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Aus: Ausgabe vom 08.07.2024, Seite 8 / Inland
Einschüchterungsversuche

»Er hat mit der Fußball-EM nichts zu tun«

Berlin: Palästinensischer Aktivist erhält sogenanntes Gefährderanschreiben. Sicherheit als Vorwand. Gespräch mit Roland Meister
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Werden wohl keine Freunde mehr: Berliner Bullen und propalästinensische Demonstranten bei einem Protest (18.5.2024)

Vor kurzem erhielt Ihr Mandant ein sogenanntes Gefährderanschreiben des Berliner Landeskriminalamts. Welchem Zweck dienen derartige Briefe?

Die sogenannte mündlich oder schriftlich erfolgende Gefährderansprache wurde vor einigen Jahren noch als neues Werkzeug repressiver polizeilicher Maßnahmen gefeiert und ist inzwischen fest etabliert. Der Sicherheitsapparat wendet sich dazu an sogenannte potentielle Gefahrenverursacher, Personen, die in entsprechenden Zusammenhängen – hier: Palästina-Solidarität – der Polizei bereits aufgefallen sind. Durch eine gezielte Ansprache wird den Betroffenen vor Augen geführt, dass sie unter polizeilicher Beobachtung stehen, und es werden ihnen weitergehende repressive Maßnahmen angedroht.

In Berlin ist die Regelung in Paragraph 18 b des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes enthalten. Da heißt es: »Die Ordnungsbehörden und die Polizei können eine Person zur Abwehr einer von ihr ausgehenden Gefahr über die Rechtslage informieren und ihr mitteilen, welche Maßnahmen sie ihr gegenüber zur Abwehr der Gefahr bei ungehindertem Geschehensablauf oder im Rahmen strafprozessualer Maßnahmen bei Verwirklichung einer Straftat voraussichtlich ergreifen würden.« Die Regelungen sind Bestandteil der drastischen Ausweitung polizeilicher Befugnisse, und es ist nicht viel Vorstellungskraft erforderlich, dass sich dies vor allem gegen oppositionelle, antifaschistische und progressive Bewegungen und Kräfte richtet. Die Polizei greift dazu auf das vom Bundeskriminalamt eingeführte Inpol-System zurück, eine Datenbank mit personenbezogenen Informationen.

Dies widerspricht grundsätzlich Freiheitsrechten, wie sie in der deutschen Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention enthalten sind, wonach nur im Falle einer belegten konkreten Gefahr die Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden darf.

Hier war der Zusammenhang mit der Fußball-EM hergestellt. Warum hält das LKA Ihren Mandanten für gefährlich?

Mein Mandant hat die deutsche Staatsangehörigkeit und stammt aus Palästina. Er ist ein bekannter Repräsentant der demokratischen und säkularen palästinensischen Solidaritätsbewegung. Gegenwärtig ist er insbesondere im Zusammenhang mit den Protesten gegen den Völkermord in Gaza aktiv. Er ist unbescholten und nicht vorbestraft.

In dem Schreiben heißt es, Ihr Mandant sei mit Handlungen bekannt geworden, die befürchten lassen, er könnte die EM stören. Was ist damit gemeint?

Das ist eine gute Frage. Er ist bekannt, weil er ein bekennender Antifaschist ist, sich strikt gegen faschistische Kräfte in Deutschland stellt und seit der Vertreibung aus Palästina aktiv für die Interessen des palästinensischen Volkes eintritt. Seine Aktivitäten haben mit der Fußball-EM nicht das geringste zu tun. Bekanntlich nehmen am Turnier weder eine israelische noch eine palästinensische Fußballmannschaft teil.

Er solle sich »ausnahmslos am Normenkanon der freiheitlich-demokratischen Grundordnung« orientieren, »Störungen oder die Übertretung von Gesetzen« würden sehr niedrigschwellig verfolgt. Klingt das nicht wie eine Drohung?

Das ist eine Drohung! Unbescholtene und nicht vorbestrafte Personen werden eingeschüchtert und als mögliche Straftäter stigmatisiert. Derartige Eingriffe in das Persönlichkeits- und Versammlungsrecht entbehren jedweder Verhältnismäßigkeit.

Welche Rechtsmittel gibt es gegen diese Schreiben?

Mit den Gefährderanschreiben an Berliner, die in der Palästina-Solidarität aktiv sind, bringt die Polizei zum Ausdruck, dass sie diese Menschen für potentielle Kriminelle hält. Das ist rechtswidrig. Dagegen können Feststellungsklagen beim Verwaltungsgericht eingereicht werden, was wir gegenwärtig auch in Zusammenarbeit mit anderen Kolleginnen und Kollegen prüfen.

Der Brief endet mit dem Angebot, einen Gesprächstermin zu vereinbaren, falls Fragen zu den Anschreiben bestünden. Ist es nach Ihrer Erfahrung sinnvoll, solche Angebote anzunehmen?

Meiner Meinung nach nein. Vernünftige Gespräche auf Augenhöhe mit Vertretern der Law-and-Order-Politik erscheinen nicht sinnvoll. In jedem Fall – sowohl politisch als auch juristisch – ist es besser, gegen diese Politik vorzugehen.

Roland Meister ist Rechtsanwalt in Gelsenkirchen

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  • Leserbrief von Richard (7. Juli 2024 um 23:00 Uhr)
    Schon merkwürdig. Die »Gefahr« besteht also darin, dass er Verbrechen (Genozid) anprangert bzw. der Macht ihre Grenzen zeigt. Ich dachte früher immer, die Gefahr ginge von jenen aus, die Verbrechen (z. B. eben Genozid) begehen. Dann ist es auch nur folgerichtig, dass jüngst von mir auf YouTube ein Kommentar gelöscht wurde, wo ich für eine Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingetreten bin, letzteres ausdrücklich auch ggü. Politikern, da diese gerade dabei sind, sich auf immer neue Höhen zu radikalisieren. Ähnlich bei TikTok: als ich dort einen Beitrag veröffentlicht habe, dass der Rechtsstaat endlich auch bei Verbrechen von Politikern (angedeutet war der Genozid von Gaza) greifen müsse, war das für die Staatssicherheit offenbar eine Bedrohung unserer Grundordnung. Der Beitrag wurde gesperrt. Angeblich verstoße er gegen irgendwelche Community-Regeln. »Prangere keinen Völkermord bzw. deren Täter an, wenn der Westen involviert ist« … so oder so ähnlich müssen sie wohl lauten. Vll. fällt das auch unter die »Delegitimierung des Staates«. Ich weiß es nicht. Lustig ist immer, wenn einem die Möglichkeit zum Einspruch eingeräumt wird, man aber überhaupt gar keine Info dazu bekommt, was denn überhaupt der Grund für die Sperre ist.

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