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Aus: Ausgabe vom 05.07.2024, Seite 15 / Feminismus
Fall Frieda e.V.

Erwerbslos statt staatstreu

Beschäftigte von Berliner Mädchenzentren weigern sich, unter Jugendamtauflagen zu arbeiten
Von Yaro Allisat
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Solidarität mit Frieda e. V.: Hunderte demonstrierten für den Erhalt der Jugendzentren (Berlin, 29.4.2024)

Nach jahrelanger rassistischer Bedrohung durch einen Nachbarn sowie fristloser Kündigung und harten Auflagen durch das Jugendamt haben sich die Beschäftigten der Mädchenzentren »Phantalisa« und »Alia« in Friedrichshain-Kreuzberg entschieden, nicht weiter unter »diesen erniedrigenden Bedingungen« zu arbeiten. »Wir weigern uns, einen Präzedenzfall zu schaffen, der es erleichtert, andere Träger, Vereine und Privatpersonen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit genauso zu ahnden wie uns«, heißt es von den nun ehemaligen Beschäftigten. Der Bezirk erklärte sich verwundert über den Rücktritt des Vereins von den Leistungsverträgen für die intersektionalen feministischen und mehrheitlich von migrantischen Mitarbeitenden und Besuchern geprägten Zentren.

Im April dieses Jahres hatte Polizist und Jugendbezirksrat Max Kindler (CDU) dem Träger Frieda e.V. im Alleingang fristlos gekündigt mit der Forderung, der Verein solle sich vom propalästinensischen Aktivismus der Beschäftigten distanzieren. Daraufhin entließ der Verein die Projektkoordinatorin Shokoofeh Montazeri. Nach Demonstrationen mit mehreren hundert Teilnehmenden und zähem Ringen im Jugendhilfeausschuss wurde der Beschluss gefasst, neue Leistungsverträge für die Zentren auszuhandeln.

Laut dem öffentlichen Statement der Sozialarbeiterinnen enthielten die Verträge unter anderem die Auflagen zur Anerkennung des Existenzrechts Israels, zur Arbeit mit einem »Neutralitätsgebot«, der Einwilligung zu willkürlichen Kontrollbesuchen durch das Jugendamt, und zur expliziten Nennung von Bekämpfung von Antisemitismus im pädagogischen Konzept. Für die mehrheitlich migrantischen ehemaligen Beschäftigten sind diese Forderungen nicht nur in sich widersprüchlich, sondern auch ein Angriff auf die Soziale Arbeit: Staatliche Interessen würden über die Grundsätze der Sozialen Arbeit gestellt, die an sich immer politisch sei. Die Forderungen seien auch mit Blick auf die NS-Zeit, in der Sozialarbeitende aktiv an Deportationen mitwirkten, problematisch. Unter diesen Auflagen wolle man die Arbeit nicht wieder aufnehmen.

Die Probleme sind nicht neu: Bereits seit 2019 griff ein Nachbar des Jugendzentrums »Phantalisa« Sozialarbeiterinnen und Besucher an: mit Morddrohungen, Hitlergruß, sowie körperlich. Die Mitarbeiter berichten von vier Anzeigen gegen den Mann, sie seien jedoch nicht ernst genommen worden. Nach einem weiteren Angriff im September vergangenen Jahres erfuhren sie schließlich durch Zufall, dass bei einer Hausdurchsuchung des Mannes Waffen gefunden worden waren. Im Gespräch mit Jugendamt und Jugendförderung befürchtete die damalige Geschäftsführerin Montazeri einen Interessenkonflikt von Kindler als vom Dienst zurückgezogenem Polizisten, wenn es darum gehe, die Polizeiarbeit zu kritisieren. Daraufhin habe das Jugendamt das Vertrauen zu der Einrichtung in Frage gestellt – Montazeri sprach kurz nach ihrer Kündigung gegenüber jW von einer andauernden »Täter-Opfer-Umkehr«.

Kindler habe schließlich im November 2023 ausschließlich mündlich eine Kündigung ausgesprochen. Seit 2024 erhielt der Verein Drei-Monats-Leistungsverträge, anstatt Verträge über ein ganzes Jahr. Im April hatte Kindler eine fristlose Kündigung mit Montazeris Teilnahme am Palästina-Kongress und an palästinasolidarischen Demonstrationen sowie Informationen aus den privaten Instagram-Accounts der Beschäftigten begründet. Nach Hanau sei die antirassistische Jugendarbeit gefeiert worden, nun tue das Jugendamt so, als hätte es nicht gewusst, wie in den Einrichtungen gearbeitet werde.

Woher die Behörde die privaten Informationen hat, wurde auf jW-Anfrage nicht mitgeteilt. Zudem heißt es bezüglich des Rücktritts, man sei nicht darüber informiert worden, dass die Beschäftigten Probleme mit den gestellten Auflagen hätten. Man plane nun ein Auswahlverfahren für die Einrichtungen mit dem Ziel der Wiedereröffnung.

Die ehemaligen Beschäftigten sind nun erwerbslos. Noch immer haben die Sozialarbeiterinnen das Gehalt für Mai nicht bekommen. Auf die Frage wie es weitergehe, hieß es: »Ein paar von uns hatten Termine bei der Arbeitsagentur, in denen offen gesagt wurde, dass die Chance sehr gering ist, wieder einen Job im sozialen Bereich zu finden mit dem Ruf, den die Medien nicht nur uns gegeben haben, sondern auch dem Träger unter dem wir gearbeitet haben.« Entmutigen lassen will man sich jedoch nicht: »Keine Repression, kein willkürlicher Machtapparat und keine Einschüchterungspolitik können uns unsere Menschlichkeit nehmen und uns daran hindern, uns weiterhin aktiv gegen den anhaltenden Genozid auszusprechen und für den Widerstand und die Befreiung des palästinensischen Volkes und jedes anderen unterdrückten Volkes einzustehen.«

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  • Leserbrief von Peter Groß aus Bodenseekreis (5. Juli 2024 um 14:03 Uhr)
    Es wird scharf geschossen im Großraum Stuttgart, auch eine Handgranate flog im Rahmen einer Bandenauseinandersetzung in eine Trauergemeinschaft. Inzwischen betreiben Mafia und etliche andere Organisationen der Organisierten Kriminalität eine eigene Form von Jugendarbeit (von 12 bis 27 Jahren) die von Drogenhandel, Schusswaffengebrauch und Mitgliedschaft in kriminellen Vereinigungen geprägt ist, die inzwischen die gesamte Öffentlichkeit betreffen. Tägliche Gemetzel sind aus anderen Metropolen bekannt. Amsterdam, Berlin, London, Marseille, Paris. Ursache verfehlte Jugendpolitik. Am Ende steht die Entrechtung von Mädchen und Frauen. Die CDU mag eine Höllenfreude daran haben, immer neue Haftstrafen, besonders für Bagatelldelikte einzuführen oder auch nur lauthals zu verkünden. Allein es hilft nicht, sind doch Gerichte mit der Strafverfolgung längst überfordert und wenn es doch zu Verurteilungen kommt, mangelt es an der Nachsorge in Form von Bildungsangeboten oder richterlich angeordneten »Sozialstunden« für »gestrauchelte« Jugendliche. Gut funktionierende Angebote aufbauen geht nicht in Form einer Kurzintervention, über Pop-up-Stores, Streetworker oder 3-Monatsbeschäftigung. Schon gar nicht, wenn »Big Brother« permanent kontrolliert. Es braucht jahrelange Vertrauensarbeit. Beispiele: Fuchsbau, Wasserturm und verschiedene Einrichtungen deren »Historie« man sich ansehen sollte. Dazu gehört auch das hohe Leistungsniveau ehemals selbstverwalteter Jugendeinrichtungen, die letztlich an Hasskampagnen wechselnder Immobilienbesitzer, Presse oder Regierungskoalitionen gescheitert sind. Welche Rolle manche Jugendämter spielten, ist bekannt, geht seit Jahrzehnten bis zur Vermittlung an Pädophile. Ich fürchte, bei Bezirksverwaltung und Senat will man sich weniger für erfolgreiche Jugendarbeit loben lassen als für den zunehmenden polizeilichen Schusswaffeneinsatz. Rüstung tötet auch ohne Krieg und für eine Granate sind drei Kitas oder Jugendeinrichtungen voll finanzierbar.

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