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Aus: Ausgabe vom 08.07.2024, Seite 8 / Ansichten

Aus der Reihe getanzt

Reaktionen auf Orbáns Moskau-Reise
Von Reinhard Lauterbach
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Gesprächsbereit: Die EU will mit Orbáns Besuch bei Putin nichts zu tun haben (Moskau, 5.7.2024)

Dass der ungarische Regierungschef Viktor Orbán sich mit seinen Reisen nach Kiew und Moskau auch in ­Szene setzen wollte als möglicher Vermittler im Ukraine-Konflikt – geschenkt. Das gehört zur politischen Selbstvermarktung. Entscheidend für die – fast – allgemeine Verärgerung über die Initiative des Ungarn ist, dass Orbán sein politisches Alleinstellungsmerkmal auf einem Feld sucht, auf dem der politische Westen Alleingänge fürchtet wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Gegenüber Russland hat gefälligst »Geschlossenheit« zu herrschen.

Das dem US-Verteidigungsministerium nahestehende »Institut für das Studium des Krieges« brachte die Nervosität, die in jenen Hauptstädten herrscht, die sich für maßgeblicher halten als irgendein Budapest, auf den Punkt: Orbáns Reise nach Moskau sei »geeignet, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit weg von der Unterstützung der Ukrai­ne und hin auf die Möglichkeit von Friedensverhandlungen zu verlagern«. Bloß kein Frieden, solange nicht »wir« die klaren Sieger sind.

Schon in den ersten Tagen des Krieges hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärt, dieser Krieg werde politisch auch um eine neue Weltordnung geführt. Das klang damals mindestens zwei Nummern zu groß. Heute wird klar, dass diese Einschätzung richtig war. Und zwar nicht deswegen, weil russische Politiker dies immer wieder behaupten, sondern deshalb, weil der kollektive Westen genau diese Auseinandersetzung angenommen hat. Die »regelbasierte Weltordnung«, um die es angeblich am Beispiel der Ukraine geht, ist diejenige, deren Regeln das NATO-geführte Lager aufstellt – seitdem es sich dazu in der Lage sah, nachdem ihm 1991 der gleichwertige Gegner abhanden gekommen war. Dass der Sündenfall dieser Weltordnung, die Veränderung von Grenzen gegen den Willen eines der Beteiligten, nicht 2014 oder 2022 in der Ukraine, sondern Anfang der 1990er Jahre bei der Aufspaltung Jugoslawiens und 1999 beim Herbeibomben der Sezession des Kosovo eingetreten ist, soll das Publikum am besten vergessen. Genau dafür wird der Ukraine-Krieg von westlicher Seite geführt oder genauer, beauftragt: dass der kollektive Westen nicht einsehen muss, sein Allmachtsanspruch hat Grenzen. Deshalb »darf die Ukraine nicht verlieren«.

Dass sich der russische Anspruch auf die offizielle Übernahme von Teilen der Südukraine auf wenig anderes stützt als auf militärisch geschaffene Tatsachen, ist nicht zu bestreiten. Aber nicht weniger klar ist, dass nicht absehbar ist, wie die Ukraine diese Gebiete zurückholen soll. Kiew darf nicht verlieren, weil sonst der Westen verloren hätte. Dafür wird dieser Krieg im Kern geführt, und dabei würden Friedensverhandlungen auf Grundlage des Status quo nur stören. Deshalb war Orbáns Moskau-Reise »nicht abgesprochen«. Frieden steht nicht auf der Tagesordnung, weil er nicht auf ihr stehen darf.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. Juli 2024 um 21:50 Uhr)
    Einige Bemerkungen zum Thema »Friedensmission in Europa«: Europa steht vor gemeinsamen Herausforderungen wie dem Krieg in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, dem globalen Wettbewerb, einer fragilen Sicherheitslage, illegaler Migration, den Auswirkungen des Klimawandels und der demografischen Entwicklung. Die EU kann jedoch nur stärker auftreten, wenn ihre Mitgliedstaaten Stärke zeigen. Sie sollte sich vorrangig nicht gegen ihre eigenen Mitglieder richten, sondern gegen die äußeren Herausforderungen. Derzeit verfolgt die EU jedoch eine Politik, die eher darauf abzielt, Stärke gegenüber ihren Mitgliedern zu demonstrieren, anstatt sich den globalen strategischen Herausforderungen zu stellen. Seit langer Zeit ist Viktor Orbán der Buhmann Europas. Dass er als ungarischer EU-Ratspräsident sich auf einer Friedensmission wähnt, liegt auf der Hand und wäre prinzipiell auch nicht verkehrt, jedoch lässt die derzeitige geostrategische Lage dies nicht zu. Orbán, ebenso wie der gutgesinnte Papst, müssen an ihrer politischen Naivität und Möglichkeiten scheitern. Leider sehen die bitteren Realitäten zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch in Europa so aus.
    • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (8. Juli 2024 um 13:54 Uhr)
      »Europa steht vor gemeinsamen Herausforderungen«? Wie groß ist Ihr Europa? Und wie groß sind die beschworenen Gemeinsamkeiten beispielsweise zwischen mir und einem französischen Rüstungskonzern? Der erwähnte Satz ist nur eine andere Version der dümmlichen Vorstellung, wir säßen alle in einem Boot. Und unterschiedliche Eigentumsverhältnisse und Interessen spielten keine Rolle mehr. Weil wir doch alle Europäer sind. Die, die von der Rüstung profitieren, genauso wie die, die wegen ihr krepieren.

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