Gysi zieht Notbremse
Von Nico Popp![4.jpg](/img/450/196854.jpg)
Nach dem Fiasko der Partei Die Linke bei der EU-Parlamentswahl am 9. Juni wächst der Druck auf die Parteispitze. Nachdem sich zuletzt die direkt gewählte Berliner Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch mit scharfer Kritik zu Wort gemeldet und eine Neuausrichtung beim Bundesparteitag im Oktober gefordert hatte, legen nun zwei weitere Abgeordnete nach, deren Stimme innerparteilich Gewicht hat: die beiden ehemaligen Fraktionschefs Gregor Gysi und Dietmar Bartsch.
»Ich sage es hier ganz offen, wir brauchen eine strukturelle, politische und personelle Erneuerung«, sagte Gysi bei einem Pressegespräch am Dienstag abend in Berlin. Komme diese Erneuerung nicht, und »wir denken, wir machen weiter so, wir bleiben bei 2,7 Prozent – das wäre natürlich eine Katastrophe«, fügte er hinzu. Bartsch sagte: »Die entscheidende Frage ist wirklich die, dass es eine Alternative gibt.« Beide legten sich nicht fest, ob sie bei der Bundestagswahl 2025 noch einmal kandidieren. Zumindest innerparteilich wollen sich beide Politiker, die bereits in führenden Funktionen der Vorgängerpartei PDS aktiv waren, nicht mehr in der ersten Reihe engagieren. Das sei Sache einer anderen Generation, sagte Bartsch. Wie Lötzsch verlangten sie, dass die Partei insbesondere das Thema Frieden wieder stärker in den Vordergrund stellt.
Mit der Intervention stoßen Gysi und Bartsch in laufende Manöver der Parteispitze. In der vergangenen Woche hatte Koparteichef Martin Schirdewan die Möglichkeit angedeutet, dass er nicht mehr für das Amt kandidieren wird. Unmittelbar nach der EU-Wahl hatte er noch einen »Neubegründungsprozess der Linken« angekündigt. Offen ist, ob Koparteichefin Janine Wissler versuchen wird, sich im Amt zu halten – die drei ostdeutschen Landtagswahlen, bei denen ebenfalls ein Desaster droht, stehen ja noch bevor. Die spannendere Frage ist schon jetzt, ob die Strömungen und Netzwerke, die hinter Schirdewan und Wissler stehen, versuchen werden, ihre Mehrheitsposition im Vorstand zu verteidigen und die Doppelspitze erneut mit eigenen Leuten zu besetzen.
Vorläufig sieht es so aus, als würde das versucht werden. »Eine Personaldebatte vor den Wahlen ist für die Unterstützung kontraproduktiv«, kommentierte Bundesgeschäftsführerin Katina Schubert am Mittwoch die Äußerungen von Gysi und Bartsch. Die Parteivorsitzenden hätten bereits mit den Landesvorsitzenden einen Prozess verabredet, »um auf dem Bundesparteitag zu einer inhaltlichen, strategischen und personellen Aufstellung mit Blick auf die Bundestagswahl zu kommen«. Und »alle, die in den letzten Jahren Verantwortung in Partei und Bundestagsfraktion tragen oder bis vor kurzem getragen haben, sollten sich selbstkritisch hinterfragen, statt öffentlich gegen andere auszuteilen«, so Schubert weiter.
Sicher ist, dass der Linkspartei nach jahrelangem Niedergang eine Kur, die lediglich zur Auswechslung der unmittelbaren Parteispitze oder auch einer weitgehenden Neubesetzung des Parteivorstandes mit einer Entmachtung des Blocks aus Regierungslinken und »Bewegungslinken« führt, nicht helfen wird. Dann bliebe nämlich immer noch der inhaltliche Notstand. Als »progressives« Anhängsel des liberalen Parteienblocks hat die Partei Die Linke abgewirtschaftet. Ob sie überhaupt noch über die für einen Schwenk hin zu einer scharfen Oppositionspolitik nötigen politischen und intellektuellen Ressourcen verfügt, ist völlig offen. Und natürlich steht die Frage, ob es für solche Kurskorrekturen nicht längst zu spät ist.
Zumindest zeichnet sich nun ab, dass es auf dem Parteitag zu einem Machtkampf zwischen dem in den vergangenen Jahren im Parteivorstand tonangebenden Flügel und der Strömung kommen wird, die bis zum Austritt der Wagenknecht-Gruppe mit dieser die Mehrheit in der Bundestagsfraktion gebildet hatte. Sie setzt auf eine Art Resozialdemokratisierung der Partei, um ihr insbesondere bei der alten Kernwählerschaft im Osten wieder ein Mindestmaß an Attraktivität zu verschaffen. Mit der Wahl von Sören Pellmann und Heidi Reichinnek konnte sich diese Richtung bereits bei der Besetzung der Doppelspitze der neuen Bundestagsgruppe durchsetzen.
Der Ausgang dieser Konfrontation ist allerdings offen. Die Delegierten wurden neu gewählt; dennoch können Gysi und Bartsch nicht sicher davon ausgehen, bei diesem Parteitag Mehrheiten für ihre Positionen zu finden. Neben dem alten Problem, dass die Basis auf Parteitagen der Linkspartei gegenüber Funktionären, Abgeordneten und Beschäftigten von Partei und Stiftung chronisch unterrepräsentiert ist, wirkt sich nun aus, dass zahlreiche Kritiker der Linie des Vorstandes in den vergangenen Jahren aus der Partei ausgetreten sind.
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verorten schon immer gut – nämlich sich streiten und zerlegen. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.
Zu diesen zählte er ausdrücklich ihren Hang zur »Effizienz der Wirtschaft, ihren Hang zur Demokratie«. Er lobte, dass »der Kapitalismus funktioniert« (der Nichtkapitalismus in der DDR eben nicht habe). Die Frankfurter Rundschau gab am 12. April 2002 den früheren Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, wieder, der erklärt habe, dass Modrow ihn nach dem »Sturm aufs große Haus« am 3. Dezember nach Berlin zu einer Beratung im Haus des Ministerrates mit Gregor Gysi, Markus Wolf und dem »Rest der (SED) Mannschaft« gerufen habe. Nachdem er (Berghofer) abgelehnt habe, die Führung der SED zu übernehmen, habe Gregor Gysi das dann übernommen. Modrow habe gesagt: »Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige!« Das müssten, habe Modrow erläutert, Verantwortliche sein, »zu denen es in der Gesellschaft schnell einen Konsens gibt und die Massen sagen, jawohl, das sind die Schuldigen«. Dazu habe Modrow dann »das Ministerium für Staatssicherheit« genannt. Wolf habe Einspruch erhoben, aber Modrow ihn beruhigt, »die Aufklärung des MfS halten wir selbstverständlich aus dieser Einschätzung heraus«. Danach sei Wolf »einverstanden« gewesen. 2015 rühmte sich Gregor Gysi, die reibungslose Integration der DDR-Bürger ins politische System der BRD sei seiner Partei und auch ihm persönlich zu verdanken.