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Aus: Ausgabe vom 06.07.2024, Seite 12 / Thema
Antikolonialismus

Zeitenwende in Afrika

Durch Zerfall der neokolonialen Einflusssphäre Frankreichs ergeben sich neue Chancen für afrikanische Länder – auch in Zusammenarbeit mit Russland
Von Harald Projanski
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Auf den Spuren Thomas Sankaras: Burkina Fasos neuer Staatschef Ibrahim Traoré wird in der Hauptstadt Ouagadougou von Anhängern mit russischen Flaggen begrüßt (2.10.2022)

Angehörigen der Bundeswehr, die den Offizier Assimi Goïta auszubilden hatten, musste der junge Kamerad aus dem westafrikanischen Mali gefallen. Goïta war freundlich und lernte schnell. Einen ähnlich positiven Eindruck gewannen auch französische und US-amerikanische Offiziere, in deren Armeen er zur Fortbildung war. Doch was er über westliche Politik und Militärstrategie wirklich lernte, das stand in keinem NATO-Lehrbuch. Wie viele andere junge Afrikaner seiner Generation machte er sich über die Interessen und Mentalität der in der NATO vereinten Kolonial- und Neokolonialmächte keine Illusionen. Die Arroganz insbesondere französischer Offiziere im Umgang mit afrikanischen Soldaten kannte er aus eigener Erfahrung und den Berichten seiner Kameraden.

Auch wusste er sehr gut, dass die Mechanismen des organisierten Betruges und der Erpressung bei vermeintlich demokratischen Wahlen jeden Versuch blockierten, sein Land auf einen unabhängigen Weg zu führen. Daher entschloss er sich im August 2020 mit anderen Offizieren zum Militärputsch. Die folgende Drohung aus Paris, man werde seine Auslandskonten einfrieren, stimmte ihn heiter: Er hatte gar keine.

An der Macht, engagiert sich Malis 41jähriger Oberkommandierender und Staatschef für ein Bündnis afrikanischer Nationen mit Russland. Im Juli 2023 traf sich Goïta mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sankt Petersburg anlässlich eines Russland-Afrika-Gipfels. Seither telefonieren die beiden häufig. Der Schwenk Malis, das noch vor wenigen Jahren unter dem Stiefel Frankreichs stand, in Richtung Moskau zeigt nicht nur den Bankrott der Pariser Afrikapolitik. Er dokumentiert auch, dass der Versuch, junge afrikanische Eliten ins Fahrwasser der NATO-Länder zu bewegen, auf breiter Front gescheitert ist.

Daraus, dass er in Russland einen verlässlichen Partner sieht, wirtschaftlich und militärisch, macht Goïta keinen Hehl. Bei der Begegnung mit Putin im Juli vorigen Jahres nannte er den russischen Präsidenten einen »großen Freund Malis« und lobte die »militärische Partnerschaft« der beiden Staaten. Das Volk von Mali, so der Staatschef, schätze die Hilfe Russlands gegen den »beispiellosen Druck von seiten einiger Länder«, die auf »neokoloniale Praxis« setzten. Damit waren Frankreich und andere NATO-Länder wie die BRD gemeint. Goïtas Politik beinhaltet weit mehr als nur »antikoloniale Rhetorik«, die ihm westliche Beobachter oft vorwerfen.

Putin wiederum nannte Mali bei der Begegnung mit Goïta »einen der Schlüsselpartner in der Region«. Der russische Präsident kündigte Kooperation an in der Landwirtschaft, im Bergbau und der Energiebranche. Der russische Staatskonzern Rosatom hat begonnen, Lithium in der Region von Sikasso im Süden von Mali zu fördern. Zudem versprach Putin, Russland werde die Zahl der Stipendien für Studenten aus Mali erheblich erhöhen, auf 290 Studienplätze. An der Seite Malis steht auch die Militärregierung des Hauptmanns Ibrahim Traoré in Burkina Faso, die seit September 2022 an der Macht ist.

Zur Kooperation zwischen Russland und Mali gehört auch die Ausbildung von Offizieren für den Kampf gegen bewaffnete Banden von Separatisten und Islamisten. Mali, Burkina Faso und Niger haben im August vergangenen Jahres eine »Allianz der Staaten des Sahel« (Alliance des États du Sahel, AES) geschaffen, die in eine Konföderation übergehen soll. Der Staatenbund agiert mehr und mehr als geostrategischer Partner Moskaus in der Region. Die drei Länder traten im Januar aus der westafrikanischen Staatengemeinschaft ECOWAS (Economic Community Of West African States) aus. Der neue Machtblock AES, der knapp 70 Millionen Menschen umfasst, setzt Impulse für Nachbarländer, macht ihnen Mut für Schritte zur realen Unabhängigkeit vom französischen Hegemon. In Westafrika vollzieht sich eine Zeitenwende, mit der westliche Politiker von Emmanuel Macron bis Olaf Scholz nicht gerechnet und auf die sie keine Antwort haben.

Für die Innenpolitik in Mali bedeutet dies, dass die neue Regierung konsequent Versuche westlicher Mächte unterbindet, mit Hilfe von ihnen gelenkter sogenannter Nichtregierungsorganisationen und politischer Parteien eine »Rückkehr zur Verfassung« und damit zu neokolonialen Machtverhältnissen zu erreichen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung konstatierte auf Basis einer Meinungsumfrage in Mali im vorigen Jahr, dass die neue Staatsmacht für ihren Kurs die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung habe.

Der entscheidende Moment für die strategische Schwächung der Stellung Frankreichs im Westen Afrikas war der Putsch in Niger im Juli 2023. Das Regime des vom scheindemokratisch gewählten und Paris verpflichteten Präsidenten Mohamed Bazoum galt in Berlin und Paris als »Stabilitätsanker«. Dass dieser Anker durchgerostet war, war den westlichen Kuratoren Nigers nicht bewusst. Geschockt vom Umsturz in Niger, setzte Paris auf eine Erpressungstaktik. Durch Telefondiplomatie mit gleitenden Übergängen zu Telefonterror versuchte das Außenministerium, Staaten der westafrikanischen ECOWAS-Gruppe im Spätsommer 2023 zu einer Militärintervention gegen die neue Führung in Niger zu motivieren. Zwar fanden sich zwischen Côte d’Ivoire und Nigeria ein paar wortgewaltige Generäle, die eine Weile so taten, als seien ihre Truppen bereits marschbereit. Doch das erwies sich als Bluff. In keinem Land Westafrikas gab es eine Unterstützung für ein militärisches Abenteuer in Niger. Nicht einmal Vertreter der Kompradoreneliten, mit Konten bei Pariser Banken und Immobilien auf französischem Boden, waren für ein Blutvergießen im Interesse Pariser Minister und Bankiers zu haben. Frankreich war blamiert, mit dem Rücktritt des Kabinetts Borne verschwand auch Außenministerin Catherine Colonna, die für die Drohpolitik und den gesamten Niedergang der französischen Diplomatie verantwortlich war. Doch zu einer Aufarbeitung von Fehlern und der Entwicklung einer neuen Afrikapolitik ist der selbstverliebte französische Präsident Macron nicht fähig. Auch die gesamte Elite Frankreichs ist in ihrer tiefen Orientierungskrise dazu nicht in der Lage. Der französische Imperialismus erlebt derzeit seine größte Krise seit dem Ende der Kolonialzeit.

Linker Panafrikanismus

Das sorgt in westafrikanischen Städten zwischen Dakar (Senegal) und Lomé (Togo) für Erleichterung und verschafft afrikanischer Politik mehr Spielraum. Die neue politische Führung Senegals unter dem im März überraschend gewählten 44 Jahre alten Präsidenten Bassirou Diomaye Faye bemüht sich um gute Beziehungen zu den drei Nachbarländern. Mit ihnen teilt Faye die Grundhaltung eines linken Panafrikanismus und den Wunsch nach einer Abschaffung der CFA-Währung, die sich als Instrument der neokolonialen Politik Frankreichs erwiesen hat. Die Zeitschrift​Jeune Afrique, Stimmungsbarometer der französischen Afrikapolitik, warnt in ihrer Maiausgabe hinsichtlich Senegals vor »Extremisten« und »Populisten« und zieht die Zwischenbilanz: »Die Senegalesen wollen den Bruch.«

Togos Außenminister Robert Dussey, der wie Goïta auch am Russland-Afrika-Gipfel in Sankt Petersburg im Juli 2023 teilnahm, nutzte die Schwäche Frankreichs, um sein Land als Vermittler zwischen Niger und den ECOWAS-Staaten zu profilieren. Vertreter Nigers ebenso wie Malis und Burkina Fasos konnten im Oktober 2023 auf einer Konferenz zu Sicherheitsfragen in der Hauptstadt Togos ihre Sicht der Dinge darlegen. In einem Interview mit Jeune Afrique riet Dussey der französischen Führung, ihr diplomatisches Potential in Verhandlungen mit Niger einzubringen – sich dessen bewusst, dass Paris dazu weder bereit noch in der Lage ist.

Vorbild Sankara

Dass Togo, traditionell eng mit Frankreich liiert, vorsichtig auf Distanz zur Vormacht geht, hat auch innenpolitische Gründe. Die beiden Staatschefs von Mali und Burkina Faso sind in der jungen Bevölkerung Togos (Durchschnittsalter: 19 Jahre) populär, bei den rund 80.000 Studenten der von einem grünen Park umgebenen Universität in Lomé bis hin zu Bauarbeitern und Mitgliedern der Regierungspartei Unir. Von Burkina Fasos Staatschef Ibrahim Traoré sagen afrikanische Gesprächspartner, er sei entschlossen, die Überreste des Kolonialismus in Staat und Verfassung zu beseitigen. Traoré präsentiert sich mit seinem roten Barett als Reinkarnation des Revolutionärs Thomas Sankara, der im gesamten Westen Afrikas als eine legendäre Figur gilt. Sankara, geboren 1949, war im August 1983 durch einen militärischen Staatsstreich an die Macht gekommen. Auf der Nationalen Militärschule hatten ihn junge Offiziere mit den Ideen von Marx und Lenin bekanntgemacht.

Sankaras Führung schlug einen sozialistischen Entwicklungsweg an, mit Unterstützung Kubas und der Sowjetunion. Sankara gab dem Volk des bisherigen Obervolta ein neues Selbstbewusstsein, das sich auch in dem neuen Landesnamen Burkina Faso (»Land der aufrichtigen Menschen«) ausdrückte. Außenpolitisch setzte er auf ein Bündnis mit der linksreformistischen Führung der Nachbarrepublik Ghana, das damals von einem Revolutionären Militärrat unter Führung des Luftwaffenleutnants Jerry Rawlings regiert wurde. Sankaras Erfolge waren und sind legendär weit über die Grenzen Burkina Fasos hinaus. Er ließ zehn Millionen Bäume pflanzen, um die Ausbreitung der Wüste zu stoppen. Seine Regierung erhöhte die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung innerhalb von vier Jahren auf 87 Prozent. Innerhalb weniger Wochen ließ Sankara 2,5 Millionen Kinder gegen Meningitis, Gelbfieber und Masern impfen.

Das sozialistische Regime Sankaras förderte Frauen in vielen Funktionen. Seine Leibwache bestand durchweg aus Frauen auf Motorrädern. Sankara wurde 1987 bei einem Staatsstreich seines Stellvertreters Blaise Compaoré ermordet. Als Drahtzieher des Putsches gilt der französische Geheimdienst DGSE. Sankara ist heute in der westafrikanischen Alltagskultur auch in Nachbarländern wie Togo und Benin ein Mythos. In den sozialen Netzwerken äußern junge Afrikanerinnen, sie wünschten sich einen Partner »mit dem Charisma von Thomas Sankara«. Der heutige Staatschef von Burkina Faso, Traoré, wurde 1988 geboren, ein Jahr nach der Ermordung Sankaras.

Neue Allianzen

Die Zeiten, in denen Frankreichs Strategen mit käuflichem Personal, mit Mord und Totschlag Regierungen nach Belieben stützen konnten, sind vorbei. Bittere Erinnerungen verbindet Afrika mit dem langjährigen französischen Präsidentenberater Jacques Foccart, der als »Monsieur Afrique« afrikanische Regierungen mal herumkommandierte und mal stürzen ließ. Heute aber werden die Betrugsmanöver der herrschenden Klasse Frankreichs mit dem Versprechen einer »neuen« Afrikapolitik von vielen Millionen Menschen aller Klassen und Schichten durchschaut. Hinzu kommt, dass die antiimperialistischen Bewegungen in Afrika in den 1980er Jahren mit einer sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow zu tun hatten, die sich auf dem Weg einer weltanschaulichen und politischen Totalkapitulation gegenüber dem Imperialismus befand. China war damals noch ökonomisch schwach und mit der Sowjetunion verfeindet.

Heute aber könnten die afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen sich auf ein Russland stützen, das die in der NATO vereinten neokolonialen Mächte als seine Gegner betrachtet und das den Schulterschluss mit einem politisch und wirtschaftlich unter der Führung der Kommunistischen Partei erstarkten China gefunden hat. Sechsmal hat der russische Außenminister Sergej Lawrow in den vergangenen zwei Jahren Afrika besucht. Dabei ging es unter anderem um den geplanten Bau eines Atomkraftwerkes in Burkina Faso durch den russischen Staatskonzern Rosatom und die Errichtung eines Wasserkraftwerkes in der Republik Kongo. Lawrow bescheinigt den westlichen Ländern, sie seien nach wie vor »am Bazillus des Neokolonialismus erkrankt«. Das trifft die Stimmung in Afrika. Burkina Fasos Staatschef Traoré verlieh Lawrow die höchste Auszeichnung des Landes, den Ordre de l’Etalon (Hengstorden).

Die Erosion der Vormachtstellung des französischen Imperialismus in Westafrika setzt sich derweil fort. In zwei traditionell eng an Frankreich gebundenen Ländern, in Côte d’Ivoire und in Kamerun, hat der Herbst der Regime zweier Greise begonnen, die in Paris jahrzehntelang als pflegeleichte Vasallen galten. Aktivisten der panafrikanischen Jugendbewegung in Côte d’Ivoire bezweifeln, ob der 82jährige Präsident Alassane Ouattara sich noch bis zum Ablauf seiner Amtszeit im kommenden Jahr an der Macht halten kann. Zugleich ist der dienstälteste Statthalter Frankreichs in Afrika, Kameruns Präsident Paul Biya (91), in den Augen seiner jungen Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von 18 Jahren zu einer lächerlichen Figur geschrumpft. Noch hält er sich vor allem durch eine von staatlichen Manipulateuren geförderte Zersplitterung der Opposition. Für Oktober 2025 sind in Kamerun Präsidentenwahlen geplant.

Auch Ghana schert aus

Auch in Ghana, das inzwischen mehr als 33 Millionen Einwohner zählt, mehren sich die Zeichen für eine politische Wende. Der gegenwärtige Präsident Nana Akufo-Addo, neben Kenias Staatschef William Ruto einer der Lieblingsafrikaner des Weißen Hauses, hat einen Großteil seiner Wählerbasis eingebüßt. In dieser westafrikanischen Republik wächst gleichfalls der Wunsch nach einem Personal- und Richtungswechsel. Besonders deutlich ist der Stimmungswandel spürbar in der Universitätsstadt Cape Coast, 142 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt Accra. Dort sind auch hochqualifizierte Absolventen etwa von Managementstudiengängen ohne Aussicht auf einen Job. Hoffnungsträger der panafrikanistischen jungen Generation ist John Mahama, Präsidentschaftskandidat des linksorientierten National Democratic Congress (NDC) bei den Wahlen im Dezember.

Die Erwartungen seiner Wähler an ihn fomuliert stellvertretend für viele ihrer Altersgenossinnen und -genossen die 28jährige Managementabsolventin Albertina aus Cape Coast: »Wir brauchen intensivere Beziehungen mit Russland und China, um mehr Investitionen und ökonomische Chancen für Ghana zu erreichen.« Für einen solchen Kurswechsel weckt Mahama Hoffnungen. Er wuchs auf als Sohn eines Parlamentsabgeordneten in der Ära Kwame Nkrumah (siehe Infokasten) und studierte Ende der 1980er Jahre Sozialwissenschaften in Moskau. Mahama war bereits Präsident in den Jahren 2012 bis 2016. Die Regierung Kubas hat ihn mit der Freundschaftsmedaille ausgezeichnet. Sie würdigte damit seinen Einsatz für die Aufhebung des Embargos gegen den sozialistischen Inselstaat und sein Engagement für die Freilassung der »Cuban Five«, der fünf kubanischen Kundschafter, die in den USA in Haft saßen.

Mahamas Partei NDC wurde 1981 vom regierenden Militärrat unter Jerry Rawlings ins Leben gerufen. Die Partei hat seither eine stabile Massenbasis mit einer Anhängerschaft in der arbeitenden Bevölkerung, die teilweise deutlich links von der Führung steht. Die Partei ist Mitglied der Sozialistischen Internationale und der Progressive Alliance. Doch von den politischen Führern dieser sozialdemokratischen Formationen aus dem globalen Norden lässt sich die Partei ihre Agenda nicht vorschreiben, weder was die Beziehungen zu Kuba noch zu Russland und China angeht. Für einen politischen Aufbruch, den sich Millionen Ghanaer angesichts einer schweren Wirtschaftskrise wünschen, könnte eine neue Führung des Landes auf den Rückhalt der drei Nachbarstaaten Mali, Burkina Faso und Niger zählen.

Auch in Ghana endet die Zeit, in der westliche Politiker mit Druck und Drohungen afri­kanische Länder auf Linie bringen oder zu politischer Passivität verurteilen konnten. Eine Sympathisantin des NDC in Cape Coast bringt den Wandel auf den Punkt: »Wir wissen, dass die Europäer Heuchler sind.«

Stichwort »Panafrikanismus«

Der Panafrikanismus propagiert den Zusammenschluss aller afrikanischen Menschen unabhängig von Ethnie, Nation oder Religion. Dabei handelt es sich um eine klassenübergreifende Bewegung mit antikolonialer und in Teilen antiimperialistischer Ausrichtung. Der erste Kongress von Panafrikanisten fand 1883 in Chicago statt. Treibende Kräfte waren Aktivisten der beginnenden afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Der überwiegend kleinbürgerliche Charakter dieser Bewegung zeigte sich auch darin, dass die Panafrikanisten im Ersten Weltkrieg auf Positionen der Vaterlandsverteidigung standen. Sie ließen damit zu, dass die US-amerikanischen und britischen Imperialisten Menschen afrikanischer Herkunft als Kanonenfutter missbrauchten.

Doch die bittere Erfahrung führte zugleich zu einem politischen Lernprozess in der panafrikanischen Bewegung. Die russische Oktoberrevolution, die Schaffung der Kommunistischen Internationale und die Bildung der Sowjetunion 1922 gaben der gesamten antikolonialen Bewegung und auch den Panafrikanisten starken Auftrieb. Exemplarisch spiegelt sich die politische Entwicklung des afroamerikanischen Panafrikanismus im Leben eines seiner Theoretiker, William »W. E. B.« Du Bois, wider. Du Bois, 1868 geboren in Massachusetts, studierte unter anderem in Deutschland bei Max Weber und Heinrich von Treitschke. Zunächst konzentrierte er sich darauf, die volle staatsbürgerliche Gleichheit der Menschen afrikanischer Herkunft zu fordern. Doch mehr und mehr erkannte er den Zusammenhang von Rassendiskriminierung und Klassenherrschaft. 1949 nahm er in Paris am »Ersten Kongress der Friedenskämpfer« teil, der von der Sowjetunion unterstützt wurde. Wegen seiner politischen und publizistischen Tätigkeit wurde er Träger des Lenin-Friedenspreises der Sowjetunion. 1961 trat er der Kommunistischen Partei der USA bei.

Du Bois starb 1963 im westafrikanischen Ghana. Dessen damaliger Staatschef Kwame Nkrumah hatte ihn eingeladen. Nkrumah war bei einem mehrjährigen Aufenthalt in den USA von Du Bois’ Schriften beeinflusst worden. Nkrumah gab dem Panafrikanismus neue Impulse. Er forderte 1963 eine gesamtafrikanische Regierung. In seiner von Lenins Imperialismusanalyse angeregten Schrift »Neokolonialismus. Das letzte Stadium des Imperialismus« entwickelte der Nichtkommunist Nkrumah ein klares Verständnis der Mechanismen, mit denen die imperialistischen Länder Afrikas Rohstoffe ausbeuteten. Die Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit (jetzt: Afrikanische Union) war auch ein Ergebnis der Bemühungen Nkrumahs. Dessen panafrikanische Politik stieß auf den Widerstand der imperialistischen Länder und der mit ihnen kollaborierenden Eliten in den formal unabhängigen, aber vom Neokolonialismus dominierten Staaten Afrikas. Nkrumah wurde 1966 während eines Aufenthaltes in Vietnam durch einen vom US-amerikanischen Geheimdienst CIA lancierten Putsch gestürzt.

Eine unter dem Einfluss sozialdemokratischer Strategen aus Europa weichgespülte Version von Panafrikanismus war die »Negritude« des senegalesischen Schriftstellers und langjährigen Präsidenten Leopold Senghor. Der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, zeitweilig Mitglied der französischen Nationalversammlung, vermied jeden ernsthaften Konflikt mit der neokolonialen Politik Frankreichs.

Doch der Panafrikanismus entwickelte sich auf kultureller Ebene weiter. Ein Ergebnis ist das seit 1969 regelmäßig stattfindende afrikanische Filmfestival Fespaco in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, das die afrikanische Alternative zu den Filmfestspielen in Cannes darstellt.

Neuen Schwung bekommt der Panafrikanismus durch die antiimperialistisch ausgerichteten militärischen Staatsführungen in Burkina Faso, Mali und Niger, die im September 2023 eine Charta für »kollektive Verteidigung« verabschiedet haben. Unterstützt werden die Führungen dieser drei Länder auch durch die größte afrikanische Jugendorganisation, die Panafrikanische Jugendunion. Deren Generalsekretär Ahmed Bening aus Ghana steht für einen klaren Kurs gegen Neokolonialismus.

Harald Projanski

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