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Aus: Ausgabe vom 08.07.2024, Seite 16 / Sport
Fußball-EM

Schlechte Verlierer

In einem ausgeglichenen EM-Viertelfinale besiegt Spanien die DFB-Elf. Scene-Stealer war allerdings ein vermeintliches Handspiel
Von Felix Bartels
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Szene des Abends: Musiala schießt Cucurellas Hand an

Natürlich kann passieren, dass die zwei stärksten Mannschaften eines EM-Turniers bereits im Viertelfinale aufeinandertreffen. Und passiert ist es. Der deutsche Kader war, was taktisches Gefüge und individuelle Stärke betrifft, der beste seit langem, vermutlich auch besser als der von 2014. Und er hat bei seinen Auftritten als eine von zwei Mannschaften des Turniers in jedem Spiel abgeliefert. Die andere kommt aus Spanien und spielt bei dieser EM in eigener Liga. Im Grunde also haben wir am Freitag in Stuttgart mit Spanien gegen Deutschland bereits im Viertelfinale das Finale gesehen.

Kann passieren, wie gesagt. In diesem Fall aber nicht zufällig. Nach traditionellem EM-Modus – vier Gruppen, dann Viertelfinale – konnten zwei Gruppenerste frühestens im Halbfinale aufeinandertreffen. Im 2016 von der UEFA installierten neuen Modus – sechs Gruppen, dann Achtelfinale – wird die Verteilung durch die Hinzunahme der vier besten Gruppendritten chaotisch. Mannschaften, die in der Vorrunde schlecht gespielt haben, können sich – wie Portugal beim Turnier 2016 – irgendwie doch noch zum Titel schlawinern. Die Playoffs werden verwässert, das Problem asymmetrischer Verteilung steigt. Dieses Jahr spielte der Zufall besonders dumm mit, denn in der oberen Hälfte des Turnierbaums kegelten Frankreich, Portugal, Spanien und Deutschland einander früh aus dem Geschehen, während in der unteren mit Italien lediglich ein Alpha­team stand, das seine freie Bahn aber nicht zu nutzen wusste. Es ist, soviel Gemecker muss sein, die reine Geldschneiderei. Mehr Spiele, mehr Einnahmen, und der Modus wird hybrid. Entweder lässt man künftig acht Gruppen das Achtelfinale ausspielen oder, wie vor 2016, vier Gruppen das Viertelfinale.

Ein Viertelfinalfinale also. War es denn auch schön? Nun, zunächst macht die Dialektik ja auch vorm Fußball nicht halt. Die parabole Logik, nach der diese seltsamen Dinge da auf dem Spielfeld funktionieren, besorgt, dass drei und drei nicht immer sechs macht. Treffen zwei Mannschaften aufeinander, die eleganten Ballbesitz pflegen, wird man nicht zwei Mannschaften sehen, die eleganten Ballbesitz pflegen. Entweder gestattet die eine der anderen diese Spielweise und kann dann die eigene nicht zeigen, oder beide kacken sich gegenseitig in den Matchplan.

Mit Deutschland und Spanien nun trafen zwei nach Ballbesitz strebende Gefüge aufeinander, aktiv, nicht reaktiv spielende. Die Folge dieses Settings war ein intensives Gegenpressing auf beiden Seiten, ein möglichst schnelles Rückerobern des Balls nach Verlust. Betreiben beide Teams auf dem Platz das einigermaßen konsequent, kann keines in seinen Rhythmus kommen. Das Spiel bleibt hektisch, immer wieder in die chaotische Phase der Balleroberung zurückfallend. Die Schönheit mithin geht flöten, doch für eine Mannschaft wie Deutschland dürfte das der ­einzige Weg sein, gegen eine Mannschaft wie Spanien zu bestehen.

Die Überlegenheit der Spanier beruht – abgesehen von ihrer individual- und mannschaftstaktischen Klasse – darauf, dass sie in zwei Dingen besonders gut sind: Gegenpressing und Pressingresistenz. Sie können, heißt das, ziemlich effektiv verhindern, dass der Gegner ihnen den Ball abnimmt, und sie sind zugleich enorm gut darin, nach Ballverlust dem Gegner den Ball sofort wieder abzunehmen. Dem bleibt dann entweder bloß die Möglichkeit, tiefer zu stehen und die Räume dichtzumachen, wobei er sich übers Spiel hinweg physisch erschöpft, den permanenten Verlagerungen hinterherlaufend irgendwann Lücken in der Formation reißen lässt und ohnedies den gefährlichen Distanzschüssen der Spanier und ihrem überraschend starken Kopfballspiel ausgeliefert ist. Oder er attackiert ebenfalls früh, womit das Spiel chaotisch wird. Dieses Chaos aber hat System, weil es darum gehen muss, die Spanier nicht in ihr Spiel kommen zu lassen. Das Zufällige, das dann das Spiel bestimmt, das Glück des Moments, scheint die beste Chance, die eine Mannschaft gegen Spanien bekommen kann.

Entsprechend ließ Nagelsmann spielen. Mannorientiert und aggressiv (mit unangenehmen Beinoten auch: Kroos trat Pedri ganz aus dem Turnier, Sané entging glücklich einer roten Karte). Can war für Andrich in die Startaufstellung gekommen, er sollte Fabian neutralisieren, der als Rückenspieler von Rodri fungiert. Was übrigens nicht gut funktioniert hat, das deutsche Team brachte den Schlüsselspieler für den Aufbau zu keiner Zeit unter Kontrolle. Sané stand erneut für Wirtz auf dem Platz, was als Grundgedanke erst mal nachvollziehbar war. Gegen Spanien im Zentrum etwas auszurichten scheint schwerer vorstellbar als gegen Dänemark (wo Sané ebenfalls von Anfang an spielte). Wenn man allerdings über die Außenbahnen kommt und auf Lauftempo statt auf Passtempo setzt, sollte man einen Spieler bringen, der das auch umsetzen kann. Sané konnte das erwartungsgemäß nicht, und wie schon gegen Dänemark wurde Deutschland deutlich stärker, als Wirtz für Sané auf den Platz kam.

Per saldo war die Partie ausgeglichen. Die erste Hälfte gehörte den Spaniern, die deutlich mehr Ballbesitz abgeben mussten, als sie das gewohnt sind, zumal sie aus Respekt vor den schnellen deutschen Offensivspielern erst in der eigenen Hälfte den Gegner attackierten. Bei Abpfiff der ersten Hälfte stand es 8:3 nach Torchancen. Das frühe Tor in der zweiten Halbzeit drehte das Verhältnis. Spanien spielte reaktiver, Deutschland geriet logischerweise in eine aktivere Rolle. Wer zurückliegt, muss zulegen. Am Ende der 120 Nettominuten stand es aus Sicht der Spanier 48:52 Prozent im Ballbesitz, 18:23 bei den Torchancen und 2:1 nach Toren. Mit 86 bzw. 87 Prozent hatten beide Teams eine für ihr Niveau niedrige Passquote, in der sich allerdings das intensive Gegenpressing beider Mannschaften ausdrückt.

Soviel zum Spiel. Bleibt noch das Spiel nach dem Spiel. Der unvermeidliche Katzenjammer über einen nicht gegebenen Elfmeter. Dass Anthony Taylors Entscheidung überhaupt diskutiert wird, ist bezeichnend. Natürlich war sie korrekt. Klammert man mal für einen Moment aus, dass Füllkrug unmittelbar vor Musialas Schuss im Abseits stand, alles also, was danach passierte, ohnehin nicht passiert ist, sagen die Regeln, dass eine Absicht des Spielers erkennbar sein oder die Hand klar zum Ball gehen oder die Armhaltung unnatürlich sein muss. Nichts davon war in diesem Fall gegeben. Cucurella, der nach rechts geneigt im Strafraum steht und mit seinem Arm seinen Schwerpunkt ausgleicht, versucht sogar noch, die Hand an den Körper zu legen, als Musiala straffer Schuss ihn trifft. Das immerhin hat Julian Nagelsmann eingeräumt. Anders als das schäumende Heer vor und hinter den Bildschirmen sprach er nicht von einer Fehlentscheidung, zweifelte aber den Sinn der Handspielregeln an. Dieselben Regeln haben ihm allerdings gegen Dänemark einen Elfmeter beschert, den man nicht geben musste. Ein Trainer, zwei Meinungen. Oder: Wer nicht gewinnen kann, sollte wenigstens verlieren können.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. Juli 2024 um 22:16 Uhr)
    Ich finde es übertrieben, jemanden als schlechten Verlierer zu bezeichnen, denn wer verliert schon gerne? Wenn man über die beiden Elfmeterentscheidungen gegen Dänemark und Spanien spricht, sollte man festhalten, dass der Elfmeter gegen Dänemark nicht hätte gegeben werden dürfen. Hätte es diesen Elfmeter nicht gegeben, wäre der zweite möglicherweise gar nicht erst zustande gekommen. Im Sport, wie auch im realen Leben, wechseln sich Glück und Pech ab.
    • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (8. Juli 2024 um 14:08 Uhr)
      Man kann als Verlierer moralische Größe zeigen. Man kann aber auch sehr kleingeistig reagieren, indem man die Ursache seiner Niederlage anderen in die Schuhe zu schieben versucht. Solche nennt man schlechte Verlierer. Die deutschen Sportreporter des Mainstreams tendieren meist nicht zu moralischer Größe, wenn ihr angekratzter Nationalstolz eine weitere Beule bekommt. Kein Wunder: Sie kennen den wahren Gewinner immer schon vor dem Spiel. Siegt er nicht, dann muss die Welt sich geirrt haben. Schließlich sind und bleiben »wir« die Größten.