – die drei ostdeutschen Landtagswahlen, bei denen ebenfalls ein Desaster droht, stehen ja noch bevor. Die spannendere Frage ist schon jetzt, ob die Strömungen und Netzwerke, die hinter Schirdewan und Wissler stehen, versuchen werden, ihre Mehrheitsposition im Vorstand zu verteidigen und die Doppelspitze erneut mit eigenen Leuten zu besetzen.

Vorläufig sieht es so aus, als würde das versucht werden. »Eine Personaldebatte vor den Wahlen ist für die Unterstützung kontraproduktiv«, kommentierte Bundesgeschäftsführerin Katina Schubert am Mittwoch die Äußerungen von Gysi und Bartsch. Die Parteivorsitzenden hätten bereits mit den Landesvorsitzenden einen Prozess verabredet, »um auf dem Bundesparteitag zu einer inhaltlichen, strategischen und personellen Aufstellung mit Blick auf die Bundestagswahl zu kommen«. Und »alle, die in den letzten Jahren Verantwortung in Partei und Bundestagsfraktion tragen oder bis vor kurzem getragen haben, sollten sich selbstkritisch hinterfragen, statt öffentlich gegen andere auszuteilen«, so Schubert weiter.

Sicher ist, dass der Linkspartei nach jahrelangem Niedergang eine Kur, die lediglich zur Auswechslung der unmittelbaren Parteispitze oder auch einer weitgehenden Neubesetzung des Parteivorstandes mit einer Entmachtung des Blocks aus Regierungslinken und »Bewegungslinken« führt, nicht helfen wird. Dann bliebe nämlich immer noch der inhaltliche Notstand. Als »progressives« Anhängsel des liberalen Parteienblocks hat die Partei Die Linke abgewirtschaftet. Ob sie überhaupt noch über die für einen Schwenk hin zu einer scharfen Oppositionspolitik nötigen politischen und intellektuellen Ressourcen verfügt, ist völlig offen. Und natürlich steht die Frage, ob es für solche Kurskorrekturen nicht längst zu spät ist.

Zumindest zeichnet sich nun ab, dass es auf dem Parteitag zu einem Machtkampf zwischen dem in den vergangenen Jahren im Parteivorstand tonangebenden Flügel und der Strömung kommen wird, die bis zum Austritt der Wagenknecht-Gruppe mit dieser die Mehrheit in der Bundestagsfraktion gebildet hatte. Sie setzt auf eine Art Resozialdemokratisierung der Partei, um ihr insbesondere bei der alten Kernwählerschaft im Osten wieder ein Mindestmaß an Attraktivität zu verschaffen. Mit der Wahl von Sören Pellmann und Heidi Reichinnek konnte sich diese Richtung bereits bei der Besetzung der Doppelspitze der neuen Bundestagsgruppe durchsetzen.

Der Ausgang dieser Konfrontation ist allerdings offen. Die Delegierten wurden neu gewählt; dennoch können Gysi und Bartsch nicht sicher davon ausgehen, bei diesem Parteitag Mehrheiten für ihre Positionen zu finden. Neben dem alten Problem, dass die Basis auf Parteitagen der Linkspartei gegenüber Funktionären, Abgeordneten und Beschäftigten von Partei und Stiftung chronisch unterrepräsentiert ist, wirkt sich nun aus, dass zahlreiche Kritiker der Linie des Vorstandes in den vergangenen Jahren aus der Partei ausgetreten sind.

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  • Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (4. Juli 2024 um 12:52 Uhr)
    Nachdem der Tanker längst in zwei Teile zerbrochen ist, und der Kampf um die wenigen Rettungsboote läuft, wird gefachsimpelt, ob der Kurs voll auf den Eisberg wirklich der richtige war. Popcorn …
  • Leserbrief von Kora Brandner aus Elsteraue (4. Juli 2024 um 11:27 Uhr)
    Im Artikel von Nico Popp wird unter anderem die Frage aufgeworfen, ob es für eine Kurskorrektur nicht schon zu spät sei. Meines Erachtens hätten Gysi und Bartsch den Niedergang der Partei schon längst erkennen können. Aus der Basis wurde schon lange der Unmut signalisiert. Seit dem Göttinger Parteitag wurde dem Abwärtstrend nur beschwichtigend zugeschaut. Ich bezweifle, dass es noch Kräfte gibt, die die Partei über fünf Prozent führen können. Auch Katina Schubert hat ihren Anteil an Streit und Desillusionierung der Basis. Eines konnten Menschen die sich im Parteienspektrum links
    verorten schon immer gut – nämlich sich streiten und zerlegen. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.
  • Leserbrief von Doris Prato (4. Juli 2024 um 11:21 Uhr)
    Damit will Gregor Gysi vergessen machen, dass er mit seinem übelsten Opportunismus die Linke in diese tiefe Krise geführt hat. Es begann damit, dass er im Oktober 1989 an der Spitze einer Gruppe von »Reformern« das Politbüro absetzte und selbst die Parteiführung übernahm. Bei dem später gern »Sturm aufs große Haus« genannten Vorgehen handelte es sich quasi um einen Parteiputsch, denn immerhin war die Führung auf dem letzten Parteitag gewählt worden. Im Januar 1990 eilte er nach einem Besuch bei noch KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow nach Rom, um bei Achille Occhetto, dem letzten IKP-Generalsekretär, Erfahrungen bei der dort vor sich gehenden Liquidierung der IKP durch ihre unter der Losung der »Heimkehr zur Sozialdemokratie« erfolgende Umwandlung in eine sozialdemokratische Linkspartei PDS zu studieren. Wie dann bekannt wurde, trug er sich mit dem Gedanken, das IKP-Modell aufzugreifen und der SPD den Beitritt seiner PDS anzutragen. Aber während die CDU der BRD, wie auch die Liberalen ohne Bedenken ihre ostdeutschen Schwesterparteien vereinnahmten, fehlte der SPD zu solch einem Schritt der strategische Weitblick, mehr wohl noch der Mut. Nach der Einführung der Währungsunion, des Überstülpens des kapitalistischen Systems auf die DDR, musste er zugeben, dass jetzt »Kapitalismus pur« komme, beharrte gleichzeitig darauf, dass, um aus den Fehlern der DDR zu lernen, »wir einen guten Schuss bürgerlichen Parlamentarismus gebrauchen« und eine effizientere Wirtschaft und »marktwirtschaftliche Elemente«. Er erneuerte das Angebot an die SPD, unter »sozialistischen Vorzeichen« (wie die PDS behauptete) könne »ein Zusammengehen mit der SPD natürlich ausgesprochen positive Elemente haben«.
    Zu diesen zählte er ausdrücklich ihren Hang zur »Effizienz der Wirtschaft, ihren Hang zur Demokratie«. Er lobte, dass »der Kapitalismus funktioniert« (der Nichtkapitalismus in der DDR eben nicht habe). Die Frankfurter Rundschau gab am 12. April 2002 den früheren Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, wieder, der erklärt habe, dass Modrow ihn nach dem »Sturm aufs große Haus« am 3. Dezember nach Berlin zu einer Beratung im Haus des Ministerrates mit Gregor Gysi, Markus Wolf und dem »Rest der (SED) Mannschaft« gerufen habe. Nachdem er (Berghofer) abgelehnt habe, die Führung der SED zu übernehmen, habe Gregor Gysi das dann übernommen. Modrow habe gesagt: »Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige!« Das müssten, habe Modrow erläutert, Verantwortliche sein, »zu denen es in der Gesellschaft schnell einen Konsens gibt und die Massen sagen, jawohl, das sind die Schuldigen«. Dazu habe Modrow dann »das Ministerium für Staatssicherheit« genannt. Wolf habe Einspruch erhoben, aber Modrow ihn beruhigt, »die Aufklärung des MfS halten wir selbstverständlich aus dieser Einschätzung heraus«. Danach sei Wolf »einverstanden« gewesen. 2015 rühmte sich Gregor Gysi, die reibungslose Integration der DDR-Bürger ins politische System der BRD sei seiner Partei und auch ihm persönlich zu verdanken.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (4. Juli 2024 um 10:37 Uhr)
    Linke Notbremse ohne Zug: Ach, die Linke – jene tapfere, doch scheinbar unaufhaltsam taumelnde politische Kraft, die immer wieder den Rückwärtsgang einlegt, während die Welt um sie herum im Eiltempo weiterzieht. Die jüngste EU-Wahl war für die Partei Die Linke in Deutschland nur ein weiteres Kapitel in einer mittlerweile fast tragikomischen Saga des Scheiterns. Die Verzweiflung innerhalb der Partei ist greifbar. Die Parteispitze plant eine »Neubegründung« der Linken, ein Begriff, der sich anhört wie der Versuch, mit neuer Tapete ein baufälliges Haus zu retten. Die Wahrheit ist hart, aber unvermeidlich: Die Linke steckt in einer tiefen Krise, die durch ein einfaches Wechseln der Köpfe nicht zu lösen ist. Die politische Landschaft hat sich total verändert, und die Linke hat es versäumt, sich anzupassen. Die großen Versprechungen von Frieden und sozialer Gerechtigkeit wirken mittlerweile wie hohle Phrasen in einer Welt, die von anderen Sorgen getrieben wird. Und so ziehen sie weiter, die Notbremsen der Linken, in der Hoffnung, das Unvermeidliche abzuwenden. Doch vielleicht, nur vielleicht, sollten sie sich eingestehen, dass die Zeit der Notbremsen auch vorbei ist, weil der Zug der Geschichte längst weitergefahren ist und die Linken die Abfahrtszeit verpasst haben. Sie stehen nun zurück in einem stillgelegten Bahnhof, wo keine Züge mehr fahren.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus Schönefeld (4. Juli 2024 um 07:10 Uhr)
    Nur einige Sätze zu Katina Schubert: Grundsätzlich stimme ich ihren letzten Sätzen zu. Nur sollte sie damit bei sich selbst anfangen, denn sie gehört selbst zu dieser Nomenklatura. Ihre Attacken gegen kritische Genossinnen und Genossen, zuletzt öffentlich sichtbar auf dem Augsburger Parteitag, haben wesentlich zur Spaltung beigetragen. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen …
  • Leserbrief von Joán Ujházy (3. Juli 2024 um 21:29 Uhr)
    Man weiß gar nicht, ob man weinen oder lachen soll. Da will doch tatsächlich die Partei Die Linke sich »resozialdemokratisieren«! Hallo, Gysi, Bartsch und Co.: Ihr habt doch aus der PDS, dann aus der Partei Die Linke einen rosaroten Abklatsch der schon bestehenden SPD gemacht. Genau durch diese Sozialdemokratisierung (!) durch Gysi, Bartsch und Co. wurde aus der Partei Die Linke eine Ost-Splitterpartei. Ich entsinne mich sehr gut daran, wie Gysi sich an das Werk machte, die PDS, dann die Partei Die Linke faktisch zu zerstören. Zuerst war Gysi für die Rehabilitierung von Eduard Bernstein (findet den Fehler); später distanzierte er sich vom Antiimperialismus (findet den Fehler). In vertraulichen Gesprächen (aufgedeckt durch Wikileaks) versprach Gysi dem US-Botschafter in Berlin, mit der Partei Die Linke (oder war es noch die PDS) würde Deutschland bei einer Regierungsbeteiligung nie aus der NATO austreten (zumal es sich im rechten Teil der Partei Die Linke herumgesprochen hatte, die NATO sei doch tatsächlich ein Friedensbündnis = Witz komm raus, du bist umzingelt). Findet den Fehler! Gysi, Bartsch und Co. sind abgehalfterte Politkarrieristen, die das linke Projekt in Deutschland (wissentlich?) zerstört haben. Diese Politrentner gehören auf den Misthaufen der Geschichte. (…)

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