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Aus: Ausgabe vom 05.07.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
UER-Projekte

Bluff im Stall

Ministerin Lemke verkündet Stopp vorgetäuschten Umweltschutzes, mögliche Beteiligung von Ölmultis
Von Ralf Wurzbacher
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Steffi Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) macht sauber: Klimaschutz, der gar keiner ist, soll es mit ihr nicht länger geben. Die Bundesumweltministerin teilte am Mittwoch im Bundestag mit, sogenannte UER-Projekte in China, mit deren Unterstützung deutsche Mineralölkonzerne ihre CO2-Bilanz aufgebessert haben, seien zum 1. Juli gestoppt worden. Bei den Vorgängen in Fernost, über die junge Welt Mitte Juni berichtet hatte, handele es sich um einen Fall von »schwerer Umweltkriminalität«, bemerkte Lemke im Umweltausschuss und räumte ein, die Kontrolle habe nicht an jeder Stelle funktioniert. Schuld sei aber nicht ihr eigener Laden, sondern die Vorgängerregierung. Union und SPD hätten das betrugsanfällige System eingeführt.

Ob sich Lemke so leicht aus der Affäre ziehen kann? Das ihrem Ressort unterstellte Umweltbundesamt (UBA) ließ die Dinge tatenlos laufen, obwohl es seit langem stichhaltige Hinweise für großangelegte Mauscheleien gab. Durch Förderung von Upstream-Emissionsreduktionsprojekten können Ölfirmen seit dem Jahr 2018 Zertifikate erwerben, um so ihre gesetzlich geforderte Treibhausgasminderungsquote (THG-Quote) zu erfüllen. Zumeist zielen die Unternehmungen darauf ab, den Klimagasausstoß bei der Ölförderung zu reduzieren, indem anfallende Begleitgase nicht mehr abgefackelt, sondern anderweitig genutzt werden. Wie Ende Mai jedoch das ZDF-Magazin »Frontal« enthüllte, existiert eine Vielzahl der fraglichen Standorte entweder gar nicht oder schon länger vorhandene Anlagen wurden als neu ausgewiesen.

Erste Verdachtsmomente wegen möglicher »Unregelmäßigkeiten« lagen dem UBA bereits 2023 vor, wie aus einem hausinternen Bericht hervorgeht, aus dem jüngst die Berliner Zeitung zitierte. Aber erst im Mai dieses Jahres reichte das UBA Anzeige gegen unbekannt bei der Berliner Staatsanwaltschaft ein. Die Behörde zeigt mit dem Finger auf die beteiligten Zertifizierungsfirmen, die vor Ort für die Kontrollen zuständig seien und denen man vertrauen müsse. Dabei hätte es wohl in etlichen Fällen genügt, die in den Antragsunterlagen angegebenen Geodaten mit Google Maps auf Plausibilität zu prüfen. So wäre man nach »Frontal«-Recherchen etwa an einem Standort, für den angeblich »Aufbauhilfe« von 80 Millionen Euro geleistet wurde, bei einem verlassenen Hühnerstall gelandet.

Wie Lemke am Mittwoch ausführte, stünden von insgesamt 69 chinesischen Projekten derzeit 40 wegen Betrugsverdacht besonders im Fokus. Zwei der Projekte würden »wegen Verstoßes gegen die Vorgaben« rückabgewickelt, sagte sie. Insgesamt checke das UBA derzeit alle Projekte in China sowie zehn weitere in anderen Ländern. Dabei soll es sich um Nicaragua, Usbekistan und Aserbaidschan handeln. Das »Hauptstadtbüro Bioenergie«, ein Verbändebündnis aus dem Bereich Alternativenergie, hat nach Einschaltung von Detekteien in China 62 Fälle mit dringendem Betrugsverdacht ermittelt. Unter allen genehmigten Projekten, die auf die deutsche THG-Quote angerechnet worden seien, hätte man »nur ein einziges gefunden, das unverdächtig ist«, und das befinde sich im Oman.

Aktuell sei man im Austausch mit den Verifzierern und Validierern und untersuche »die Beteiligung an möglichen Betrugsaktivitäten aller möglichen Akteure, zu denen auch die Projektträger zählen, unter ihnen auch große, multinationale Unternehmen«, äußerte sich am Donnerstag UBA-Pressesprecher Martin Ittershagen gegenüber jW. Nach besagtem »Frontal«-Bericht könnten Fossilkonzerne wie »Shell, Rosneft und OMV« direkt in die Machenschaften mit einem geschätzten Schaden von 4,5 Milliarden Euro verstrickt sein. Es ist davon auszugehen, dass die Kosten für die erworbenen Zertifikate auf die Spritpreise umgelegt wurden und am Ende die Verbraucher die Dummen sind.

»Wichtig ist aktuell, dass wir uns als UBA ein eigenes Bild in China vor Ort von den Projekten machen. Das ist logistisch leider nicht trivial, da wir in China keine Hoheitsrechte haben«, erklärte Ittershagen. Für eine abschließende Einschätzung der Schuldfrage und der Beteiligung sei es »noch zu früh«.

Wirklich Schluss ist mit der üblen Masche auch nach Lemkes Schlusspfiff nicht. Der gilt nicht für vor dem 1. Juli erfolgte Genehmigungen, also quasi alle bisher bewilligten UER-Projekte. Diese könnten noch »im Höchstfall ein Jahr lang Minderungen und Zertifikate erzeugen«, heißt es seitens ihres Ministeriums. »Definitiv« am Ende sei das System erst am 1. September 2025.

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