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Aus: Ausgabe vom 09.07.2024, Seite 11 / Feuilleton
Comic

Eine wundersame Welt

Zeichnerische Feinheiten: Jeremy Perrodeaus postapokalyptischer Comic »Pavils Gesicht«
Von Marc Hieronimus
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Die Zeit nach der Katastrophe

Jeremy Perrodeau denkt sich eigenartige Geschichten über die Zukunft aus. In »Ruinen«, auf Deutsch 2022 erschienen, reist der Psychiater und Soldat Samuel F. Monroe in das Gehirn einer Komapatientin und findet dort Gewaltszenen vor, die aus ihrer persönlichen Geschichte eigentlich nicht zu erklären sind. In »Dämmerung« (2020) entwickelt die von Menschen geschaffene Biosphäre auf einem Planeten ein gefährliches Eigenleben in psychedelisch-geometrischen Formen. In beiden vom Autor auch zeichnerisch umgesetzten Erzählungen wird eine grausame Vergangenheit angedeutet, mit der die Ereignisse in irgendeiner Form zusammenhängen. Reagiert der neu besiedelte Planet womöglich auf die Ausrottung der Urbevölkerung?

Auch »Pavils Gesicht« spielt anscheinend lange nach einer verheerenden Katastrophe. Der kleine mittelalterlich anmutende Inselstaat Lapyoza ist eine Idylle. Die Bewohner arbeiten und speisen gemeinschaftlich, es gibt keinen Herrscher und keine Polizei, außer zu ein paar Stunden täglicher Reproduktionsarbeit ist man zu nichts verpflichtet. Die Bruchlandung eines Fremden aus dem Reich führt nicht etwa zu einem Kulturschock und Cargokulten, sie erschüttert die Gesellschaft nicht im Geringsten. Man duldet den Fremdling aus dem Reich, frotzelt ein wenig über dessen imperiale Herkunft, fragt ihn aber nicht aus und staunt auch nicht über das kristallbetriebene Flugzeug. Offenbar wissen die Lapyozer, dass die Technik im Reich hochentwickelt ist, höher im Übrigen auch als in unserer heutigen Welt, aber sie verzichten bewusst auf Technologie und die Ausbeutung der Ressourcen.

Vor langer Zeit nämlich hat ihrem Mythos zufolge die menschliche Hybris zum Untergang der ersten Menschen geführt, und der letzte ihrer Nachfahren, Hädo, wacht nun von einem verbotenen Bereich aus über das Wohlergehen der Insel. Wie jeder Mythos scheint auch dieser einen wahren Kern zu haben. Die »Taucher*innen« – auch in der Comiczukunft wird gegendert – holen täglich fremdartige und unverstandene Artefakte aus der Tiefe des Meeres, allerdings nur, um sie zu verkaufen oder einzuschmelzen. Nicht wenige fürchten die Spuren der Vergangenheit sogar und möchten sich den Ruinen unter Wasser nicht nähern.

Perrodeau zeigt und erzählt spärlich. In »Ruinen« ist das schade. Eine Reise durch die Träume einer Person, auch oder zumal einer im Koma, könnte von Freud, C. G. Jung, Hieronymus Bosch und Salvador Dalí inspiriert sein oder den drogeninduzierten Traumbildern lateinamerikanischer Kulturen ähneln, tatsächlich laufen der Psychiater und die Schwester der Patientin in deren Kopf durch leichenübersätes Ödland. Ganz anders in »Pavils Gesicht«. Die Leserin erkundet die Kultur der Inselbewohner wie eine Ethnologin, lernt ihre Speisen, ihren Alltag, ihre Religion kennen. Eine Gruppe der Einwohner hat ein Schweigegelübde abgelegt. Ihnen ist es vorbehalten, die immer anderen Masken aus dem Wasser zu ziehen, die angeblich der mythenumwobene Hädo den Bewohnern schickt. Es gibt auch Abtrünnige. Pavil freundet sich mit der Taucherin Yüni an, deren Mutter die Insel verlassen hat, weil sie nach dem Tod ihres Sohnes, Yünis Zwillingsbruder, den Glauben verloren hat. Im Reich scheint man rationaler zu denken und nicht an Schutzmächte zu glauben. Eine wundersame posttechnologische, postapokalyptische und nicht zuletzt postkapitalistische Welt also, die in mancher Hinsicht die ostasiatische Vergangenheit erinnert, aber voller unerklärter Details ist wie unbekannten Pflanzen oder Meerestieren, die sich die Taucher bei Tiefgängen aufs Gesicht setzen, um atmen zu können.

Perrodeaus von der Ligne Claire beeinflusster Zeichenstil kommt in »Pavils Gesicht« voll zum Tragen. Wo er in »Ruinen« vor allem Gestrüpp zeichnete, kann er sich jetzt in der Darstellung der Kleidung, der Riten und der seltsamen Lebewesen und Artefakte ergehen. Farblich ginge weit mehr, eine reichere Kolorierung ginge aber zu Lasten der zeichnerischen Feinheiten. Das Ende wird selbstredend nicht verraten, mehrfache Lektüre aber empfohlen.

Jeremy Perrodeau: Pavils Gesicht. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2024, 160 Seiten, 30 Euro

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