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Aus: Ausgabe vom 05.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Country

Der nüchterne Blick

Durchaus stilvoll: Johnny Cashs Demoaufnahmen »Songwriter« aus dem Jahr 1993
Von Alexander Kasbohm
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»Can you believe we made it through the eighties?« Johnny Cash war noch lange nicht fertig (1980)

Die 1980er waren nicht das Jahrzehnt des Johnny Cash. Sie waren generell nicht die goldene Ära der Countrymusik, deren ganze Ästhetik im Widerspruch zu der technologiegetriebenen und zukunftsbesessenen (sowohl im utopischen als auch im dystopischen Sinne) Ästhetik dieser Zeit stand. Wurde sich überhaupt auf Country bezogen, dann meist ironisch. Und Johnny Cash, der vor allem in Deutschland gründlich missverstanden als Inkarnation des Genres galt, hatte seinen Waterloo-Moment 1983 ausgerechnet bei »Wetten, dass …?«. Cash schwitzte, nuschelte kaum verständlich in Deutsch und Englisch, vergaß Zeilen. Er war gerade 51 Jahre alt, sah locker zehn Jahre älter aus und wirkte für alle Welt, als sei er stockbesoffen. Das perfekte Bild für den Has-Been, für den in der Gegenwart kein Platz mehr ist. Und wieder stand er damit sowohl für sich selbst als auch für die Musik.

Dass die Realität deutlich komplizierter war, interessierte da nicht so sehr. Cash war relativ kurzfristig für den Auftritt eingeflogen worden, seine Frau June Carter (die von Moderator Frank Elstner noch mit angekündigt war), war kurz vor dem Abflug ins Krankenhaus eingeliefert worden, Cash selbst war randvoll mit Schmerztabletten. Der Auftritt war ein Desaster, wie es vermutlich jedem Musiker mal passiert, nur meistens wird es nicht einem Millionenpublikum übertragen, sei es auch nur ein deutsches Millionenpublikum. Ende des Jahrzehnts stand die Legende Cash ohne Plattenvertrag da. 1993, zehn Jahre vor seinem Tod und kurz bevor er den Produzenten Rick Rubin traf, der ihm mit der »American Recordings«-Reihe den Erfolg und den verdienten Respekt zurückbringen sollte, nahm Cash einige Demos auf, mit denen er bei Labels hausieren gehen wollte. Das war dann, Rubin-sei-Dank, nicht mehr nötig.

Die Songs auf »Songwriter« stammen aus diesen Demo-Sessions. Sohn John Carter Cash und Produzent David R. Ferguson befreiten sie von allem, was nach frühen 1990ern klang (allem außer Cashs Stimme und Gitarre) und stellten eine Band um verdiente Helden wie Vince Gill und Dan Auerbach zusammen. Die macht ihre Sache sehr ordentlich, »Songwriter« ist ein deutlich klassischeres Countryalbum als die Alben mit Rubin.

Es liegt nahe, »Songwriter« mit den »American Recordings« zu vergleichen. Zwei Songs finden sich auf beiden: »Drive On« und »Like a Soldier«. Dass die anderen bislang nicht veröffentlicht wurden, lag keinesfalls an mangelnder Qualität, sondern eher daran, dass sie nicht in Rubins Konzept passten. Der setzte, durchaus clever, auf ein junges Indiepublikum. Dem verkaufte er die Musik mit dem Image des zumindest angebrochenen alten Mannes und mit Coverversionen relativ zeitgenössischer Indierocksongs. Was dabei etwas auf der Strecke blieb, war der trockene Humor und die unsentimentale Zärtlichkeit, die auch immer zu Cashs Wesen gehörten. Als Beispiel für ersteren haben wir hier »Well Alright«, eine munter klöppelnde Man-Meets-Woman-at-the-Laundromat-Geschichte, genau die Art von Country, die Rubin bewusst ausblendete, weil mit ihr damals kein Hipness-Blumenpott zu gewinnen war. Als Beispiel für letztere »I Love You Tonite«, eine Liebeserklärung an June, mit der berührenden Zeile: »Can you believe we made it through the eighties? And will we make the millennium? Well we might …« Cash wusste: Wirklich berühren kann nur der nüchterne Blick.

Sich über die Motive (Geld! Dollar! Penunzen! Taler!) der Veröffentlichung Gedanken zu machen, ist müßig. Über die generelle Frage über die Redlichkeit, Aufnahmen nach dem Ableben eines Künstlers in einen anderen musikalischen Kontext zu stellen, kann man streiten. Wenn es auf eine Weise geschieht wie hier, die die Aufnahmen nie frankensteinisiert, sondern nur professionellen Standards angleicht, und das auf eine Weise, die dem Stil des Künstlers voll entspricht, kann man die Bedenken mal außer Acht lassen. Den Segen von Johnny Cash hätte »Songwriter« wohl bekommen und unseren bekommt es auch.

Johnny Cash: »Songwriter« (Universal)

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